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Archiv "Lokale Injektionsbehandlung fokaler Hyperkinesen mit Botulinum-Toxin A" (13.10.1995)

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MEDIZIN ZUR FORTBILDUNG

Lokale Injektionsbehandlung fokaler Hyperkinesen

Frank Erbguth mit Botulinum-Toxin A

Botulinum-Toxin A lähmt nach lokaler Injektion die entspre- chende Muskulatur durch Blockade der Acetylcholin- freisetzung an der motorischen Endplatte. Diese Wirkung ist für die symptomatische Therapie von Erkrankungen mit fo- kaler Muskelüberaktivität unterschiedlicher Genese oder ei- nem erhöhten Muskeltonus einsetzbar. Botulinum-Toxin A ist

in Deutschland bisher zur Therapie des „idiopathischen Ble- pharospasmus", des „Spasmus hemifacialis" und des „Torti- collis spasmodicus"zugelassen. Die. Behandlung darf nur in Einrichtungen mit spezieller Erfahrung erfolgen. Andere weltweit gut erprobte Indikationen sind unter anderem der „Schreibkrampf" und die „spasmodische Dysphonie".

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otulinum-Toxin ist dem Arzt bislang als Verursacher der le- bensbedrohlichen Erkran- kung „Botulismus" bekannt.

Es mag daher erstaunen, daß dieses Gift jetzt als Therapeutikum Anwen- dung findet. Bereits im 18. Jahrhun- dert wurden die Symptome des Botu- lismus nach dem Genuß von Räucher- fleisch oder Blutwurst beschrieben (Botulismus von lat. „botulus" = Wurst): nach Übelkeit, Brechdurch- fall und Kopfschmerzen treten Akko- modationsstörungen, Erweiterung der Pupillen, Schluckbeschwerden, Herabsetzung der Speichelsekretion, Blasen- und Darmlähmung und Läh- mung der quergestreiften Muskulatur auf. Übersteht der Betroffene den Höhepunkt der Erkrankung, sind die Symptome innerhalb von mehreren Wochen reversibel (29).

Die ersten systematischen Un- tersuchungen zum Botulismus stam- men vom schwäbischen Arzt und Dichter Justinus Kerner (1786 bis -1862) (34). Bemerkenswert ist, daß Kerner im letzten Kapitel seiner zweiten Monographie über das

„Wurstgift" von 1822 spekulierte, daß die erregungsdämpfende Wir- kung des damals unbekannten Giftes bei krankhaften Übererregungen des motorischen Systems, zum Beispiel dem Veitstanz, therapeutisch einge- setzt werden könnte (35). Erst vor 100 Jahren wurde entdeckt, daß das Toxin von einem Bakterium gebildet wird: 1895 erkrankten im belgischen Ort Ellezelles mehrere Personen — drei davon tödlich — am Botulismus, nachdem sie nach einer Beerdigung

gepökelten Schinken gegessen hat- ten. Der Mikrobiologe Emile Pierre van Ermengem konnte ein anaerobes Bakterium als Ursache dieser Le- bensmittelvergiftung identifizieren, das er in der Publikation seiner Un- tersuchungen 1897 „Bacillus botuli- nus" nannte (52). Später wurde der Erreger in „Clostridium botulinum"

umbenannt.

Außer im Rahmen der beschrie- benen Lebensmittelvergiftung kann Botulismus selten nach einer Wundin- fektion als „Wundbotulismus" oder bei Säuglingen nach Kolonisierung des Darmes mit Clostridien als „Säug- lingsbotulismus" auftreten (37).

Vom tödlichen Gift zum Therapeutikum

Kontakte des Ophthalmologen Dr. Alan B. Scott in San Francisco zum amerikanischen Botulinum-To- xin-Experten Dr. Edward Schantz führten zur therapeutischen Nutzung des Toxins. Scott hatte zur nichtope- rativen Therapie des Schielens Sub- stanzen gesucht, mit denen Augen- muskeln auf chemische Weise ge- schwächt werden könnten. Botuli- num-Toxin A erwies sich 1973 zunächst bei Primaten als hierfür tauglich. 1981 berichtete Scott die er- folgreiche Anwendung von Botuli- num-Toxin A am Menschen zur Kor- rektur des Strabismus (47).

Neurologische Klinik mit Poliklinik (Direktor:

Prof. Dr. med. Bernhard Neundörfer), Frie- drich-Alexander-Universität Erlangen-Nürn-

In den folgenden Jahren wurden Anwendungen an den periorbitalen mimischen Muskeln beim „Blepha- rospasmus" und beim „Spasmus he- mifacialis" erfolgreich erprobt (10, 31, 45).

Da das Prinzip der chemischen Denervierung mit Botulinum-Toxin als symptomatische Therapie grund- sätzlich auch bei anderen Erkrankun- gen mit fokaler Überaktivität der quergestreiften und glatten Muskula- tur anwendbar ist, wurde seit Mitte der 80er Jahre eine Vielzahl von mög- lichen Indikationen vor allem in der Neurologie, aber auch in der Ophthalmologie, Hals-Nasen-Ohren- heilkunde, Chirurgie, Orthopädie und der Inneren Medizin erarbeitet.

In Deutschland wurde Botuli- num-Toxin A vom Bundesgesund- heitsamt bereits im Jahr 1993 für die Indikationen „idiopathischer Blepha- rospasmus" und „Spasmus hemifacia- lis" und im Jahr 1995 vom Bundesin- stitut für Arzneimittel und Medizin- produkte für die Indikation „rotieren- der Torticollis spasmodicus" zugelas- sen (3).

Für weitere Indikationen, die hier beschrieben werden (Schreib- krampf, spasmodische Dysphonie), oder die oromandibuläre Dystonie besteht in Deutschland noch keine Zulassung; Wirksamkeit und Sicher- heit des Präparates sind jedoch durch klinische Studien ausreichend belegt, so daß es im Einzelfall im Rahmen ei- nes „Heilversuches" vom Spezialisten eingesetzt werden kann.

Auch in der Behandlung der an- derweitig nicht beeinflußbaren Spa- A-2726 (40) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 41, 13. Oktober 1995

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stik verschiedenster Ursachen zeich- nen sich günstige Ergebnisse ab (5, 13, 28, 50).

Andere publizierte Indikatio- nen, wie beispielsweise Injektion im Bereich des Gastrointestinal- oder Urogenitaltraktes (etwa bei Achala- sie, Analfissur, spastischer Blase), (17, 42), gelten noch als experimen-

Tabelle

ZUR FORTBILDUNG

Wirkprinzip

Botulinum-Toxin A mit einem Molekulargewicht von etwa 150 000 Dalton ist eines von sieben immuno- logisch unterscheidbaren Subtypen (Abis G) des Toxins (49). Auch die Typen B und F werden zur Zeit auf ih- re therapeutische Verwendbarkeit hin

Anwendungen von Botulinum-Toxin A

.... Vom BGA (und BfArM) bisher zugelassene Indikationen:

- Idiopathischer Blepharospasmus - Spasmus hemifacialis

- Rotierender Torticollis spasmodicus ..,.. Andere Einsatzmöglichkeiten:

a) dystone Muskelkontraktionen:

- oromandibuläre Dystonie**

- laryngeale Dystonie (spasmodische Dysphonie)**

- aufgabenspezifische Dystonie (zum Beispiel Schreibkrampf)**

- andere Extrernitätendystonien**

b) abnorme Muskelkontraktionen:

- Tremor (Stimme, Kopf, Extremitäten)*, Gaumensegelmyoklonus**

- Tics*, Strabismus**, Nystagmus*, endokrine Orbitopathie*

- Myokymie*, Bruxismus*, Stottern*, Epilepsia partialis continua*

- Spastik (nach Schlaganfall, infantiler Zerebralparese, Schädel-Hirn- Trauma, Paraplegie, multipler Sklerose, soweit anderweitig therapie- resistent)*, zum Teil**

- Spannungskopfschmerz*, Rückenschmerzen*, Fibromyalgie*

- spastische Blase*, Achalasie*, Anismus*, Analfissur*

- andere Spasmen und Sphinkterspasmen * ..,.. Weitere Indikationen:

- protektive Ptose *

- kosmetisch (Krähenfüße, Gesichtsasymmetrie )*

- postoperative Muskelruhigstellungen *

- parasympathikolytische Wirkung bei Injektionen in Drüsen*, wie zum Beispiel Tränendrüse (bei "Krokodilstränen" nach peripherer Fazialis- parese), Schweißdrüsen im Gesicht (bei gustatorischem Schwitzen)

** Indikation durch Studien ausreichend belegt oder bei vielen Patienten erfolgreich ange- wandt

* kasuistisch erfolgreich oder in Prüfung

tell: sie sind bislang lediglich in klei- nen Fallzahlen berichtet worden oder befinden sich noch in klinischer Prü- fung (Tabelle).

Verschiedene amerikanische Fachverbände und medizinische In- stitutionen haben zur Anwendung von Botulinum-Toxin in unterschied- lichen Konsensuspapieren positiv Stellung genommen: die "American Academy of Ophthalmology" (1),

"American Academy of Neurology"

(4), "American Academy of Oto- laryngology" (2) und das "National Institute of Health" ( 40).

überprüft (23, 39). Der gerraue Wirk- mechanismus von Botulinum-Toxin A wurde erst in den letzten Jahren aufgeklärt: es besteht aus zwei durch mindestens eine Disulfidbrücke ver- bundenen Proteinketten, wobei die schwere Kette (100 000 Dalton) eine hohe Bindungsaffinität zu präsynapti- schen Akzeptor-Proteinen an der mo- torischen Endplatte aufweist und für die Aufnahme des Toxins in die Ner- venendigung verantwortlich ist.

Innerhalb der Nervenendigung wirkt dann die kurze Kette (50 000 Dalton) als eigentliches Toxin, indem

sie als Zinkendopeptidase enzyma- tisch ein Protein ("SNAP-25" =

"synaptosomal assoziiertes Protein") spaltet, welches zum Ankoppeln der Acetylcholinvesikel an der präsy- naptischen Plasmamembran benötigt wird (7) (Grafik). Wenn das Ankop- peln der Vesikel unterbleibt, kann keine Freisetzung von Acetylcholin erfolgen.

Die daraus resultierende Blocka- de der neuromuskulären Übertra- gung führt zu einer Schwächung und Atrophie der betreffenden Mus- kulatur.

Die muskellähmende Wirkung von Botulinum-Toxin A tritt klinisch erst nach Stunden bis Tagen auf und ist durch Regenerationsvorgänge reversi- bel; die Chemodenervierung wird näm- lieh durch Nachbildung von SNAP-25, vermehrte Bildung von Acetycholinre- zeptoren und vor allem durch eine axo- nale Neuaussprossung und Bildung neuer Endplatten kompensiert. Diese Reinnervation setzt bereits nach weni- gen Tagen ein, ist bei niedrigen Dosen nach etwa 10 bis 14 Wochen abge- schlossen, und ihr zeitlicher Verlauf entspricht damit der durchschnittli- chen Dauer der klinischen Wirkung.

Somit ist die lokale Injektion von Botulinum-Toxin in hyperaktive Muskulatur eine rein symptomatische Therapie, die von ihrem Wirkprinzip her nicht in ursächliche Erkrankungs- mechanismen eingreift. Eine anhal- tende Symptomunterdrückung ist nur durch wiederholte Injektion zu errei- chen.

Nebenwirkungen und Risiken

Die geschätzte tödliche Dosis beim Menschen (LD50) beträgt etwa ein 10- bis lOOfaches der je nach Indi- kation zur Therapie verwendeten Do- sierungen (48). Die häufigsten Neben- wirkungen entstehen durch Diffusion des Toxins vom Zielmuskel in benach- barte Muskelgruppen, es kommt auch dort zu unerwünschten Lähmungen.

Auch die Schwächung des Zielmuskels kann ein unerwünscht hohes Ausmaß annehmen. Diese Nebenwirkungen werden in den jeweiligen Beschreibun- gen der verschiedenen Anwendungs- gebiete detailliert aufgeführt. I>

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DA Grafik

Synoptisches Vesikel Fusionspore Kopplungskomplex

VAMP Typ B,D,F,G

I I

Vesikelmembran

Syntaxin SNAP 25 Kalziumkanal

Plasmamembran

Wirkung der Botulinum-Toxine an der motorischen Endplatte. Vor der Ausschüttung von Acetylcholin koppelt das synoptische Vesikel mit Hilfe des Kopplungskomplexes an die Innenseite der Plasmamembran; diese Bin- dung wird von den Kopplungsproteinen VAMP (vesikelassoziiertes Membranprotein), Syntaxin und SNAP-25 (synaptosomal assoziiertes Protein) hergestellt. Danach kommt es durch die Öffnung der Fusionspore zur Transmitterousschüttung. Botulinumtoxine verhindern die Kopplung der Vesikel an die Membran durch pro- teolytische Spaltung der Kopplungsproteine: die Toxine A und E spalten SNAP-25, die Toxine B, D, F und G spal- ten VAMP, und Toxin C spaltet Syntaxin.

MEDIZ

Systemische Muskellähmungen sind klinisch extrem selten und tre- ten nur bei massiver Überdosierung auf. Allerdings läßt sich durch neu- rophysiologische Methoden (Einzel- faser-Elektromyographie) eine sub- klinische Systemwirkung therapeu- tischer Dosen in Form einer Be- einflussung der neuromuskulären

Übertragung auch in solchen Mus- keln nachweisen, die weit vom Injek- tionsort entfernt sind (21, 36).

Daher können lokale Injektio- nen von Botulinum-Toxin gleichzei- tig bestehende Erkrankungen der neuromuskulären Übertragung (et- wa Myasthenie, Lambert-Eaton- Syndrom) verschlechtern (19).

Alle auftretenden Nebenwirkun- gen sind reversibel und werden in der Regel problemlos toleriert. Bislang wurde ein Todesfall im Zusammen- hang mit einer Botulinum-Toxin-Be- handlung bei zervikaler Dystonie be- richtet: aufgrund lokaler Nebenwir- kungen in Form von Schluckstörun- gen kam es zur Aspiration und Ent- wicklung einer Pneumonie (3).

Der in Tierversuchen nachgewie- sene retrograde axonale Transport

ZUR FORTBILDUNG

des Toxins ins Zentralnervensystem hat wahrscheinlich keine klinische Bedeutung (25, 26). Messungen der Beeinflussung der autonomen kardia- len Regulation nach therapeutischen Injektionen von Botulinum-Toxin A liefern momentan noch widersprüch- liche Ergebnisse (11, 41). Klinisch be- deutsame Veränderungen wurden je-

doch nie beobachtet. Bisherige histo- logische Studien am humanen M. or- bicularis oculi zeigten eine Rever- sibilität der atrophischen Verände- rungen nach wiederholten Toxinin- jektionen (8). Anaphylaktische Reak- tionen nach Injektion von Botuli- num-Toxin sind bislang nicht berich- tet worden.

Als immunologische Wirkungen wurden beschrieben: Guillain-B an&

Syndrom (Kausalzusammenhang un- wahrscheinlich) (27), Armplexusneu- ritis (46) und Bildung von Antikör- pern (24). Im Falle einer Antikörper- bildung kommt es nach anfangs er- folgreichen Behandlungen bei Wie- derholungsinjektionen zu einem kli- nischen Wirkungsverlust. Da die Nachweismethoden von Antikörpern gegen Botulinum-Toxin A noch unzu-

verlässig sind, kann die Häufigkeit ei- ner Antikörperbildung nur annähernd geschätzt werden und beläuft sich auf drei bis fünf Prozent der längerfristig mit höheren Dosierungen Behandel- ten (zum Beispiel beim Torticollis).

Bei den Indikationen mit niedri- gen Dosierungen (wie Blepharospas- mus, Spasmus hemifacialis) ist eine Antikörperbildung extrem selten.

Während der Schwangerschaft und Stillperiode sollten Injektionen vor- sichtshalber unterbleiben. Obwohl im mittlerweile überschaubaren Anwen- dungszeitraum von 15 Jahren keine nachteiligen Langzeitfolgen der In- jektionen von Botulinum-Toxin A be- obachtet wurden, besteht diesbezüg- lich doch eine Restunsicherheit durch den Mangel an Erfahrungen in der Dauerbehandlung.

Präparate

In Deutschland sind zwei ver- schiedene Präparationen von Botuli- num-Toxin A für die periorbitalen Indikationen zugelassen: Botox ® (Allergan, USA; Merz, D) und Dys- port® (Speywood, UK). Die Zulas- sungserweiterung für die Indikation Torticollis ist 1995 bislang nur für Dysport® erfolgt; für Botox® ist sie angekündigt. Die biologische Potenz beider Präparate und ihre Dosierun- gen werden in der Einheit „Mouse Unit" (M.U.) angegeben. Dabei ist eine M.U. als diejenige Toxinmenge definiert, die bei intraperitonealer In- jektion bei 50 Prozent von 18 bis 20 g schweren weiblichen Swiss-Webster- Mäusen zum Tode führt („Maus-LD- 50"). Trotz dieser Standardisierung der Systemwirkung unterscheiden sich gleiche „Maus-Einheiten" beider Toxinpräparate erheblich in der loka- len Wirksamkeit. Bei klinischer An- wendung entspricht eine Einheit (M.U.) des Präparates Botox ® etwa drei bis fünf Einheiten des Präparates Dysport® (11, 58). Dieser wichtige Unterschied ist beim Wechsel der Präparate und bei der Handhabung von Dosierungsempfehlungen strikt zu beachten (61, 65).

Botox® ist als Ampulle mit 100 Einheiten im Handel, Dysport® als Packung mit zwei Ampullen zu je 500 Einheiten. Beide Präparate müssen A-2730 (44) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 41, 13. Oktober 1995

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MEDIZIN

zur Injektion in 0,9prozentiger Koch- salzlösung gelöst werden. Die Kosten therapeutisch äquivalenter Dosen beider Präparate liegen etwa in der gleichen Größenordnung und werden bei den Beschreibungen der einzel- nen Indikationen genannt.

Anwendungsgebiete

Das Prinzip der lokalen chemi- schen Denervierung mit Botulinum- Toxin A eignet sich grundsätzlich zur Behandlung umschriebener abnor- mer Muskelkontraktionen und deren Folgen, wie beispielsweise Fehlbewe- gungen, Fehlhaltungen, Bewegungs- blockaden, Muskelhypertrophie und Schmerzen (15, 31). Die größte Grup-

pe solcher Erkrankungen stellen da- bei die fokalen Dystonien dar. Unter dem Begriff „Dystonien" werden Be- wegungsstörungen zusammengefaßt, bei denen es durch unwillkürliche Muskelkontraktionen zu abnormen Haltungen und/oder Bewegungsmu- stern des Körpers kommt Die genau- en Ursachen idiopathischer Dystoni- en sind noch unbekannt; wahrschein- lich bestehen Neurotransmitter- störungen im Bereich des extrapyra- midalen Systems.

Je nach ihrem Auftreten in den verschiedenen Körperregionen un- terscheidet man generalisierte (ge- samter Körper betroffen), multifoka- le (nicht benachbarte Körperteile be- troffen), segmentale (zwei benach- barte Körperteile betroffen) und fo- kale (auf ein Körperteil begrenzt) Formen (20).,Für die häufigsten foka- len Dystonien, nämlich den Blepha-

ZUR FORTBILDUNG

rospasmus, den Torticollis spasmodi- cus (zervikale Dystonie), den Schreibkrampf und die spasmodische Dysphonie existierten bislang keine befriedigenden konservativen Be- handlungsmethoden. Dies gilt auch für den Spasmus hemifacialis, dem keine Dystonie, sondern eine Irritati- on des N. facialis im peripheren Ver- lauf zugrundeliegt (32).

Viele andere Formen von Mus- kelkontraktionen wurden experi- mentell mit lokalen Injektionen von Botulinum-Toxin A behandelt: die Spanne reicht von therapeutischen Lähmungen im Bereich des Gastro- intestinal- und Urogenitaltraktes (17, 42) bis zu postoperativen Mus- kelruhigstellungen im chirurgisch- orthopädischen Bereich (22). Auch

Abbildung 1: Patientin mit dystonem Blepharospas- mus: willkürlich nicht überwindbarer Augen- schluß durch Über- aktivität des M. orbicula- ris oculi

zur Verringerung pathologisch ge- steigerter Sekretion von Schweiß- und Tränendrüsen wurde die lokale parasympathikolytische Wirkung des Toxins erfolgreich verwendet (siehe Tabelle). Auf die wichtigsten Anwendungen auf neurologischem Gebiet wird im folgenden näher ein- gegangen.

Indikation:

Idiopathischer Blepharospasmus

Bei der auch als „Lidkrampf"

bezeichneten Erkrankung kommt es phasenweise oder ständig zur Über- aktivität des M. orbicularis oculi mit zwanghaftem Augenschluß und Unfähigkeit zur Augenöffnung bis hin zur funktionellen Blindheit (Ab- bildung 1). Treten unwillkürliche

Mund- oder Kieferbewegungen (oromandibuläre Dystonie) hinzu, spricht man vom „Meige-Syndrom"

oder „Brueghel-Syndrom" (38).

Die Injektion von Botulinum- Toxin erfolgt subkutan im Bereich des M. orbicularis oculi an drei bis sechs Stellen, wobei der mittlere Teil des Oberlides ausgespart werden muß, um eine Diffusion des Toxins in den M. levator palpebrae mit konse- kutiver Ptose zu vermeiden. Die mitt- leren Dosierungen pro Auge liegen mit Botox® bei etwa 12,5 bis 25 Ein- heiten und mit Dysport ® bei etwa 75 bis 125 Einheiten. Die Wirkung tritt nach zwei bis fünf Tagen auf und hält etwa zwei bis vier Monate an. Etwa 80 Prozent der Patienten zeigen einen guten Behandlungserfolg (10).

Lokale Nebenwirkungen können mit folgenden durchschnittlichen Häufigkeiten auftreten (16): Ptose (zwölf Prozent), Keratitis (vier Pro- zent), vermehrter Tränenfluß (vier Prozent), trockene Augen (2,5 Pro- zent), Doppelbilder (zwei Prozent), periorbitales Ödem (je nach Ausmaß zwei Prozent bis 92 Prozent). Mit ei- ner Häufigkeit unter einem Prozent treten auf: Ekchymosis, Entropion, Ektropion, Schwäche der Gesichts- muskulatur. Alle Nebenwirkungen bilden sich meist bereits nach zwei bis vier Wochen vollständig zurück, so daß sie gut toleriert werden.

Zur Keratitisprophylaxe bei un- vollständigem Lidschluß hat es sich bewährt, über Nacht eine Augensalbe zu verwenden. Die jährlichen Kosten für die benötigte Toxinmenge liegen zwischen 1 000 und 1 800 DM.

Indikation:

Spasmus hemifacialis

Einseitig kommt es zu unwillkür- lichen Zuckungen der Gesichtsmus- kulatur, vor allem im Augenbereich.

Ursächlich sind meist Kompressionen des N. facialis an seiner Austrittszone aus dem Hirnstamm durch aberrie- rende Gefäße. Durch Dekompressi- onsoperationen können die patholo- gischen Erregungsmechanismen bei 70 bis 90 Prozent der Patienten besei- tigt werden (32). Eine befriedigende konservative Behandlungsalternative stand bisher nicht zur Verfügung. >

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Abbildung 2: Patientin mit tonischem rotatorischen Torticollis spasmodicus nach rechts (Videoaufnahmen )

Vor Injektion mit hyperaktivem M. sternocleidomastoideus links (A: spontane Fehlhaltung des Kopfes, C: will- kürliche Drehung nach rechts). Nach Injektion mit Atrophie des injizierten M. sternocleidomastoideus (B: nor- malisierte Spontanhaltung des Kopfes, D: willkürliche Drehung nach rechts). (Abbildung aus: Ceballos-Bau- mann et al: Akt Neurol 1990; 17: 139-145, mit freundlicher Genehmigung des Thieme-Verlags, Stuttgart)

M E D

Die Toxininjektion erfolgt ana- log zum Blepharospasmus einseitig in den M. orbicularis oculi. Selten sind Injektionen der unteren Gesichtshälf- te notwendig. Die Erfolgsraten liegen bei 90 Prozent, im Vergleich mit der Behandlung des Blepharospasmus ist die benötigte Toxindosis etwas gerin- ger, die Wirkungsdauer etwas länger und das Nebenwirkungsspektrum identisch (6). Die Kosten für das To- xin betragen jährlich zwischen 400 und 800 DM.

Indikation:

Torticollis spasmodicus (zervikale Dystonie)

Bei der auch als „Schiefhals" be- zeichneten Erkrankung kommt es zu abnormen Kopfbewegungen oder -haltungen als Folge dystoner Über- aktivität von Hals- und Nackenmus- kulatur. Dabei gibt es nicht nur reine Drehungen („Torticollis"), sondern auch Kippungen („Laterocollis"), Vor- und Rückwärtsneigungen („An- te- und Retrokollis") und komplexe Kombinationen dieser Grundmuster (14). Die Muskelkontraktionen kön- nen tonischen, rhythmischen oder tre- morösen Charakter haben.

Injektionen von Botulinum-To- xin A in die jeweils überaktive Mus- kulatur erzielen bei 70 bis 80 Prozent der Patienten eine deutliche Besse- rung (30, 51) (Abbildung 2).

Begleitende Schmerzen werden zu 90 Prozent gebessert (18, 44). Bei der Auswahl der zu injizierenden Muskulatur stützt man sich auf die klinische Analyse des Muskelakti- vierungsmusters und, vor allem bei komplexen Störungen, auf mehrka- nalige elektromyographische Ana- lysen der überaktiven Muskula- tur (12).

Die Durchschnittsdosierungen pro Sitzung betragen, je nach Schwe- regrad, bei Botox® 100 bis 300 Einhei- ten und bei Dysport® 500 bis 1 000 Einheiten. Die Wirkung hält etwa drei Monate an.

An lokalen Nebenwirkungen sind möglich: Schluckstörungen (10 bis 20 Prozent, durch lokale Diffusion des Toxins in benachbarte Schluck- muskeln), Instabilität der Kopfhal- tung (zirka 20 Prozent, vor allem bei

ZUR FORTBILDUNG

bilateraler Injektion von Nackenmus- keln), Mundtrockenheit (fünf bis zehn Prozent), lokale Schmerzen (fünf bis zehn Prozent), unspezifische Nebenwirkungen (Schwindel, Müdig- keit und so weiter bis maximal zehn Prozent).

Alle auftretenden Nebenwirkun- gen sind reversibel und werden in der

Regel problemlos toleriert. Die jährli- chen Kosten für das Toxin liegen je nach Schwere der Erkrankung zwi- schen 2 500 und 6 500 DM.

Indikationen:

Schreibkrampf und spasmodische Dysphonie

Aufgabenspezifische Dystonien der Extremitäten treten beispiels- weise beim Schreiben oder Musizie- ren auf. Der „Schreibkrampf" mit dystonen Verkrampfungen der Hand- und Unterarmmuskulatur ist die bekannteste Form dieser Bewe- gungsstörungen. Elektromyogra- phisch gesteuerte Injektionen von Botulinum-Toxin A führen bei 60 bis 70 Prozent der Betroffenen zu einer deutlichen Besserung (33). Die In- jektionen werden meistens fraktio-

niert in mehreren Sitzungen appli- ziert, um das enge therapeutische Fenster nicht zu verfehlen.

Die Dosierungen beim Schreib- krampf betragen für mehrere Unter- armmuskeln 30 bis 50 Einheiten Bo- tox® und 150 bis 250 Einheiten Dys- port®. Als Nebenwirkungen kann ein unerwünscht hohes Ausmaß an vor-

übergehender Schwächung der Hand- funktionen eintreten.

Bei der „spasmodischen Dyspho- nie" kommt es zu dystonen Ver- krampfungen der Kehlkopfmuskula- tur (laryngeale Dystonie). Man unter- scheidet einen „Adduktor-Typ", der durch Hyperadduktion der Stimm- bänder eine krächzende, gepreßte Stimme aufweist, und den wesentlich selteneren „Adduktor-Typ" mit pha- senweise leise hauchend-flüsternder Stimme. Injektionen mit Botulinum- Toxin A in die überaktive Kehlkopf- muskulatur werden meistens von Phoniatern und Neurologen koopera- tiv endoskopisch transoral oder trans- kutan vorgenommen (9).

Vor allem beim „Adduktor-Typ"

sind die Erfolge mit etwa 80 Prozent eindrucksvoll. In Deutschland besteht noch keine Zulassung für diese Indi- kationen.

A-2734 (48) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 41, 13. Oktober 1995

(6)

MEDIZON

Beurteilung und Ausblick

Die lokale Injektion von B otuli- num-Toxin A stellt bei den beschrie- benen Indikationen einen deutlichen Therapiefortschritt dar. Die Behand- lung ist sicher und effektiv. Nebenwir- kungen sind tolerabel und reversibel.

Bei einigen in Studie befindlichen Anwendungen, wie zum Beispiel der Spastik oder der infantilen Zerebral- parese, bestehen gute Aussichten, daß Botulinum-Toxin bei kritischer Indikationsstellung eine Bereiche- rung des therapeutischen Arsenals darstellen wird.

Obwohl mittlerweile ein An- wendungszeitraum von 15 Jahren überblickt werden kann, besteht ein Mangel an Erfahrung über langfristi- ge Folgen der Daueranwendung.

Zwar ist die Behandlung nicht auf- wendig und kann weitgehend ambu- lant erfolgen, es sind jedoch große Er- fahrung in Diagnose, Differentialdia- gnose und Therapie von Bewegungs- störungen wie auch im Umgang mit

ZUR FORTBILDUNG/FUR SIE REFERIERT

dem Toxin notwendig. Die für viele Patienten wichtige Therapieform darf nicht durch unkritische Anwendung in Mißkredit gebracht werden.

Daher darf die Behandlung laut Bundesgesundheitsamt (seit 1. Juli 1994: „Bundesinstitut für Arzneimit- tel und Medizinprodukte, BfArM") nur an Kliniken vorgenommen wer- den, die mit dieser Behandlungsme- thode spezielle Erfahrungen besitzen.

Es sind dies, je nach Indikation, bundesweit einige neurologische, ophthalmologische oder HNO- Fachkliniken, deren Anschrift man von den nächstgelegenen Fachabtei- lungen oder Fachärzten erfahren kann.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärzteb11995; 92: A-2726-2736 [Heft 41]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck, anzufordern über die Verfasser.

An der Erstellung vorstehender Arbeit wa- ren folgende Autoren mit beteiligt:

Prof. Dr. med. Reiner Benecke, Universität Düsseldorf

Dr. med. Andres 0. Ceballos-Baumann, Technische Universität München Prof. Dr. med. Reinhard Dengler, Medizinische Hochschule Hannover

Prof. Dr. med. Günther Deuschl, Universität zu Kiel

Dr. med. Dirk Dressier, Universität Göttingen

Prof. Dr. med. Wolfgang Oertel, Universität München

Prof. Dr, med. Werner Poewe, Universität Innsbruck

Anschrift für die Verfasser:

Dr. med. Frank Erbguth Dipl.-Psychologe

Neurologische Klinik mit Poliklinik der Universität Erlangen-Nürnberg Schwabachanlage 6

91054 Erlangen

Phlebothrombosen klinisch erkennen

In einer multizentrischen klini- schen Studie wurde an 529 ambulan- ten Patienten mit der Verdachtsdia- gnose einer tiefen Venenthrombose untersucht, wie sicher klinische Un- tersuchung und Sonographie eine Phlebothrombose nachweisen oder ausschließen können. Als Goldstan- dard und Kontrolle wurde bei allen Patienten eine Phlebographie durch- geführt.

Es konnte gezeigt werden, daß allein durch die klinische Untersu- chung Phlebothrombosen in 85 Pro- zent der Fälle richtig vorhergesagt und in 95 Prozent der Fälle richtig ausgeschlossen werden konnten. Bei Einsatz des Ultraschalls lag die Sensi- tivität bei 78 Prozent und die Spezi- fität bei 98 Prozent.

Für den klinischen Alltag emp- fehlen die Autoren bei Verdacht auf tiefe Venenthrombosen die Kombina- tion aus klinischer Untersuchung und Sonographie; nur bei diskordanten Ergebnissen hierbei ist ihres Erach- tens eine Phlebographie zur Klärung

indiziert. Bei allen übrigen Patienten kann mit ausreichender Sicherheit auch ohne Phlebographie eine Phle- bothrombose nachgewiesen oder aus- geschlossen werden. acc

Wells PS et al.: Accuracy of clinical assess- ment of deep-vein thrombosis. Lancet 1995; 345: 1326-1330.

Dr. P. S. Wells, Ottawa Civic Hospital, Ottawa, Ontario, K1Y 1J8, Canada

TIPS bei refraktärem Aszites

Der transjuguläre intrahepati- sche portosystemische Stent-Shunt stellt eine neue, recht erfolgreich praktizierte Alternative zur Sklero- therapie bei der Ösophagusvarizen- blutung dar.

Wie die Autoren zeigen, kommt diese Maßnahme auch bei therapiere- fraktärem Aszites zum Tragen, wobei allerdings bislang noch keine kontrol- lierte prospektive Studie vorliegt.

Die Autoren berichten über ihre Ergebnisse bei 50 Patienten, die im Schnitt 426 ± 333 Tage danach beob- achtet werden konnten.

Die Stent-Implantation führte zu einer durchschnittlichen Druck- senkung um 63 Prozent. Bei 37 Pati- enten (74 Prozent) kam es zu einem vollständigen Verschwinden des As- zites innerhalb von drei Monaten.

Während der Beobachtungszeit verstarben relativ viele Patienten an Komplikationen der Grundkrank- heit (29).

Die Autoren stellen fest, daß das überleben nach einem Jahr ins- besondere davon abhängt, ob die Pa- tienten jünger als 60 Jahre alt sind, ein Serum-Bilirubin vor Stent-Im- plantation von unter 1,3 mg/dl auf- weisen und die Patienten eine kom- plette Remission bieten.

Ochs A, Rössle M, Haag K et al: The transjugular intrahepatic Portosystemic Stent-Shunt procedure for refractory as- cites. N Engl J Med. 1995; 332: 1192-1197.

Dr. Rössle, Medizinische Universitätskli- nik II, Hugstetter Straße 55, 79106 Frei- burg

Referenzen

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