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Archiv "Späte Hyperkinesen als Folge langfristiger Neuroleptikamedikation" (11.07.1983)

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin ÜBERSICHTSAUFSATZ

Erfolge der

Neuroleptikamedikation

Neuroleptika sind wirksame Medika- mente zur Schizophrenie-Behand- lung. Das kann heute, drei Jahrzehn- te nach der Einführung des Chlor- promazin (Megaphen®), dem zahl- reiche weitere Neuroleptika folgten, mit Sicherheit festgestellt werden.

Die Erfolge einer Behandlung mit Neuroleptika stehen bei akuten schi- zophrenen Syndromen außer Zwei- fel, was sich allein schon in der Ver- kürzung stationärer Behandlungs- zeiten zeigt. Die Wirksamkeit einer solchen Behandlung beschränkt sich jedoch nicht auf akute psychoti- sche Zustände; auch der Langzeit- verlauf einer Psychose läßt sich durch Neuroleptika günstig beein- flussen. Im Rahmen einer konse- quenten neuroleptischen Langzeit- therapie werden Wiedererkrankun- gen, also erneute psychotische Wel- len, und schwere Residualzustände seltener. Die weite Verbreitung die- ser Medikamente ist daran zu erken- nen, daß nach Ayd (1970)< bis zum Jahre 1970 schätzungsweise 250 Millionen Menschen mit Neurolepti- ka behandelt wurden.

Grenzen der Neuroleptikatherapie Andererseits wurden die Grenzen dieser Therapie deutlich. Zum einen zeigte sich, daß Neuroleptika zwar meist, aber nicht in jedem Fall aku- ter schizophrener Erkrankungen wirksam sind. Auch heute noch hat die Elektrokrampfbehandlung ei-

nen, wenn auch schmalen Indika- tionsbereich. Zudem sind Neurolep- tika nur wenig wirksam gegen An- triebsverarmung und dynamische Reduktion, welche den Langzeitver- lauf mancher Schizophrenien kenn- zeichnen. Schließlich wurde in sy- stematischen Untersuchungen ge- zeigt, daß — sowohl in der Akutbe- handlung wie in der Therapie auf lange Sicht — Neuroleptika zwar ei- nen gewichtigen Baustein in der Schizophreniebehandlung darstel- len, für sich allein angewandt aber nicht ausreichen. Den multifaktoriel- len Entstehungsbedingungen dieser Krankheit entspricht eine mehrdi- mensionale Therapie: neben der Pharmakotherapie sind individuelle Psychotherapie und sozio-therapeu- tische Maßnahmen erforderlich.

Nebenwirkungen

der Neuroleptikamedikation Nebenwirkungen (Begleiteffekte) ei- ner neuroleptischen Behandlung wurden zum Teil schon früh festge- stellt, zum Teil aber erst nach länge- rer Anwendung. Hiervon handelt diese Arbeit. Eine Übersicht der Be- gleiterscheinungen findet sich in Ta- belle 1, der speziellen motorischen Begleiteffekte in Tabelle 2. Die Hy- pothese, die antipsychotische Wir- kung sei eng an das Auftreten akine- tischer Nebenwirkungen gekoppelt, ist nicht belegt. Die vegetativen Be- gleiterscheinungen sind im allge- meinen von untergeordneter Bedeu- tung. Bei Langzeitbehandlungen sind auch Gewichtszunahme und

Neuroleptika sind unentbehr- liche Medikamente sowohl für die Akut- als auch für die Langzeitbehandlung schizo- phrener Patienten. Angesichts der Erfolge werden Nebenwir- kungen möglicherweise zu wenig beachtet. Ein besonde- res Problem sind die späten Hyperkinesen, die in vielen Fällen irreversibel verlaufen.

Dämpfung der Sexualfunktion zu beachten. Zudem können unter Neu- roleptika pharmakogene Depressio- nen auftreten; die Bedingungen hierfür sind im einzelnen noch nicht geklärt.

Motorische Nebenwirkungen der Neuroleptika

Ein ernsthaftes Problem stellen vor allem die motorischen Nebenwir- kungen dar. Innerhalb weniger Stun- den bis Tage nach Beginn einer neu- roleptischen Behandlung können in- itiale Dystonien (Frühdyskinesien) auftreten. Diese motorischen Reizer- scheinungen äußern sich in Blick- krämpfen, Zungen-Schlund-Krämp- fen, Torticollis und Halbseiten- krämpfen und lassen sich prompt mit anticholinergischen Antiparkin- sonmitteln (Biperiden, z. B. Akine- ton®) beheben. Nach mehreren Wo- chen, selten früher, kann sich ein akinetisches Syndrom (medikamen- töses Parkinsonoid, akinetisch-abu- lisches Syndrom) ausbilden, das we- niger gut auf Anticholinergika an- spricht, zudem im gleichen Zeitraum eine Akathisie (Bewegungsunruhe, allerdings seltener): diese sehr un- angenehme, körperlich empfundene Unruhe tritt besonders im Sitzen auf („Sitzunruhe").

Späte Hyperkinesen

Handelt es sich bei den bisher ge- nannten um stets reversible Begleit- erscheinungen, so trifft dies für die

Späte Hyperkinesen als Folge langfristiger

Neuroleptikamedikation

Norbert Leygraf und Rolf Meermann

Aus der Klinik für Psychiatrie der Universität Münster (Direktor: Professor Dr. med. Rainer Tölle)

50 Heft 27/28 vom 11. Juli 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Hyperkinesen

folgende nur noch begrenzt zu.

Nach langer Behandlungszeit, teils erst nach Absetzen der Medikation, können Hyperkinesen, vor allem im Mundbereich und den Extremitäten auftreten, die als späte Hyperkine- sen bezeichnet werden.

Aus den verschiedenen gebräuchli- chen Synonyma (Spätdyskinesien, tardive dyskinesia, persistant dyski- nesia, terminale Hyperkinesen) wird sowohl der späte Zeitpunkt des Auf- tretens im Behandlungsverlauf (meist nach jahrelanger, frühstens nach 3- bis 6-monatiger Behand- lungszeit), wie die häufige Irreversi- bilität dieser hyperkinetischen Stö- rung deutlich.

Angaben über die Prävalenz schwanken je nach Diagnosekrite- rien und Patientenstichprobe in wei- ten Grenzen. In den meisten Studien wird für hospitalisierte Langzeitpa- tienten eine Prävalenz von etwa 15 Prozent angegeben (6).

Erscheinungsbild

Diese extrapyramidalen Hyperkine- sen treten bevorzugt im Mund-, Lip- pen- und Zungenbereich auf: gri- massierende Bewegungen der mi- mischen Muskulatur, saugende oder kauende Kieferbewegungen, schmatzende Bewegungen der Lip- pen, Heraustreten oder Zusammen- rollen der Zunge sowie ticähnliche Bewegungsabläufe der Lippen, Au- gen und Augenbrauen.

Nicht selten finden sich auch cho- reatiforme Bewegungsabläufe der Hände und Füße, athetoide Finger- stellungen oder hemiballistische Be- wegungen der Gliedmaßen. Ähnlich können Rumpf- und Nackenmusku- latur betroffen sein. Anfangs sieht man oft nur ein ständiges Auf- und Abbewegen der Großzehen.

Wie auch andere extrapyramidale Störungen kann diese Symptomatik durch psychische Anspannung ver- stärkt werden, vor allem beim Ver- such, sie bewußt zu unterdrücken.

Unter medikamentöser Sedierung gehen die Beschwerden zurück, im Schlaf fehlen sie ganz.

Differentialdiagnose

Von diesen pharmakogenen Hyper- kinesen sind ähnliche Syndro- me verschiedener neurologischer Krankheiten abzugrenzen, insbe- sondere die bei Chorea Huntington und anderen heredo-degenerativen Krankheiten. Ähnliche Beschwerde- bilder werden ferner beobachtet nach Intoxikation (z. B. CO 2-Vergif- tungen), bei Stoffwechselerkrankun- gen (z. B. der Degeneratio-Hepato-

Vegetative

Begleiterscheinungen Müdigkeit

Hypotonie (mit reflektorischer Tachykardie)

orthostatische Dysregulation Akkomodationsstörungen selten:

Schwitzen, Mundtrockenheit, Temperatursenkung (oder -steigerung), Verschlechte- rung von Glaukom und Mik- tionsstörungen bei Prostata- hypertroph ie

Endokrine

Begleiterscheinungen Amenorrhoe, Gynäkomastie, Galaktorrhoe, Herabsetzung von Libido und Potenz Sonstige

Begleiterscheinungen Gewichtszunahme (bei gestei- gertem Appetit), verstärkte Thrombosegefahr, verstärkte Ödemneigung, Photosensibi- lisierung

Minderung

der Glukosetoleranz intrahepatische Cholestase Herabsetzung

der Krampfschwelle

vorübergehende Leukopenie und (seltener) Agranulozytose Motorische Nebenwirkungen siehe Tabelle 2

Tabelle 1: Belgeiterscheinungen der Neuroleptika

Ienticularis), manchmal bei Hirn- tumoren und nach traumatischer, auch frühkindlicher Hirnschädi- gung. Häufiger sind sie bei zerebra- ler Arteriosklerose. Zudem muß bei den neuroleptisch behandelten psy- chotischen Patienten zwischen me- dikamentös induzierten späten Hy- perkinesen und Symptomen der Grunderkrankungen unterschieden werden, was sich im Einzelfall als schwierig erweisen kann. Lange vor Einführung der Neuroleptika wur- den als katatone Symptome schizo- phrener Patienten Bewegungsste- reotypien beschrieben, die den spä- ten Hyperkinesen ähnlich sind. Ex- trapyramidale Hyperkinesen können im übrigen auch bei langfristiger Be- handlung mit anderen Medikamen- ten auftreten, insbesondere bei dem in der Parkinson-Therapie häufig be- nutzten L-Dopa (Madopara), aber auch nach Gabe von Antihistamini- ka, Anticholinergika, Phenytoin und Amphetaminen (3).

Entstehungsbedingungen

Mit wenigen Ausnahmen (z. B. Clo-.

zapin) können alle neuroleptisch wirksamen Medikamente diese Stö- rungen hervorrufen. Unterschiedli- che Häufigkeiten bei sogenannten hoch- bzw. niedrigpotenten Neuro- leptika sind bisher nicht sicher nachgewiesen worden. Nach langfri- stiger Behandlung mit den soge- nannten hochpotenten Neuroleptika sind späte Hyperkinesen vermutlich häufiger als nach der Behandlung mit sogenannten mittelstarken und schwachen Neuroleptika (bei denen übrigens auch die früher auftreten- den extrapyramidalen Störungen seltener sind); jedoch ist dieser Un- terschied bislang nicht sicher nach- gewiesen.

Bei einigen wenigen Neuroleptika (z. B. Clozapin und Fluzapin) wur- den späte Hyperkinesen bisher nicht beobachtet. Anscheinend besteht ei- ne Korrelation zur Behandlungsdau- er sowie zur Gesamtmenge der ver- abreichten Neuroleptika (7, 10).

Zur Pathogenese wird vermutet, daß späte Hyperkinesen auf einer durch Ausgabe A DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 27/28 vom 11. Juli 1983 53

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Hyperkinesen

Zeitpunkt des Auftretens

Beeinflussung

durch Anticholinergika

Reversibilität

Initiale Dystonien (Frühdyskinesien)

einige Stunden bis Ta- ge nach erstmaliger oder erneuter Neuro- leptikagabe

sehr rasche und voll- ständige Beseitigung

rasch und vollständig

akinetisches Syndrom (medikamentöses Par- kinsonoid, akinetisch- abulisches Syndrom) Akathisie

(Bewegungsunruhe)

einige Wochen, selten schon eine Woche nach Beginn der Neu- roleptika-Medikation nach mehrwöchiger Behandlungsdauer

weniger rasche und häufig nicht ganz voll- ständige Besserung

kaum Besserung

etwas langsamer, aber vollständig

späte Hyperkinesen (terminale Hyperkine- sien, Spätdyskinesien, tardive dyskinesia)

nach langfristiger, meist jahrelanger Be- handlungsdauer z. T.

im Anschluß an Re- duktion oder Absetzen der Neuroleptika

keine Besserung, meist Verschlechterung

teils innerhalb mehre- rer Monate reversibel, teils irreversibel

Tabelle 2: Extrapyramidale Begleiterscheinungen der Neuroleptika die Neuroleptikamedikation hervor-

gerufenen Überempfindlichkeit der Dopaminrezeptoren im Nigrostria- tum beruhen.

Aufgrund der durch die Neuroleptika verursachten Blockade der Dopamin-

rezeptoren kommt es möglicher- weise im Laufe der Zeit zu einer „De- nervations-Überempfindlichkeit", so daß an den Rezeptor gelangtes Dop- amin dort eine inadäquat starke Re- aktion hervorruft. Hierdurch ließe sich auch das häufige Auftreten der Symptomatik nach Reduktion bzw.

Absetzen der neuroleptischen Medi- kation erklären: Es käme zu einer funktionellen dopaminergen Über- aktivität, welche in hyperkinetischen Syndromen ihren Ausdruck fände.

Das würde auch erklären, daß so- wohl die Gabe von Anticholinergika als auch von L-Dopa die Symptoma- tik verstärkt, die Gabe bzw. Dosiser- höhung von Neuroleptika jedoch die Symptomatik unterdrückt.

Diese Hypothese ließ sich durch neurobiochemische Untersuchun- gen im Tierversuch stützen. Der Nachweis struktueller Veränderun- gen der Hirnsubstanz ist bisher nicht erbracht worden (3).

Behandlung

der späten Hyperkinesen

Eine spezifische effektive Behand- lungsmöglichkeit der späten Hyper- kinesen ist bisher nicht bekannt. Die in den letzten Jahren gehäuft veröf- fentlichten Erfolgsmeldungen von verschiedenen Medikamenten lie- ßen sich größtenteils in kontrollier- ten Studien nicht bestätigen (6). Ab- setzen der Neuroleptika — was in vie- len Fällen die Gefahr einer erneuten psychotischen Symptomatik mit sich bringt—führt nur bei einem Teil der jüngeren Patienten zu einem Rückgang der Hyperkinesen.

Aus den beschriebenen pathogene- tischen Überlegungen ist zu folgern, daß die Symptomatik durch Dop- aminantagonisten positiv beeinflußt werden müßte. Am effektivsten scheint die Verordnung der Dop- amin-antagonistischen Neuroleptika zu sein.

Andere Dopaminantagonisten ha- ben, ebenso wie die häufig unter- suchten cholinergen Substanzen, keine vergleichbaren Ergebnisse er- bracht (6). Über einen neuarti- gen (angeblich relativ spezifischen) Dopamin-Rezeptor-Blocker (Tiapri-

dexe) wurden in der letzten Zeit recht gute Ergebnisse veröffentlicht (5), was noch durch kontrollierte Un- tersuchungen bestätigt werden muß. Anticholinergika verstärken die Symptomatik und sind daher bei bestehenden späten Hyperkinesen nicht indiziert. Die in schwersten Fällen durchgeführten stereotakti- schen Hirnoperationen zeigten sehr unterschiedliche Ergebnisse.

Was also als relativ gesicherte effek- tive Behandlungsmethode bisher bleibt, ist die erneute Gabe von Neu- roleptika bzw. deren Dosiserhö- hung. Die Problematik dieser Thera- pie liegt auf der Hand: Man behan- delt eine Störung mit dem Medika- ment, durch das sie hervorgerufen wurde. Vermutlich wird hierdurch auf längere Sicht die Symptomatik der späten Hyperkinesen eher ver- stärkt bzw. eine irreversible Schädi- gung hervorgerufen; dieses Risiko ist jedoch noch nicht sicher bewie- sen worden.

Sind späte

Hyperkinesen vermeidbar?

Da die eingetretenen Hyperkinesen wenig korrigierbar sind, muß das Hauptaugenmerk auf die Prophylaxe 54 Heft 27/28 vom 11. Juli 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Hyperkinesen

dieser Nebenwirkung gerichtet sein.

Die beste Prophylaxe wäre, Neuro- leptika nur für einen kurzen Zeit- raum zu verordnen. Damit würde man aber die in den letzten Jahr- zehnten erreichten Erfolge der Langzeittherapie rezidivierender bzw. chronischer Schizophrenien aufgeben. Viele dieser Patienten be- dürfen doch einer längerfristigen neuroleptischen Behandlung zur Rückfallprophylaxe.

In den letzten Jahren ist wiederholt versucht worden, spezifische Fakto- ren zu bestimmen, die zu späten Hy- perkinesen prädisponieren, um ein erhöhtes Risiko vor Beginn einer neuroleptischen Dauermedikation erkennen zu können. Das hat sich jedoch als außerordentlich schwie- rig erwiesen.

Als relativ gesicherter — und klinisch bedeutsamer — „Risikofaktor" ist das Alter des Patienten anzusehen.

Mit zunehmendem Alter steigt die Prävalenz dieser Nebenwirkung deutlich an (7). Ob späte Hyperkine- sen bei Frauen häufiger als bei Män- nern auftreten, ist hingegen unge- klärt (6). Offen ist auch die Frage, ob die Verordnung sogenannter „Drug- holidays" (ein medikamentenfreier Tag in der Woche) möglichen Spät- schäden vorbeugt, oder aber im Ge- genteil das Auftreten irreversibler Schädigungen begünstigt (3). Irre- versible Hyperkinesen scheinen bei Patienten mit Vorschädigung des Gehirns gehäuft aufzutreten.

Folgerungen für die Langzeitthera- pie schizophrener Patienten durch den niedergelassenen Arzt

Wegen des geschilderten Zusam- menhanges zwischen der Gesamt- dauer und Gesamtmenge der Neuro- leptikamedikation und dem Auftre- ten dieser Nebenwirkung, muß gera- de bei einer notwendigen längerfri- stigen Behandlung die niedrigste ef- fektive Erhaltungsdosis ermittelt werden. Außerdem sollte man mit der zusätzlichen Verordnung von Anticholinergika, z. B. „Akineton 8 ", möglichst zurückhaltend sein. Sie verstärken bestehende Späthyperki-

nesen, möglicherweise fördern sie auch deren Auftreten. In seltenen Fällen läßt sich bei diesen Anti- cholinergika auch ein süchtiger Miß- brauch (aufgrund der euphorisieren- den Wirkung) beobachten.

Um das Risiko später Hyperkinesen zu vermindern, ist bei der Langzeit- behandlung psychotischer Patien- ten immer wieder zu prüfen, ob das Neuroleptikum noch notwendig ist oder aber abgesetzt werden kann.

Systematische Untersuchungen er- gaben nämlich, daß etwa die Hälfte dieser Patienten ohne Neurolepti- kum auskommt, bei der anderen Hälfte aber tritt alsbald nach dem Absetzen ein Rezidiv ein (13). Weil die Reaktion des einzelnen Kranken nicht voraussehbar ist, muß der Facharzt die Entscheidung treffen und den Absetzversuch (in der Re- gel stufenweise Dosisminderung) durchführen.

Neben dem bisherigen Krankheits- verlauf sind hier Faktoren der sozia- len Situation und vor allem des Arzt- Patienten-Kontaktes wichtig. Beson- ders zu beachten ist, daß mit dem Absetzen der Medikation die Be- handlung nicht beendet ist.

Gerade wenn eine Behandlung ohne Medikamente erfolgt, sind häufige und intensive Arzt-Patient-Kontakte erforderlich, um durch andere Behandlungsmaßnahmen (Psycho- und Soziotherapie) einen Rückfall zu verhüten und auch um einem dro- henden Rückfall rasch begegnen zu können, gegebenenfalls auch mit ei- ner erneuten, möglichst zeitlich be- grenzten Neuroleptikamedikation.

Dabei sollte jeweils geprüft werden, ob anstelle eines „hochpotenten"

und zugleich stark extrapyramidal wirksamen Neuroleptikums besser ein milderes, d. h. nebenwirkungsär- meres Neuroleptikum eingesetzt werden kann.

Der späten Hyperkinesen und auch anderer Nebenwirkungen wegen muß die Indikation zur neurolepti- schen Behandlung sehr streng ge- stellt werden. Diese hoch wirksamen

Medikamente sind nur bei der Akut- und Langzeitbehandlung von Psy- chosen indiziert. Es ist sehr proble- matisch, Neuroleptika gegen Schlaf- störungen oder nervöse Beschwer- den einzusetzen, auch wenn die Pharmawerbung hierfür sogar De- potneuroleptika anbietet.

Der niedergelassene Arzt muß be- rücksichtigen, daß neuroleptische Medikamente auch in relativ gerin- ger Dosierung zu den beschriebe- nen psychischen und somatischen Begleiterscheinungen führen kön- nen, einschließlich der späten Hy- perkinesen. Bei Psychosekranken aber muß der Arzt — unbeschadet der sorgfältigen Beachtung der Risi- ken — auch den großen therapeuti- schen Nutzen der neuroleptischen Behandlung bedenken (11).

Literatur

(1) Ayd, F. J., Jr.: Prevention of recurence maintenance therapy In: DiMascio, A., and Shader, R. I., eds. 'Clinical Handbook of Psychopharmacology' New York: Science House. (1970) 297-310 — (2) Benkert, 0., und Hippius, H.: Psychiatrische Pharmakotherapie 3. Aufl. (1980), Springer Verlag, Berlin/Heidel- berg/New York— (3) Berger, P. A., and Rexroth, K.: Tardive Dykinesia: Clinical, Biological, Pharmakological Perspektives Schizophrenia Bulletin 6 (1980) 102-116 — (4) Bleuler, E.:

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Changing Epidemiology of Tardive Dyskinesia, Am. J. Psychiat., 138 (1981)— (8) Kraepelin, E.:

Lehrbuch der Psychiatrie Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte Barthe, Leipzig (1909) (9) Schonecker, M.: Ein eigentümliches Syn- drom im oralen Bereich bei Megaphen-Appli- kation, Nervenarzt, 29 (1957) 35 — (10) Simp- son, G. M., u. a.: Tardive dyskinesia and psychotropic drug history, Psychopharmakol- ogy, 58 (1978) 117 — (11) Tölle, R.: Die langfri- stige Betreuung des schizophrenen Patienten durch den Allgemeinarzt, Dt. Arztebl. 74 (1977) 1201-1204 — (12) De Veaugh-Geiss, J.: Tardive Dyskinesia, Wright, London (1982) - (13) Wog- gon, B.: Neuroleptika-Absetzversuche bei chronisch schizophrenen Patienten, Intern.

Pharmakopsychiat. 14 (1979) 34-56

Anschrift der Verfasser:

Dr. med. Norbert Leygraf Dr. med. Diplom-Psychologe Rolf Meermann

Psychiatrische und Nervenklinik der Westfälischen

Wilhelms-Universität Albert-Schweitzer-Straße 11 4400 Münster/Westfalen

Ausgabe A DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 27/28 vom 11. Juli 1983 57

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