Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 105⏐⏐Heft 25⏐⏐20. Juni 2008 A1357
S E I T E E I N S
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ie Nachricht ist so beunruhigend wie verwirrend:Die Arbeitsminister der 27 EU-Staaten haben sich auf eine Neufassung der EU-Arbeitszeitrichtlinie geeinigt. Danach soll die wöchentliche Höchstarbeits- zeit auf 48 Stunden je Woche begrenzt werden. Kommen Bereitschaftsdienste hinzu, kann die wöchentliche Höchstarbeitszeit tarifvertraglich auf bis zu 65 Stunden verlängert werden. Vorgesehen ist insbesondere, die ärztlichen Bereitschaftsdienste im Krankenhaus in „akti- ve“ und „inaktive“ Phasen zu unterteilen, wobei die „in- aktiven“ Zeiten nicht mehr auf die Höchstarbeitszeit an- gerechnet werden. Das Europäische Parlament muss ei- ner solchen Neufassung der Richtlinie noch zustimmen.
Soweit die Fakten. Doch was folgt daraus für die Ar- beitszeiten der Ärztinnen und Ärzte in den deutschen Krankenhäusern? Rechtlich gesehen: nichts.
Denn die Richtlinie zur Arbeitszeit setzt lediglich Mindeststandards für die Arbeitszeitgestaltung in allen EU-Mitgliedstaaten. Viele Mitgliedstaaten werden durch die Änderungen erst in die Lage versetzt, auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum Bereitschaftsdienst zu reagieren. Dieser hatte die derzeitige Fassung der Arbeitszeitrichtlinie da- hingehend ausgelegt, dass der Bereitschaftsdienst im Krankenhaus in vollem Umfang als Arbeitszeit zu wer- ten ist. Dem widerspricht aber die Arbeitszeitgesetzge- bung der meisten europäischen Länder.
In Deutschland hingegen ist die Rechtsprechung des EuGH bereits in nationales Recht umgesetzt. Seit dem 1. Januar 2007 ist das novellierte Arbeitszeitgesetz aus- nahmslos in Kraft, und die wöchentliche Arbeitszeit darf durchschnittlich 48 Stunden nicht mehr überschrei- ten. Bereitschaftsdienst gilt dabei in vollem Umfang als Arbeitszeit. Sofern die Arbeitszeit Bereitschaftsdienst beinhaltet, besteht die Möglichkeit einer Verlängerung der wöchentlichen Arbeitszeit über 48 Stunden hinaus.
Voraussetzung ist aber, dass dies in einem Tarifvertrag zugelassen wird und der Arzt dem zustimmt („opt out“).
Um es klar zu sagen: Es gibt keinen Zwang, das deut- sche Arbeitszeitgesetz zu ändern. Auch mit der neuen Ar- beitszeitrichtlinie kann es dabei bleiben, dass in Deutsch- land Bereitschaftsdienst zu 100 Prozent als Arbeitszeit gilt, und zwar in „aktiven“ und in „inaktiven“ Phasen.
Alles andere wäre auch schlimm für die Klinikärzte – verschlechterte sich doch die bislang so gute Ausgangs- position des Marburger Bundes in den Tarifverhandlun- gen mit den Krankenhäusern. Denn unter den jetzigen Rahmenbedingungen sind die Arbeitgeber darauf ange- wiesen, einen Tarifvertrag mit der Klinikärztegewerk- schaft zu schließen. Ansonsten gilt das Arbeitszeitge- setz „pur“, einschließlich 48 Stunden wöchentlicher Höchstarbeitszeit. Nur ein entsprechender Tarifab- schluss ermöglicht den Krankenhausträgern die not- wendige Flexibilität bei den ärztlichen Arbeitszeiten.
Aktuell gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Bun- desregierung eine Änderung des deutschen Arbeitszeit- gesetzes in Erwägung zieht. Im Gegenteil: In einem Brief an die Bundesärztekammer und den Marburger Bund stellt Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) klar, dass es sein Ziel sei, „die bestehenden, bewährten deutschen Regelungen weitestgehend beizubehalten“.
Man wird ihn beizeiten an dieses Versprechen erinnern.
Nichtsdestotrotz dürfte die geplante Neufassung der EU-Arbeitszeitrichtlinie in einigen Krankenhäusern für Ärger sorgen. Schließlich ist absehbar, dass so mancher Arbeitgeber versuchen wird, mit Verweis auf die eu- ropäischen Vorgaben „inaktive“ Bereitschaftsdienstzei- ten einzuführen. Den betroffenen Ärzten bleibt dann kaum eine andere Wahl, als „aktiv“ Widerstand zu leis- ten und sich notfalls auch vor Gericht gegen eine solche Beugung des Arbeitsrechts zur Wehr zu setzen.
Jens Flintrop Redakteur für Gesundheits- und Sozialpolitik
ARBEITSZEITEN IM KRANKENHAUS
„Aktiv“ Widerstand leisten
Jens Flintrop