DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Revolution
Humaninsulin?
Der Weg
Nach Einführung des Insulins als lebensret- tendes Therapeutikum des Diabetes mellitus im Jahre 1922 dient dieses Hormon 60 Jahre später erneut als Vorreiter moderner Pharmatechnolo- gie. Die industrielle Herstellung des für den Menschen „besten" Insulins, des Humaninsu- lins, war auf zwei verschiedenen Wegen gelun- gen:
Der Weg des semisynthetischen Humanin- sulins führte auf der Grundlage des Schweine- insulins über einen Austausch der Aminosäure Alanin gegen Threonin in Position B30 des Insu- linmoleküls zum Ziel.
Der Weg eines biosynthetischen Humanin- sulins wurde durch Erkenntnisse der Gentech- nologie geebnet: K-12-Colibakterien produzier- ten getrennt humananaloge A- und B-Ketten, deren anschließende Verbindung über Disulfid- brücken zum gewünschten Humaninsulin führ- ten. Eine weitere Möglichkeit, über die Biosyn- these humanen Proinsulins mit anschließender Abspaltung des C-Peptids zum Humaninsulin zu gelangen, wird derzeit erprobt. Die gentechno- logische Herstellung von Humaninsulin befreit von der Sorge, die Insulinherstellung könne durch knappes Schlachtviehangebot in Zukunft die Insulinnachfrage nicht mehr befriedigen.
Welche Erwartungen kann Humaninsulin erfül- len?
Vom globalen
zum individuellen Aspekt
Vor- und Nachteile von Humaninsulin müs- sen an hochgereinigtem Schweineinsulin gemes- sen werden. Das hydrophilere Humaninsulin zeigt eine initial schnellere subkutane Resorp- tionsphase, jedoch auch eine häufig kürzere Wirkdauer. Die Wirkungskinetik wird primär durch Depotstoffe wie Protamin oder Zink fest- gesetzt. Eine Einsparung von Insulin nach Um- stellung von Rinder- oder Schweineinsulin auf Humaninsulin kann nur in Einzelfällen erwartet werden, zum Beispiel bei deutlich erhöhter An- tikörperbildung gegen tierische Insuline. In die- sem Falle wäre die geringer ausgeprägte Hyper- insulinämie — als Risikofaktor für die Makroan- giopathie — von Vorteil. Insgesamt kann aber mit einer generellen Verbesserung der diabeti- schen Stoffwechsellage durch den Einsatz von Humaninsulin per se nicht gerechnet werden.
Aufmerksamkeit muß der Veränderung subjektiver Hypoglykämiesymptome geschenkt werden. Die Patienten sollten Kenntnis erhal- ten, daß Hypoglykämien weniger stark ausge- prägt, vielmehr schleichend mit inadäquaten Reaktionen verlaufen können. Objektiv läuft die hormonelle Gegensteuerung offenbar durch eine geringere Adrenalin- und Glukagonaus- schüttung weniger effektiv ab.
Immunologische Probleme
Die Hoffnung auf eine völlig fehlende Im- munantwort auf subkutan injiziertes Humanin- sulin konnte nicht erfüllt werden. Auch unter Humaninsulin sind Insulinantikörper nachweis- bar. Während Rinderinsulin deutlich hohe Anti- körperspiegel induziert, unterscheiden sich An- tikörperspiegel von hochgereinigtem Schweine- und Humaninsulin nur geringfügig auf niedrige- rem Niveau zugunsten von Humaninsulin.
Als lokaler Insulineffekt läßt sich die auch unter Humaninsulin auftretende Lipohypertro- phie an den Injektionsstellen verstehen. Das Ausbleiben der oft kosmetisch störenden Lipo- atrophie als Zeichen einer allergischen Spätre- aktion wurde unter Humaninsulin zwar zunächst angenommen, ihr Auftreten konnte jedoch in- zwischen ebenfalls, wenn auch nur ganz verein- zelt, beobachtet werden.
Hingegen läßt sich eine deutliche Besserung von allergischen Reaktionen auf Schweine- oder
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Rinderinsulin nach Umstellung auf Humaninsu- lin beobachten. Hier dürfte ein überzeugender Vorteil von Humaninsulin gegenüber herkömm- lichen Insulinen vorliegen. Im Falle einer not- wendig werdenden intermittierenden Insulin- therapie ist aus immunologischer Sicht die Be- handlung mit Humaninsulin zu bevorzugen, zum Beispiel operativer Phasen, Infektionen bei Typ-II-Diabetikern usw., da nach Therapiepau- sen durch die geringere Antigenität von Human- insulin eine Boosterung nach erneuter Insulinga- be vermieden werden kann.
Indikationen
Als Fazit einer neuen Insulingeneration bleiben die folgenden fest umrissenen Indika- tionsstellungen für Humaninsulin:
1
Die Ersteinstellung des Typ-I-Diabetes zur Minimalisierung der Antikörperbildung.2
Die intermittierende Insulingabe zur Verhin- derung eines Antikörper-Boostereffektes.3
Die Behandlung mit Humaninsulin nach all- ergischer Reaktion auf Insuline artfremder Spezies.Eine zwingende Notwendigkeit zur Neuein- stellung auf Humaninsulin bei bisher mit tie- rischen Insulinen gut eingestellten Diabetikern gibt es hingegen nicht.
Als ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zum „besten" Insulin darf der derzeit laufende Versuch angesehen werden, chemische Depot- stoffe durch die protrahierte Wirkung von hu- manem biosynthetischem Proinsulin in der Insu- linzubereitung zu ersetzen.
Dr. med. Norbert Lotz Professor Dr. med.
Hellmut Mehnert
III. Medizinische Abteilung des Krankenhauses
München-Schwabing und
Forschergruppe Diabetes e. V.
Kölner Platz 1 8000 München 40
A-206 (44) Dt. Ärztebl. 84, Heft 5, 28. Januar 1987
Als Ergänzung zu den Ausführungen der Auto- ren ist auf eine neue Be- handlungsform aufmerk- sam zu machen. Ogasaha- ra und Mitarbeiter (1986) haben kürzlich über die Effekte von Coenzym 010 (CoQ) bei fünf Kranken mit Kearns-Sayre-Syn- drom berichtet. Bei einer täglichen Dosis von 120 bis 150 mg CoQ besserten sich nach sieben bis 14 Mona- ten bei drei der fünf Pa- tienten die Augenbeweg- lichkeit und die Ptose. Bei einem Patienten mit schwerer Ataxie ergab sich eine Verbesserung der Sprache, der Schrift und des Ganges. Schon nach drei- bis viermonatiger Therapiedauer zeigte sich eine Erniedrigung der er- höhten Lactat- und Pyru- vatspiegel im Serum sowie des erhöhten Liquoreiwei- ßes bei allen fünf Patien- ten. Auch die EKG-Ver- änderungen (Reizleitungs- störungen und belastungs- induzierte ST-Senkung) sowie die Latenzen der so- matosensiblen Potentiale wurden bei einigen Kran- ken positiv beeinflußt.
Über positive Behand- lungseffekte mit täglich 120 mg CoQ bei zehn Kranken mit einem Kearns-Sayre-Syndrom berichteten Bresolin und Mitarbeiter (1986) in einer noch nicht abgeschlosse- nen Studie. Unerwünschte Nebeneffekte sind bisher nicht beobachtet worden.
Wir haben nach die- sen Mitteilungen von einer japanischen Firma CoQ, das der deutsche Arznei- mittelmarkt unseres Wis- sens für den Gebrauch beim Menschen nicht an- bietet, erhalten und bei ei- ner Patientin mit Kearns- Sayre-Syndrom ange- wandt. Die Effekte auf das psychoorganische Syn- drom, die Ophthalmople- gie , die motorische Lei- stungsfähigkeit und ver- schiedene Laborparame- ter waren so unerwartet gut, daß wir jetzt beab- sichtigen, das Präparat aus Italien, wo es im Handel ist, einzuführen und an ei- ner größeren Patienten- zahl zu prüfen.
Literatur
1. Bresolin, N. et al.: Coenzyme 10 treatment in 10 patients with Kearns-Sayre syndrome.
Muscle and Nerv 9, No. 5S/
Suppl. (1986) 269 — Abstr.
2. Ogasahara, S., et al.: Treat- ments of Kearns-Sayre syndro- me with coenzyme Q 10. Neu- rology 36 (1986) 108-111.
Professor Dr. med.
Felix Jerusalem
Dr. med. Stephan Zierz Neurologische
Universitätsklinik Bonn Sigmund-Freud-Straße 25 5300 Bonn 1
Die Autoren des Beitrages haben auf ein Schlußwort
verzichtet. ❑
Das Kearns-Sayre- Syndrom
Eine interdisziplinäre Herausforderung
Zu dem Beitrag von Professor Dr. med. Hermann Menger und Mitarbeitern in Heft 39/1986, Seiten 2606 bis 2613