POLITIK
Hessen-Modelle
Not macht erfinderisch. Die Ko- stendämpfungspolitik gepaart mit der sich seit Jahren bedrohlich entwik- kelnden Arztzahl, die Diskussion um die ärztliche, nunmehr auch fachärzt- liche Arbeitslosigkeit und die zuneh- mende Entwertung ärztlicher Ar- beitskraft mußte dazu führen, daß neue Wege alternativer ärztlicher Be- tätigung beschritten werden. Eines von verschiedenen, mittlerweile prak- tizierten und erfolgreichen Modellen wurde im Deutschen Ärzteblatt, Heft 11/1994 („Vom Modellversuch zum Regelfall") beschrieben und stellte zusätzliche Leistungen mit angemes- senem Honorar aus Sicht der Kassen- ärzte dar.
Vor dreieinhalb Jahren wurde die Idee dazu in Verhandlungen zwi- schen dem in Gründung befindlichen Medizinischen Dienst der Kranken- kassen (MDK Hessen) und der Lan- desärztekammer Hessen geboren.
Sie orientierte sich an den zwischen der Bundesärztekammer und dem Verband Deutscher Rentenversiche- rungsträger schon seit vielen Jahren getroffenen Vereinbarungen über die Vergütung ärztlicher Leistungen bei der medizinischen Begutachtung für die gesetzliche Rentenversiche- rung (Honorarvereinbarung). Ziel war es, Ärztinnen und Ärzten unab- hängig von der Statusfrage oder dem Beschäftigungsverhältnis im Zuge freiberuflicher ärztlicher Tätigkeit zusätzliche Aufgaben mit angemesse- ner Honorierung zu eröffnen.
Darüber hinaus sollte in be- triebswirtschaftlich sinnvoller und moderner Weise der Versuch unter- nommen werden, entsprechend qua- lifizierte Ärztinnen und Ärzte für ei- ne freiberufliche Tätigkeit zu gewin- nen, die sonst von anderen Fachkräf- ten oder auch Ärzten in einem neu aufzubauenden Verwaltungsapparat hätten erbracht werden müssen. Das Interesse an einer derartigen Tätig- keit ist groß. Die Bewerber werden
AKTUELL
vor ihrer Benennung dem MDK ge- genüber auf die erforderliche Quali- fikation hin überprüft. Für die Ver- tragsärzte übernimmt dies die Kas- senärztliche Vereinigung; für alle an- deren Ärztinnen und Ärzte ist die Landesärztekammer zuständig. Die- se Qualitätssicherungsmaßnahme wird ergänzt durch sozialmedizini- sche Fortbildungsmaßnahmen.
Problematisch verliefen die Ver- tragsverhandlungen bei der Gestal- tung des Gutachterhonorars. Die Ko- stendämpfungsmaßnahmen ließen seitens der Kostenträger die bisheri- ge Honorierungshöhe von 175 DM zuzüglich Wegegeld nicht mehr zu.
Gleichzeitig war bekannt geworden, daß eine Krankenkasse im Zuge ei- nes Pilotprojektes ein Billigeinkauf- modell versucht, nach dem diese 80 DM pro Gutachten ohne Prüfung von Qualitätserfordernissen zu zah- len bereit war.
Vertrag drohte zu scheitern
Der dreiseitige Vertrag drohte zu scheitern, als niedergelassenen Vertragsärzten ein um 30 DM höhe- res Honorar geboten werden sollte als Ärztinnen und Ärzten in einem anderen Berufsstatus bei gleicher Qualifikation und gleicher Leistung.
Der Kompromißfähigkeit der Ver- handlungspartner war es zuzuschrei- ben, daß es nicht zu einer gespalte- nen Vertragssituation gekommen ist:
nämlich zweiseitige Verträge zwi- schen dem MDK und der Kassen- ärztlichen Vereinigung Hessen einer- seits und dem MDK und der Landes- ärztekammer Hessen andererseits.
Dann hätten Vertragsärzte 150 DM für das Gutachten einschließlich ei- nes Zuschlages für Praxisvorhalteko- sten erhalten, „Nicht-Vertragsärz- ten" wären bei gleicher Begutach- tungsleistung 120 DM ohne diese 30
DM Zuschlag gezahlt worden. Die Konsensbildung, die dann doch noch den dreiseitigen Vertrag im Sinne ei- nes Kompromisses zustande kommen ließ, ist nicht zu unterschätzen. Ein- mal mehr konnte erreicht werden, daß unter dem Eindruck bedrücken- der Kostendämpfungsmaßnahmen ärztliche Körperschaften die Ge- meinsamkeit gewahrt haben und ei- nen innovativen Weg für die Bewälti- gung und Honorierung zusätzlicher ärztlicher Aufgaben gefunden haben.
Nach dem nun endlich verabschiede- ten Pflegeversicherungsgesetz wird eine große Anzahl von Gutachten zur Beurteilung der Schwerpflegebedürf- tigkeit auf die Ärzteschaft zukom- men.
Dieses Leistungsangebot und Honorierungsvolumen findet Paral- lelen in einem anderen Bereich, in dem gleichfalls freiberufliche ärztli- che Tätigkeit zum Wohle der Versi- cherten unter Qualitätsgesichtspunk- ten möglich ist: Die Betreuung von Arbeitnehmern in Klein- und Mittel- betrieben unter den neuen EG-recht- lichen Bestimmungen, nach denen die Neufassung der Unfallverhü- tungsvorschrift „Betriebsärzte" VBG 123 beziehungsweise „Sicherheits- technik" VBG 122 erfolgte.
Mit einem weiteren hessischen Modell wurde erreicht, daß freibe- ruflich tätige Arbeitsmediziner (auch niedergelassene Vertragsärzte) Ver- träge mit Arbeitgebern zur arbeits- medizinischen Betreuung von Ar- beitnehmern abschließen. Auch hier werden qualifizierte Ärztinnen und Ärzte von der Kammer listenmäßig erfaßt und interessierten Unterneh- men gegenüber benannt, damit diese Verträge mit freiberuflichen Arbeits- medizinern abschließen können und nicht gezwungen sind, Verträge al- lein mit den berufsgenossenschaftli- chen arbeitsmedizinischen Diensten abzuschließen. Auch hier handelt es sich um eine moderne, betriebswirt- schaftlich sinnvolle Nutzung ärztli- chen Sachverstandes, manchmal auch brachliegender ärztlicher Kom- petenz. Ein weiterer Vorteil bei die- sen Modellversuchen ist auch in der fachlichen Unabhängigkeit bei not- wendiger Qualität ärztlicher Berufs- ausübung zu sehen.
Dr. med. Michael F. R. Popovid
Auf neuen Wegen zu
neuen Tätigkeitsfeldern
A-1102 (22) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 16, 22. April 1994