POLITIK LEITARTIKEL
Skandal um HIV-verseuchte Blutprodukte
Die Lawine rollt weiter
Als die ersten Vorwürfe gegen das Bundesgesundheitsamt (BGA) laut wurden, hieß es im Deutschen Ärzteblatt: „Die Lawine rollt". Der inzwischen suspendierte Leiter des Instituts für Arzneimittel im BGA, Prof. Albrecht Hildebrandt, hatte Anfang Oktober bei einer Konferenz mit Gesundheitsminister Horst See- hofer (CSU) angeblich erstmals eine Liste vorgelegt, die 373 Meldungen über Verdachtsfälle einer HIV-In- fektion durch Blut und Blutprodukte enthielt. Oberste Beamte im BGA und im Bundesgesundheitsministeri- um (BMG) einschließlich des Mini- sters selbst wollen vorher von nichts gewußt haben (vgl. Heft 41).
Inzwischen weiß man mehr:
Nach Angaben von Seehofer vor dem Gesundheitsausschuß des Bundesta- ges stammen 360 der Fälle aus der Zeit vor 1985, als Blutpräparate noch nicht auf vorhandene HI-Viren un- tersucht werden konnten. Klar ist aber auch, daß es in den Jahren da- nach Fälle gab, in denen Blut und Blutprodukte nicht so gewonnen und aufbereitet wurden, wie es erforder- lich gewesen wäre (vgl. Heft 42). Erst in der vergangenen Woche ließ die Staatsanwaltschaft in Rheinland- Pfalz Produkte und Unterlagen bei der Firma UB Plasma in Koblenz be- schlagnahmen, weil der Verdacht be- steht, daß gefrorenes Frischplasma nicht ausreichend auf HI-Viren hin getestet worden sei.
Die Lawine rollte und rollt im- mer noch — und einer sorgt für zu- sätzlichen Schub: Gesundheitsmini- ster Seehofer. Zunächst entließ er mehrere hochrangige Mitarbeiter im Bundesgesundheitsamt und einen ei- genen Abteilungsleiter. Dann schlug er vor, das BGA als einheitliche Be- hörde ganz aufzulösen und die ein- zelnen, dann selbständigen Institute unmittelbar dem Ministerium zu un- terstellen. Fragen nach den angeb- lich zahllosen Nebentätigkeiten dor- tiger Mitarbeiter für die Industrie sol- len ebenfalls schnell geklärt werden.
Doch Seehofer plant mehr: Vor- aussichtlich Ende des Jahres soll ein Quarantäneverfahren eingeführt werden, das heißt: Eine Blutspende würde so lange zurückgehalten, bis der Spender durch einen zweiten AIDS-Test nach mehreren Monaten immer noch als „HIV-negativ" ausge- wiesen ist. Zudem soll ein Hilfsfonds für an AIDS erkrankte Hämophile gegründet werden. Gespräche über eine ärztliche Meldepflicht für uner- wünschte Arzneimittelwirkungen will Seehofer ebenso führen wie solche über eine Meldepflicht für AIDS.
Doch die Begeisterung ob all der Aktivitäten beginnt zu schwinden.
Noch immer ist der Vorwurf nicht stichhaltig ausgeräumt, Seehofer ha- be durchaus Kenntnisse über die Hintergründe des Skandals gehabt (vgl. Heft 38/1992). Immer mehr Be- obachter gelangen zu der Auffas- sung, daß es dem Minister neben al- lem Gut- und Ernstgemeinten eben auch darum geht, sich selbst und sein Ministerium aus dem Zentrum der Vorwürfe zu bringen — und daß manche Aktion inzwischen etwas vorschnell gerate. So wurde Ende Oktober ein weiterer BGA-Mitarbei- ter entlassen, weil er angeblich auf Informationen über eine HIV-ver- seuchte Charge des Mittels PPSB der Firma Biotest aus Dreieich nicht an- gemessen reagiert habe. Die hessi- schen Behörden weisen, ebenso wie das Paul-Ehrlich-Institut des BGA, darauf hin, daß die Firma ihnen ei- nen entsprechenden Bericht umge- hend zugesandt habe.
Nebenprodukte
Noch ist nicht klar, was aus all dem erwachsen wird. Die „Frankfur- ter Rundschau" wies beispielsweise darauf hin, daß „die vor allem in der Union immer lauter werdenden Rufe nach einer Meldepflicht für AIDS- Kranke ... die böse Ahnung wecken, daß ein willkommenes Nebenpro-
dukt der Seehoferschen Parforceritte der Einstieg in eine andere AIDS- Politik sein könnte".
Inzwischen hat sich auch der Bundestag mit dem Thema befaßt.
Am 28. Oktober debattierte er die Einsetzung eines Untersuchungsaus- schusses, um möglichst rasch die Hintergründe und Zusammenhänge der HIV-Infektionsgefährdung durch Blut und Blutprodukte aufzuklären.
Die ursprünglich von der SPD vorge- schlagene unabhängige Experten- kommission wurde vom gesundheits- politischen Sprecher der CDU/CSU- Bundestagsfraktion, Dr. jur. Paul Hoffacker, jedoch als „untaugliches Mittel zum richtigen Zweck" abge- lehnt. Ein solches Gremium könne weder die Vernehmung von Zeugen noch die Heranziehung sonstiger Be- weismittel erzwingen.
Dagegen begegneten die SPD- Gesundheitspolitiker dem Untersu- chungsausschuß vor allem deshalb
„mit Mißtrauen", weil ein solches Gremium auch immer unter dem Druck der eigenen Fraktionen stehe.
Die Mehrheit bestimme maßgeblich den Ablauf des Verfahrens. Nach Meinung des gesundheitpolitischen Experten der SPD-Fraktion, Klaus Kirschner, mache schon die Beset- zung des Gremiums mit drei Vertre- tern von CDU/CSU, einem von der FDP und zwei von der SPD deutlich,
„welche Winkelzüge" möglicherwei- se geplant seien. Da für die SPD ab- sehbar war, daß ihr Antrag keine Mehrheit finden würde, brachte sie einen weiteren auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ein. Dort wäre ein zusätzlicher Schwerpunkt die Untersuchung eines eventuellen Fehlverhaltens der Bundesregierung.
Um die Einsetzung zweier Aus- schüsse zu vermeiden, beschloß der Bundestag nunmehr, beide Anträge an den Gesundheitsausschuß des Bundestages zu überweisen. Dort soll ein gemeinsam getragener Antrag formuliert werden.
Sabine Dauth/Harald Clade Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 44, 5. November 1993 (17) A,-2897