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Archiv "Tardive Dyskinesien unter Neuroleptika-Behandlung" (09.04.1993)

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DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT

ZUR FORTBILDUNG

Tardive Dyskinesien

unter Neuroleptika-Behandlung

Wolfgang Gaebel

ie Einführung der Neu- roleptika in die psych- iatrische Behandlung durch Delay und Deni- ker vor 40 Jahren stell- te einen entscheidenden Durch- bruch in der Somatotherapie psych- iatrischer Krankheiten dar. Das brei- te, nosologisch unspezifische Wir- kungsspektrum hat diese pharmako- logisch heterogene Medikamenten- gruppe rasch zu einem unentbehrli- chen Bestandteil psychiatrischer Pharmakotherapie werden lassen.

Hauptindikationsgebiet sind Psycho- sen aus dem schizophrenen Formen- kreis, bei denen durch Einsatz von Neuroleptika in der Akuttherapie und eine anschließende Rezidivpro- phylaxe rehabilitative Maßnahmen überhaupt erst wirksam werden.

Weitere psychiatrische Indikationen (oft im Rahmen von Kombinations- therapien) sind zum Beispiel Ma- nien, wahnhafte Depressionen und hirnorganische Syndrome, daneben aber auch psychoreaktive Störungen und Angstsyndrome. Aufgrund der psychovegetativ unspezifisch dämp- fenden Begleitwirkung bei großer Toleranzbreite geht der Einsatz der Neuroleptika allerdings weit über den psychiatrischen Indikationsbe- reich hinaus.

Der empirisch zweifelsfrei be- legten Wirksamkeit in der Akut- wie Langzeitbehandlung schizophrener Psychosen (zum Beispiel 7) steht ei- ne Reihe unerwünschter Medika- mentenwirkungen gegenüber, deren Risiko allerdings in den meisten Fäl- len gut abschätzbar ist. Unter den eng mit den Wirkmechanismen der Neuroleptika verbundenen neurolo- gischen Nebenwirkungen hat jedoch eine Gruppe von Phänomenen zu- nehmend Bedeutung erlangt und die Neuroleptika-Behandlung gelegent-

Insbesondere bei Risikopatienten können im Verlauf einer länger- dauernden Neuroleptikatherapie Bewegungsstörungen auftreten, sogenannte tardive Dyskinesien.

Ihre pathophysiologischen Grund- lagen sind noch kaum bekannt, so daß die Entwicklung therapeu- tischer Möglichkeiten bisher un- befriedigend geblieben ist. Pro- phylaktische Maßnahmen, die das Risiko des Auftretens einer solchen Erkrankung verringern, bestehen gegenwärtig in einer strengen Indikationsstellung zur Neuroleptikabehandlung und im möglichst niedrig dosierten Ein- satz eher mittelpotenter oder atypischer Neuroleptika, verbun- den mit einer regelmäßigen Be- fundkontrolle,

lich in Mißkredit gebracht: die soge- nannten tardiven Bewegungsstörun- gen. Diese unterscheiden sich von den frühen Störungen, die unmittel- bar (Frühdyskinesien) beziehungs- weise nach Tagen oder Wochen auf- treten können (Akathisie, Parkinso- noid), durch ihr vergleichsweise spä- tes Auftreten im Behandlungsver- lauf, ihr klinisches Bild sowie die Ge- fahr einer möglichen Irreversibilität.

Klinisches Bild

Terminologie — Subtypologie Der Sammelbegriff „tardive Dyskinesien" (TD) faßt verschiede- ne nach mehrmonatigem bis mehr-

jährigem Behandlungsverlauf auftre- tende unwillkürliche, extrapyrami- dalmotorische Bewegungsstörungen aufgrund ihrer vermuteten Ätiologie

—längerdauernde Neuroleptika-Be- handlung — zusammen. Häufig treten TD erstmals bei Reduktion oder Ab- setzen von Neuroleptika auf — beson- ders rasch nach oraler Applikation — beziehungsweise bei Gabe von Anti- cholinergika aus der Latenz. Die be- nutzte Terminologie bei der Be- schreibung und Unterteilung des Syndroms ist uneinheitlich. Eine Dif- ferenzierung von symptomatolo- gisch, epidemiologisch, pathogene- tisch und möglicherweise therapeu- tisch abgrenzbaren Unterformen (49, 35) berücksichtigt neben dem Ver- lauf (Reversibilität) vor allem

■ topographische Charakteristika:

— Bucco-linguo-mastikatorisch (oro- fazial);

—gliedmaßenbetont;

— rumpfbetont; sowie

■ bewegungsspezifische Aspekte:

— choreatiform, athetotisch, ballistisch;

— dyston;

— tic-artig, zum Teil mit Vokalisati- on (tardives Tourette-Syndrom).

Besonders charakteristisch sind periorale Bewegungsunruhe und un- willkürliche Wälzbewegungen der Zunge. Eine seltene Sonderform stellt das wegen einer tonischen Schiefhaltung von Kopf, Hals und oberem Rumpf als „Pisa-Syndrom"

bezeichnete Bild dar (11). Beim ebenfalls seltenen „Rabbit-Syn- drom" handelt es sich dagegen um einen rhythmischen Lippentremor.

Psychiatrische Klinik

—Rheinische Landes- und Hochschulklinik - (Direktor: Prof. Dr. med. Wolfgang Gaebel) der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Dt. Ärztebl. 90, Heft 14, 9. April 1993 (53) A1-1041

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Gelegentlich werden auch tardive Akathisien beobachtet und den TD zugerechnet (40). Darüber hinaus finden sich Berichte einer häufigeren Assoziation von TD mit kognitiven Störungen (41) und sogenannter Ne- gativsymptomatik (47, 28). Als medi- zinische Komplikationen schwerer Formen von TD werden unter ande- rem bukkale Ulzerationen, Verlust der Bewegungskontrolle, Aspirati- onspneumonie und Gewichtsverlust (Schluckstörungen) sowie Dyspnoe (Glottisspasmen) beobachtet (48).

Zu den psychosozialen Komplikatio- nen rechnen Suizidalität, Behinde- rung bei der Berufsausübung und so- ziale Stigmatisierung (51).

Differentialdiagnose

Bewegungsstörungen bei psych- iatrischen Patienten — insbesondere aus dem schizophrenen Formenkreis

— sind bereits vor der Neuroleptika- Ara beschrieben worden (37). Die terminologische Uneinheitlichkeit erschwert allerdings einen Vergleich mit den heute als TD beschriebenen Störungen. Es stellt sich demnach die Frage, ob TD eine nosologisch einheitliche Entität innerhalb der Bewegungsstörungen darstellen und welche ätiologische Rolle Neurolep- tika tatsächlich spielen. Klinisch be- deutet dies, daß die gesamte Palette von Bewegungsstörungen differenti- aldiagnostisch in Rechnung gestellt werden muß. Hierzu gehören vor al- lem Phänomene wie Stereotypien und Manierismen im Rahmen kata- toner und atypischer Psychosen, Tics unterschiedlicher Genese sowie cho- reatische, athetotische, ballistische oder dystone Phänomene primär or- ganischer Genese.

Klinische Untersuchung

Die klinische Untersuchung folgt dem in einschlägigen neurologi- schen Lehrbüchern beschriebenen Untersuchungsgang von Bewegungs- störungen. Dabei sind neben der ge- nauen Beobachtung und Beschrei- bung der spontanen Störung, der Motilitäts-, Tonus- und Reflexprü- fung auch Modifikationen durch bahnende und hemmende Einflüsse wie Willkürinnervation, Aufmerk- samkeitslenkung, affektiver und si-

tuativer Kontext sowie Vigilanzni- veau zu beachten. TD werden übli- cherweise durch affektive Erregung sowie Willkürinnervation in nicht be- troffenen Körperregionen aktiviert, können willentlich oder durch inten- dierte Bewegungen im betroffenen Gebiet kurzfristig unterdrückt wer- den und sistieren im Schlaf. Oft wer- den sie von den Patienten selbst nicht bewußt wahrgenommen.

Zur quantitativen Erfassung von TD im Rahmen von (wissenschaftli- chen) Verlaufsbeobachtungen wird heute — neben anderen verfügbaren Skalen und objektiven Meßverfahren (5) — vor allem die Abnormal Invo- luntary Movement Scale (AIMS; 36) benutzt, von der eine deutsche Ver- sion vorliegt (31). Die Skala bildet getrennt auf jeweils fünfstufigen Subskalen faziale und orale sowie Extremitäten- und Rumpfbewegun- gen ab, darüber hinaus erlaubt sie die Beurteilung des Gesamtschwe- regrades, des Ausmaßes der resultie- renden Behinderung, des Bewußt- seins des Patienten über die Störung, und berücksichtigt schließlich den Zahnstatus als möglichen intervenie- renden Faktor. Die Reliabilität der Skala gilt als gut.

Epidemiologie

Vorkommen

Aufgrund der Heterogenität der untersuchten Patientenpopulationen (Diagnose, soziodemographische Merkmale, Behandlungsdauer, Do- sierung etc.) sowie infolge meßme- thodischer Probleme (Falldefinition, Meßinstrument, Datenqualität etc.) ist die Frage der Prävalenz und Inzi- denz von TD nicht eindeutig zu be- antworten. Dazu kommt die Mög- lichkeit einer Maskierung durch Neuroleptika selbst. Grundsätzlich werden TD unter neuroleptischer Behandlung auch an nichtpsycho- tisch Erkrankten beobachtet (30).

Angaben zur Punktprävalenz orofa- zialer TD unter chronischer Neuro- leptika-Behandung liegen zwischen 0,5 Prozent und 65 Prozent, im Mit- tel bei 20 Prozent (44, 25, 35). Da die Prävalenzrate vergleichbarer sponta- ner Dyskinesien nur bei etwa fünf Prozent liegt (35), muß davon ausge-

gangen werden, daß Neuroleptika ei- ne Rolle bei der Entstehung von TD spielen, ohne daß damit ihre kausale Bedeutung bewiesen wäre. Eine sol- che Schlußfolgerung wäre nur mög- lich, wenn Prävalenzraten in paralle- lisierten klinischen Stichproben mit und ohne Neuroleptika-Behandlung vorlägen, was nicht der Fall ist. Daß nach Einführung der Neuroleptika ein Anstieg der Prävalenzraten zu verzeichnen ist (25, 23), kann aller- dings ebenfalls — neben einer verbes- serten Diagnostik — als ein indirekter Hinweis auf die ätiopathogenetische Rolle der Neuroleptika gewertet werden.

Frühestes Auftreten ist bereits nach mehrwöchiger Neuroleptika- Behandlung beschrieben worden, in der Regel entwickeln sich TD erst nach mehrmonatiger beziehungswei- se mehrjähriger Therapie. Aus pro- spektiven Untersuchungen weiß man, daß die jährlichen Inzidenzra- ten von TD unter einer neurolepti- schen Behandlung bei etwa drei bis vier Prozent liegen (27).

Verlauf

Meßmethodische Probleme er- schweren die Verlaufsbeurteilung von TD (3, 2). Bei manifesten TD werden im Mittel etwas ein halbes Jahr nach Absetzen der Neurolepti- ka Besserungen um 50 Prozent ge- genüber dem Ausgangsbefund beob- achtet (14). Der Anteil gebesserter Patienten nach Absetzen wächst mit der Zeit und erreicht nach drei bis fünf Jahren etwa 60 Prozent (35).

Auch unter weitergeführter Behand- lung werden bei bis zu 50 Prozent der Patienten Besserungen oder zu- mindest Stabilisierungen beobachtet, vorzugsweise bei jüngeren Patienten sowie unter Niedrigdosierung (4).

Unter Berücksichtigung einer Ge- samtprävalenz für TD von 20 Pro- zent errechnet sich eine Punktpräva- lenz für persistierende TD von nur acht Prozent — bei einer Spontanprä- valenz von fünf Prozent kein sicherer Beleg für eine kausale Rolle der Neuroleptika (35). Wie die Studien zeigen, kann die Frage der Reversi- bilität erst nach ein- bis mehrjähriger Verlaufsbeobachtung verläßlich be- antwortet werden.

A1-1042 (54) Dt. Ärztebl. 90, Heft 14, 9. April 1993

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Risikofaktoren

Alter ist einer der wesentlichen Risikofaktoren: höheres Alter — über 50 Jahre, insbesondere bei schizo- phrenen Kranken (50) — erhöht das Risiko für das Auftreten schwerer und persistierender Formen von TD (25, 26). Weibliches Geschlecht stellt einen weiteren relativ gesicherten Risikofaktor dar. Bezüglich der Art und Applikationsform des Neurolep- tikums bestehen keine eindeutigen Erkenntnisse; dies gilt insbesondere hinsichtlich hochpotenter und in De- potform verabreichter Neuroleptika.

Nach Clozapin sind bisher keine, nach Thioridazin vergleichsweise sel- tener TD beobachtet worden. Einige Studien konnten einen Zusammen- hang zwischen kumulativer Dosis be- ziehungsweise Behandlungsdauer und TD-Risiko aufzeigen. Weitere potentielle Risikofaktoren sind hirn- organische Vorschädigung, Auftre- ten früher extrapyramidalmotori- scher Nebenwirkungen (Parkinsono- id), längere Einnahme anticholin- erger Substanzen, intermittierende Neuroleptika-Behandlung sowie af- fektive oder schizoaffektive Erkran- kungen (26). Möglicherweise weisen aber Patienten mit affektiven Er- krankungen eine bessere Remissions- tendenz nach Absetzen der Neuro- leptika auf (16).

Prädiktoren

Die vorgenannten Risikofakto- ren erlauben nicht, im Einzelfall das Auftreten von TD mit ausreichender Sicherheit zu prädizieren, da Sensiti- vität und Spezifität der jeweiligen Prädiktormerkmale nicht genügend hoch sind. Sie sollten aber — insbe- sondere bei einer Häufung derarti- ger Faktoren — zu einer erhöhten Wachsamkeit, besserer Risiko/Nut- zen-Abwägung und gegebenenfalls zur Wahl alternativer Behandlungs- strategien beitragen. Die Verlaufs- prognose ist offensichtlich am gün- stigsten, wenn bereits beim ersten Auftreten von Anzeichen Therapie- maßnahmen ergriffen werden. Dies unterstreicht die Bedeutung der Frühdiagnose. Einige Befunde wei- sen darauf hin, daß möglicherweise das Auftreten eines Parkinson-Syn- droms unter Neuroleptika-Behand-

lung das spätere Auftreten von TD prädiziert (9). Es ist aber ungeklärt, ob hierbei der oft praktizierte Ein- satz von Anticholinergika eine kom- plizierende Rolle spielt.

Ätiopathogenese

Die Pathophysiologie von TD ist bisher nicht ausreichend geklärt;

dies liegt nicht zuletzt an der Hetero- genität des Syndroms. Da TD häufig erst nach dem Absetzen von Neuro- leptika manifest werden und ande- rerseits durch antidopaminerge Sub- stanzen unterdrückbar sind, wurde zunächst die Hypothese einer Hyper- sensitivität der Dopaminrezeptoren aufgestellt. Danach kommt es durch die Rezeptorblockade zu einer Ver- mehrung nigro-striataler postsynap- tischer Dopaminrezeptoren, konse- kutiver cholinerger Hypofunktion — die eine Demaskierung oder Ver- schlechterung durch Anticholinergi- ka erklären würde — und adaptiven Veränderungen in anderen Trans- mittersystemen. Diese Hypothese ei- ner Imbalance des dopaminergen und cholinergen Transmittersystems hat allerdings keine durchgehende Bestätigung gefunden. Vielmehr wird heute aufgrund klinischer und tierexperimenteller Befunde von ei- ner pathogenetisch relevanten Imba- lance verschiedener Transmitter-Sy- steme (zum Beispiel DA, ACh, 5-HT, NA, GABA) ausgegangen (10, 13, 43, 4, 15, 33, 39). Möglicherweise löst die neuroleptische Behandlung vor allem bei (genetisch oder durch zerebrale Vorschädigung) zu Bewe- gungsstörungen disponierten Indivi- duen tardive Dyskinesien aus (1, 35).

Histopathologische und morphome- trische Untersuchungen bei Patien- ten mit TD führten bisher allerdings zu uneinheitlichen Befunden (19, 20, 42, 8).

Therapie

Prophylaxe

Die Entscheidung zur neurolep- tischen Langzeitmedikation muß nach den klinischen Umständen des Einzelfalles getroffen werden. Bei gegebener Indikation kommt einem

regelmäßigen, gut dokumentierten klinischen Monitoring entscheiden- de Bedeutung zu — dies gilt insbeson- dere bei gleichzeitigem Vorliegen von Risikofaktoren (29). Der Früh- erkennung dient vor allem die regel- mäßige Untersuchung auf periorale Unruhe und Wälzbewegungen der Zunge. Frequentes Lidblinken — In- dikator einer dopaminergen Hyper- aktivität — ist ebenfalls als Frühzei- chen beschrieben worden (12). Die Verordnung der Neuroleptika in möglichst niedriger Dosierung, die eben noch zur Rezidivprophylaxe oder Symptomsuppression ausreicht, ist zu empfehlen, die langfristige Ga- be von Anticholinergika zu vermei- den. Leider haben sich die Hoffnun- gen auf eine ausreichende rezidiv- prophylaktische Wirksamkeit einer neuroleptischen Intervallbehandlung nicht erfüllt (38). Darüber hinaus ist eine intermittierende Behandlung offensichtlich auch nicht mit einem geringeren, sondern mit einem gleich hohen (6, 38) oder sogar höheren Ri- siko von TD verknüpft (21, 17).

Kurative Behandlung

In Anbetracht der bisher noch ungeklärten Pathophysiologie sowie aufgrund der häufigen Reversibilität selbst unter fortgeführter Behand- lung empfiehlt sich beim Auftreten von TD zunächst in der Regel eine abwartende therapeutische Haltung ohne pharmakologische Intervention (4). Dosisreduktion und/oder Um- stellung auf ein anderes Neurolepti- kum (zum Beispiel Clozapin) sind — insbesondere bei leichteren Formen

— Maßnahmen der Wahl. In Fällen persistierender TD wurde in 43 Pro- zent — insbesondere bei dystonen Bil- dern — eine Besserung unter langfri- stiger Clozapinbehandlung beobach- tet (34). In Fällen schwerer und per- sistierender TD mit Komplikationen ist unter Umständen sogar eine Dosis- erhöhung oder der Einsatz hochpo- tenter Neuroleptika beziehungswei- se anderer antidopaminerger Sub- stanzen (Tiaprid) nicht zu vermei- den. Anticholinergika sind — von Ausnahmen wie beim Pisa- und Rab- bit-Syndrom abgesehen — wirkungs- los oder wirken eher verschlech- ternd. Dopaminagonisten (L-Dopa, Dt. Ärztebl. 90, Heft 14, 9. April 1993 (57) A1-1045

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Bromocriptin, Amantadin) und Cho- linergika (Deanol, Lecithin) zeigen insgesamt keine überzeugenden Ef- fekte. Gabaerge Substanzen (Baclo- fen, Valproinsäure, Benzodiazepine) sind möglicherweise besonders bei jüngeren Patienten mit remittieren-

den Verlaufsformen hilfreich (45).

Unter Einsatz verschiedener anderer Medikamente mit unterschiedlich- sten Wirkmechanismen (zum Bei- spiel Vitamin E) sind überzeugende Erfolge bisher ausgeblieben oder aus methodischen Gründen keine siche- ren Effizienzaussagen zu erreichen (23, 46, 4). Im Einzelfall kann unter Umständen der Versuch einer phar- makologischen Charakterisierung des Syndroms weiterhelfen: Bei Ver- schlechterung unter einer Testdosis von Anticholinergika probatorische Gabe von Cholinergika, bei Besse- rung unter Apomorphin Behand- lungsversuch mit Dopaminagonisten (32).

Risiko/Nutzen-Abwägung Bereits im Vorfeld der Behand- lung sowie erst recht bei unter lau- fender Behandlung auftretenden TD ist eine Abwägung zwischen dem Ri- siko und den Konsequenzen einer psychotischen Exazerbation ohne Behandlung, dem voraussichtlichen Nutzen einer prophylaktischen Me- dikation sowie dem Risiko des Auf- tretens oder der Persistenz von TD erforderlich. Diese Gratwanderung erfordert eine gestufte diagnostische und therapeutische Vorgehensweise, wie sie etwa im Task Force Report der American Psychiatric Associa- tion (44) vorgeschlagen wurde. Bei gegebener Indikation zur neurolepti- schen Langzeitmedikation wird man diese wegen des potentiellen TD-Ri- sikos keinem Patienten vorenthalten.

Kommt es unter einer lege artis durchgeführten Behandlung dann doch zum Auftreten von TD, wird man — falls nicht schon geschehen — einen Dosisreduktionsversuch ma- chen oder zum Beispiel auf Clozapin umstellen, bevor man einen Absetz- versuch unter engmaschiger Befund- kontrolle unternimmt. Bleibt der Pa- tient rezidivfrei, richtet sich das wei- tere Vorgehen nach dem Verhalten der TD. Gehen diese zurück, erge-

ben sich keine weiteren Maßnah- men. Persistieren sie auch nach län- gerer Beobachtung, wird man einen der kurativen Behandlungsversuche unternehmen. Kommt es dagegen zum Psychoserezidiv, muß man unter besonderer Vorsicht erneut neuro- leptisch behandeln und gegebenen- falls zusätzlich kurative Maßnahmen ergreifen.

Aufklärung

Eine Aufklärung über das Risi- ko von TD wird in der Regel am Übergang von Akut- zu Langzeitbe- handlung erforderlich. Wie Umfra- gen in psychiatrischen Institutionen zeigen, wird die Aufklärung sehr un- terschiedlich gehandhabt (18). Es besteht Verunsicherung darüber, die ethische und juristische Forderung nach Aufklärung mit der befürchte- ten Folge einer aufklärungsbeding- ten Ablehnung einer indizierten Langzeitbehandlung in Einklang zu bringen. Dieses Dilemma ist künftig nur durch Verbesserung der empiri- schen Grundlagen zur Risiko/Nut- zen-Abwägung und des Ausbildungs- standes zur Aufklärung zu beheben.

Schlußfolgerungen

Tardive Dyskinesien unter Neu- roleptikabehandlung stellen eine mittlerweise recht gut erforschte, in ihren pathophysiologischen Grund- lagen und therapeutischen Möglich- keiten aber noch unbefriedigend ge- klärte Nebenwirkung dar. Strenge Indikationsstellung zur Neurolepti- kabehandlung (insbesondere bei nicht psychotisch Erkrankten), Nied- rigdosierung und Einsatz eher mit- telpotenter oder atypischer Neuro- leptika (Clozapin), regelmäßige Be- fundkontrolle und adäquate Aufklä- rung stellen prophylaktische Maß- nahmen dar, die das Auftretensrisi- ko gering halten und Frühsymptome rechtzeitig erkennen lassen. Treten dennoch Bewegungsstörungen auf, hängt die Entscheidung zu weiteren Maßnahmen wesentlich von einer Nutzen-Risiko-Analyse ab, in der vor allem das Risiko eines Psychoserezi- divs bei Dosisreduktion oder Abset- zen der Neuroleptika abgeschätzt

werden muß. An kurativen Möglich- keiten stehen — bei relativ niedriger spontaner Persistenz selbst unter weitergeführter Behandlung — vor al- lem Anderungen der neurolepti- schen Behandlungsstrategie im Vor- dergrund (Dosisreduktion, -erhö- hung, Absetzen, Umstellen). Der Einsatz anderer pharmakologischer Strategien hat bisher allenfalls expe- rimentelle Bedeutung und sollte da- her erst nach Erfolglosigkeit der vor- genannten Maßnahmen zum Zuge kommen.

Dt. Ärztebl. 90 (1993) A 1 -1041-1046 [Heft 14]

Die Zahlen in Klammem beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck, anzufordern über den Verfasser.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Wolfgang Gaebel Psychiatrische Klinik der

Universität Düsseldorf Rheinische Landes- und Hochschulklinik

Bergische Landstraße 2 W-4000 Düsseldorf 12 A1-1046 (58) Dt. Ärztebl. 90, Heft 14, 9. April 1993

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