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Archiv "Prävention als Risiko? Chancen und Grenzen der modernen Epidemiologie als Grundlage für gesundheitspolitische Maßnahmen" (26.09.1997)

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D

ie Ärzte sollen nicht nur Auf- gaben von Gesundheitserzie- hern, sondern möglicherwei- se auch von Gesundheitspoli- zisten erfüllen: Anmutungen, die dann zur Zumutung werden, wenn sie entweder dem ärztlichen Auftrag wi- dersprechen oder aber dazu notwen- dige Grundlagen fehlen. Eine Verkür- zung gesundheitspolitischer Maßnah- men auf Verminderung sogenannter Risikofaktoren wird nicht genügen, weil ein ungemein vielfältiges Sozial- verhalten der Menschen im Spiel ist.

Die heutige Epidemiologie genügt nicht als Grundlage für präventives Handeln. Der Arzt hat Anspruch auf eine umfassende, handlungsorientie- rende Epidemiologie.

Moderne Epidemiologie gewinnt zweifellos an Bedeutung, es wachsen aber auch ihre Schwierigkeiten: Die Befunde, die sie zu erbringen hat, er- weisen sich als komplexer als je zuvor – hier nur der Hinweis auf die soge- nannten Zivilisationskrankheiten.

Epidemiologen sehen sich zudem ei- nem steigenden Druck unterschied- licher, zuweilen sogar gegensätzlicher Interessen ausgesetzt.

Es wäre interessant, die jüngste Geschichte und die rasante Entwick- lung moderner Epidemiologie nach- zuzeichnen: Einst vornehmlich mit der Erfassung bakterieller oder vira- ler Infektionen in der Bevölkerung befaßt, wird von ihr heute erwartet, daß sie das Ausmaß von „Volkskrank- heiten“ auslotet und als Grundlage für Maßnahmen im Bereich der öf- fentlichen Gesundheit dient. Ein wei- terer Anspruch sind internationale Vergleiche. Insbesondere auf Anre- gung der WHO werden vermehrt Po- pulationen erfaßt, die unterschied- lichen kulturellen und sozioökonomi- schen Bewegungen unterliegen (9).

Medizinstatistik oder Anamnese der Gesellschaft?

Der Zwang zu vergleichen ver- wischt jedoch kulturell geprägte Ver- haltensweisen. Durchschnittszahlen als Zielprojektionen gesundheitspoli-

tischer Maßnahmen sind abgehoben vom ärztlichen Alltag. Hinter moder- ner Epidemiologie liegt ein weiter Weg seit der ursprünglichen „Medi- zinalstatistik“. Sie erhebt schließlich selbst den Anspruch, nicht nur die Verteilung von Krankheiten in der Bevölkerung zu beschreiben, son- dern auch deren Ursachen zu erfor- schen.

Die Ursachenforschung weckt weitere Erwartungen: Über den wis- senschaftlichen Entdeckungsdrang hinaus ergibt sich für die Epidemiolo- gie die Forderung, Wesentliches zur Vermeidung von Krankheiten und da- mit zur Minderung von Leid und Kosten beizutragen. In diesem Sinne ist die zuweilen überhandnehmende Ausrichtung auf die Erfassung von Risikofaktoren zu sehen. Sind diese einmal isoliert, werden sie direkt in Maßnahmen umgesetzt, die zu deren weitgehender Vermeidung führen sol- len. Es sei an dieser Stelle lediglich angedeutet, daß unter dem Begriff Risikofaktor der Anschein erweckt wird, als handle es sich um eindeutig

gesicherte, wenn nicht gar kausale Zusammenhänge zwischen Feststel- lung von Risikofaktoren und Auftre- ten von Krankheiten (8).

Angemessener wäre, einem lei- der seit langem mißachteten Vor- schlag Hans Schaefers zu folgen, von Risikoindikatoren zu sprechen, als dem spezifischen Zusammenspiel verschiedener Bedingungen, die zur Krankheit führen können. In der mo- dernen Epidemiologie werden Risi- kofaktoren mit Wahrscheinlichkeits- rechnungen konstruiert. Es handelt sich nicht um reale Messungen, son- dern um mathematische Schätzwerte.

Das Risikofaktorenkonzept ist über- dies weitgehend einem Kausaldenken des 19. Jahrhunderts verhaftet. Es mißachtet das soziale Umfeld der Krankheit und der Kranken (2).

Die Zusammenhänge von gesell- schaftlichen Bedingungen und As- pekten moderner Epidemiologie sind unübersehbar. Dies bedeutet, daß so- zialwissenschaftliche Analysen beim Entstehen epidemiologischer Daten nicht nur Symptome und Einstellun- gen zur Gesundheit erfassen müssen, sondern auch das Sozialverhalten der Probanden (1). Wenn eine Epidemio- logie Grundlagen für wirksame Prä- vention erarbeiten soll, reichen übli- che Marktforschungsstrategien nicht aus. Wir wissen wenig über das soge- nannte Laiensystem. Dieses wird erst zögernd erforscht, beispielsweise an einem Projekt des Bayerischen For- schungsverbundes Public Health.

Frühere Untersuchungen der Medizi- nischen Hochschule Hannover haben vor Jahren ergeben, daß bis zu 50 Pro- zent der gesundheitlichen Störungen ohne Inanspruchnahme ärztlicher Dienstleistungen „behandelt“ wer- den. Mit oberflächlicher Demoskopie erfaßt man die verhaltensprägenden Wertvorstellungen der Individuen nicht. Sie sind nur durch qualitative, auf die jeweilige soziale Lage einzel- ner ausgerichtete Befragungen zu er- heben. Zur medizinischen gehört mit- hin die soziale Anamnese, das Um-

Prävention als Risiko?

Chancen und Grenzen der modernen Epidemiologie als Grundlage für gesundheitspolitische Maßnahmen

Peter Atteslander

Die Menschen leben länger, aber sie werden nicht gesünder. Die unbestritte- nen Erfolge der modernen Medizin wer- den zunehmend auch ihr Problem. Der rasante Erfolg von Wissenschaft und Me- dizintechnologie weckt gesellschaftliche Erwartungen, die vor allem den nieder- gelassenen Mediziner vor neue Anforde- rungen stellen. Nicht alles, was heute medizinisch möglich ist, kann allen Men- schen auch zugute kommen. Der An- stieg der Gesundheitskosten und die ge- rechte Verteilung medizinischer Leistun- gen sind zum Politikum geworden.

Prävention ist angesagt, aber welche?

Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fa- kultät, Universität Augsburg

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feld, in dem Krankheit stattfindet.

Viel wesentlicher als die üblichen Schichtungsmerkmale wird die Erfas- sung von Lebensstilen (11).

Risiko vermeiden – länger leben?

Vor einigen Jahren wurde be- rechnet, was geschähe, wenn morgen ein Medikament entwickelt würde,

das alle Krebsarten auf einen Schlag heilen könnte. Menschen über 65 Jah- re würden 1,4 Jahre älter, Menschen unter 35 ein halbes. Gesundheits- kosten würden nicht zurückgehen, im Gegenteil. Die Überalterung würde zunehmen, die Menschen würden an anderen, möglicherweise teureren Krankheiten sterben.

Gelegentlich wird versucht, ge- sundheitsförderndes Handeln beliebt zu machen mit dem Hinweis, daß ge- sunde Ernährung, insbesondere Ab- stinenz von Nikotin, das Leben des einzelnen um viele Monate, ja einige Jahre verlängern würde. Der Be- griff der „gewonnenen Lebensjahre“

schmückt nicht wenige offizielle Prä- ventionsprogramme. Wohlgemerkt, wir sprechen von den wohlhabenden Industrienationen. Wie müssen Men-

schen solche Präventionsprogramme empfinden, die in Gesellschaften le- ben, wo die durchschnittliche Leben- serwartung gegenüber uns Wohlha- benden um zehn oder mehr Jahre niedriger ist? Wenn es um Prävention geht, so ist daraus zu fol- gern, ist zunächst die Zielsetzung of- fenzulegen, und dies ist ohne Klärung

ethischer Fragen nicht möglich. Bei- des ist leider weitgehend ungeklärt und führt zu einem weitgehenden Versagen moderner Epidemiologie als Grundlegung für effektive Ge- sundheitspolitik und Prävention.

Neben den „verlorenen Lebens- jahren“ finden wir in epidemiologi- schen Untersuchungen ein weiteres Konstrukt, nämlich das „relative Risi- ko“. Es sagt aus, wie sehr sich ein Ri- siko erhöht oder veringert, wenn man beispielsweise bestimmte Dinge zu sich nimmt, also mit ihnen in Be- rührung kommt. Was hat die Öffent- lichkeit, was hat der niedergelassene Arzt von einer Inseratenkampagne, wie sie kürzlich von einem Zigaret- tenhersteller in Europa lanciert wur- de, zu halten, in der nachgewiesen wurde, daß das höchst kontrovers dis- kutierte sogenannte Passivrauchen, verglichen mit anderem Konsum, ei- gentlich unbedeutend sei? (Tabelle).

Propaganda oder ernstzunehmende Befunde? Es handelt sich um For- schungsergebnisse, die in höchst re- nommierten, wissenschaftlich über je- den Zweifel erhabenen Fachzeit- schriften nachgeprüft werden kön- nen.

Wenn in epidemiologischen Un- tersuchungen immer häufiger relative Risiken vorkommen, ist festzustellen, daß die Frage völlig offen bleibt, wel- che gesundheitsgefährdenden Folgen einzelne Risiken im Zusammenwir- ken mit anderen haben. Es gibt äußerst wenige schlüssige Untersu- chungen, in denen nicht nur ein relati- ves Risiko bezüglich einzelner Stoffe, sondern auch die unterschiedlichsten Kombinationen berechnet wurden.

Werden solche „unilinearen“ Listen absolut gesetzt, sind sie wahrschein- lich ein viel höheres Risiko als einzel- ne der Stoffe, weil beispielsweise das Vermeiden des einen oder anderen vermeintlichen oder tatsächlichen Ri- sikos beispielsweise zu höchst unaus- geglichener Ernährung führen kann, mithin selbst gesundheitsschädigende Wirkungen hat. Ein relatives Risiko an sich kann gar nicht gemessen wer- den, sondern ist immer Ausfluß stati- stischer Rechenoperationen.

Der einzelne erlebt Risiko kaum mehr durch eigene Wahrnehmung, sondern ist im Umgang mit Risiken auf Krücken wissenschaftlicher Mes-

T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE

Tabelle

Risiko von Ernährungsverhalten

Genußverhalten im Alltag Relative Risiken* Effekt für die Gesundheit 1. Ernährung mit hohem Anteil

an gesättigten Fettsäuren 6,14 Lungenkrebs

2. Nicht-vegetarisch im Vergleich

zu vegetarischer Ernährung 3,08 Herzkrankheit

3. Häufiges Kochen mit Rapsöl 2,80 Lungenkrebs

4. Trinken von 1–2 Gläsern

Vollmilch am Tag 1,62 Lungenkrebs

5. Verzehr von einem Keks

am Tag 1,49 Herzkrankheit

6. Trinken von gechlortem

Leitungswasser 1,38 Mastdarmkrebs

7. Häufiger Genuß von Pfeffer 1,30 Mortalität

8. „Passivrauchen“ 1,19 Lungenkrebs

9. Verzehr von viel Gemüse 0,97 Lungenkrebs

10. Verzehr von viel Obst 0,31 Lungenkrebs

* Das relative Risiko mißt, wie sehr sich ein Risiko erhöht oder verringert, wenn man bestimmte Dinge zu sich nimmt oder mit ihnen in Berührung kommt.

6. Am J Public Health, 1992; 82: 955 7. Am J Epidemiol, 1984; 119: 775

8. U.S. Environmental Protection Agency, 1992 9. Int J Epidemiol, 1996; 25, (Suppl. 1): 72 10. Am J Epidemiol, 1991; 133: 683 1. J National Cancer Institute, 1993; 85: 1905

2. Am J Clinical Nurition, 1978; 31: 9191 3. Int J Cancer, 1987; 40: 604

4. Int J Cancer, 1989; 43: 608 5. Lancet, 1993; 347: 551

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sungen angewiesen. Selbst was im La- bor noch den Kriterien der Kausalität entsprechen mag, ist in der weit kom- plexeren Lebenswelt, in der Men- schen Nahrung zu sich nehmen und Genußmittel konsumieren, höch- stens in Form von Korrelationen faß- bar. Inwiefern im einzelnen solche Korrelationen zwingend sind, das heißt statistisch signifikant, ist oft nicht mehr eine Frage des Wissens, sondern der Übereinkunft (Tabelle):

Dem amerikanischen Institut für Krebsforschung zufolge werden rela- tive Risiken unter 2,0 als geringfügig und gewöhnlich als schwer interpre- tierbar eingestuft. Vermeintlich wis- senschaftlich gesicherte Risiken sind deshalb eher eine Mischung statisti- scher Korrelationen mit Wahrneh- mungsplausibilitäten, als daß sie mit dem Gütesiegel der Kausalität zu adeln wären (11). Ist beispielsweise der gegenwärtige aufwendige Kampf gegen das Passivrauchen wissen- schaftlich haltbar?

Wenn selbst im Reich der Natur- wissenschaften mit so viel Ungewiß- heit gearbeitet werden muß, wieviel größer sind die Schwierigkeiten im sozialen Felde – und dies wäre das ebenso wesentliche Meßproblem des Erfassens menschlichen Sozialverhal- tens.

Prävention heißt Sozialverhalten verändern

Die Forderung, daß sozialwissen- schaftliche Erfahrungen, Kriterien und Methoden zentral zu epidemi- ologischen Forschungsvorhaben ge- hören, ist nicht nur aus wissenschaft- lichen und forschungsstrategischen Gründen wichtig, sondern für die For- mulierung einer effizienten Gesund- heitspolitik geradezu unerläßlich. Da- ten allein sagen nichts aus. Erhobene Daten müssen in Bezug zur Art und Weise ihrer Entstehung und zur Ziel- setzung, denen sie dienen sollen, ge- bracht werden (5).

Äußerst komplex ist nicht nur die Entwicklung des medizinischen Systems, sondern auch die der Krankheiten in der Moderne. Die in Wohlstandsgesellschaften überhand- nehmenden sogenannten Zivilisa-

tionskrankheiten sind durch das Zu- sammenspiel vieler Faktoren charak- terisiert. Mehr noch, wir müssen uns mit der Tatsache herumschlagen, daß viele von ihnen polyätiologisch cha- rakterisiert werden: Die Krankheits- bilder entstehen durch Mehrfachver-

ursachungen. Zu erwähnen sind etwa Hypertonie, Rheuma und die sattsam bekannten vegetativen Dystonien.

Wir werden dabei an den Fall erin- nert, in dem ein Betrunkener seinen Wagen mit kaputten Bremsen bei Glatteis an einen Baum fährt und da- bei sein Leben verliert. Wie werten wir die Bedeutung der einzelnen Fak- toren, von denen einer allein schon genügt hätte, um die tödliche Wir- kung zu erzielen?

Es soll die Tatsache der großen Zahl objektiv gesicherter Krankheits- bilder keineswegs unterschätzt wer- den, aber: „Der Krankheitsbegriff bil- det zunächst ein Produkt der medizi- nisch-wissenschaftlichen Forschung.

In diesem Bezugssystem ist der Krank- heitsbegriff zunächst eine formale Sammelbezeichnung für alle Krank- heiten, für die das medizinische Den- ken einen Eigennamen bereithält“ (7).

Dieser Krankheitsbegriff ist von allen sozialen Bezügen entkleidet. Er bedarf für seine Verwendung in der Epide- miologie dringend der Ergänzung durch eine soziale Dimension (4).

Krankheit ist immer als Korrelat zur jeweilig vorherrschenden Auffas- sung von Gesundheit zu betrachten.

Schon bevor es Medizin als Wissen- schaft gab, bestand und besteht auch

heute ein gesellschaftlicher Krank- heitsbegriff. Eine klare, feststehende Definition von Krankheit und Ge- sundheit ist aus diesem Grunde insge- samt und stets in Frage gestellt und bei Erhebungen auch systematisch in Frage zu stellen.

Zum Risiko wird Prävention, wenn Gesundheit absolut gesetzt wird. Nachdem im Gesundheitswesen der Homo oeconomicus sein Unwe- sen treibt, weil zwar durchaus gerech- net werden muß, aber nicht alles, was sich rechnet, auch das Gesundheits- wesen ausmacht, wird offensichtlich ein „Homo praeventicus“ postuliert.

Die Zielvorstellung eines sozusagen

„unheilbar Gesunden“ widerspricht nicht nur der Wirklichkeit, sondern ist in ihren auch nur gedanklichen Fol- gen unerträglich, da im Grunde un- menschlich.

Tausend Krankheiten – nur eine Gesundheit?

Wer in Untersuchungen zur Prävention, wer in Erhebungen über Befindlichkeiten dem Begriff Gesund- heit begegnet, wird nur in den allerwe- nigsten Fällen gewahr, um welche Ge- sundheit es sich denn handeln soll. Es geht keineswegs darum, die medizi- nisch gesicherten Krankheitsbilder in ihrer Bedeutung herabzumindern. Je- doch hat Gesundheit für das Individu- um mindestens drei verschiedene Be- deutungen. Es müßte in jedem Fall un- terschieden werden, ob es darum geht, Wahrnehmung von Informationen

über Nahrung + Genußmittel

Wahrnehmung von Ernährungs- verhalten

Fernsehen

Presse

Eßtraining zu Hause

Werbung

Familie

Freizeit

Verwandte, Freunde

Kiosk, Kantine, Kameraden Grafik 1

(4)

gesund zu sein, Gesundheit zu haben oder für Gesundheit etwas zu tun.

Das Gesundsein unterliegt indivi- dueller Beurteilung. Auch der Quer- schnittgelähmte, der beispielsweise in den Olympischen Spielen für Behin- derte eine Goldmedaille erwirbt, wird

antworten, daß er gesund sei, daß es ihm äußerst gut gehe. Es mag einer subjektiv gesund sein, selbst wenn der Arzt ihm sagen müßte, es sei ihm der Tod ins Gesicht geschrieben.

Gesundheit haben bedeutet, daß einer den Alltag alleine bewältigen will, leistungsfähig bleibt oder es wie- der wird, um beispielsweise wieder ar- beiten zu können. Es will und muß et- wa die Mutter von drei Kindern Ge- sundheit haben, um ihrer Pflicht zu genügen. Es ist dies Bereich der kura- tiven Medizin.

Schließlich, und das wäre die ei- gentliche Konnotation für die Präven- tion, gibt es die Vorstellungen, etwas für seine Gesundheit zu tun, Risiken zu vermeiden, Sport zu treiben, sich

dem Streß bewußt zu entziehen. Wahr- scheinlich ist das folgende nicht ganz stimmig, aber der einzelne Mensch in seiner Befindlichkeit, ja in seiner Be- troffenheit, mag im Umgang mit seiner einen Krankheit tausend Gesundhei- ten erhoffen und erwünschen.

Prävention, die von einem ver- einfachten Modell sozialen Verhal- tens ausgeht, die von allen möglichen Bedeutungen von Gesundheit nur die jeweils eine im Blickfeld hat, nämlich ein erwünschtes Gesundheitshandeln, wird durch diese Vereinfachung zum Risiko. Sie setzt unerfüllbare Hoff- nungen in die Welt. Mithin sind mon- ströse Fehlinvestitionen in Forschung und Gesundheitsprogrammen die Folge (2).

Wer sich aus den komplizierten Gefährdungssituationen, in die sich der einzelne begeben kann, nur auf ei- nen Faktor konzentriert, handelt nicht nur unwissenschaftlich, sondern verwechselt gesundheitliche Aufklä- rung mit sektiererischer Erweckung.

Dadurch gerät die unabdingbar not- wendige Eigenverantwortung der Menschen in Gefahr. Wir wissen, daß Prohibition niemals funktioniert.

Nicht selten werden gutgemeinte Kampagnen, etwa gegen das Passi- vrauchen, unversehens zu kreuzzug- artigen Feldzügen mit zwanghafter Zensur, selbst in renommierten ame- rikanischen medizinischen Fachzeit- schriften. Anstelle vernünftiger Akti- vität vermerken wir oft blinden Akti- vismus von Eiferern, die für sich in Anspruch nehmen, alleine die ge- sundheitspolitische Wahrheit zu be- sitzen.

Versuchen wir, Risikoverhalten als Sozialverhalten am Beispiel der Ernährung zu erläutern: Ein großer Anteil der Bevölkerung der Bundes- republik wird als übergewichtig be- trachtet. Ein Viertel aller Kinder zeigt Ansätze zur Übergewichtigkeit, wo- bei in den USA angenommen werden muß, daß 80 Prozent von ihnen fettsüchtige Erwachsene werden.

Fettsüchtigkeit droht zur Volksseuche zu werden. Während in früheren Zei- ten katastrophale Fehlernährung in Form von Unterernährung festzustel- len war, ist chronische Überernäh- rung geradezu ein Kennzeichen heuti- ger Zivilisation. Die Ubiquität der Nahrung, ihre relative Wohlfeilheit, führt im Verbund mit mangelnder Be- wegung praktisch zu endemischer Fehlernährung. Hyperphagie ist be- reits eine kostspielige Volkskrank- heit. Im übrigen: Hunger ist physiolo- gisch bedingt – Appetitverhalten da- gegen weitgehend psycho-sozial. Ins- besondere das Ernährungsverhalten bei Kindern deutet auf eine relativ ge- ringe Einwirkungsmöglichkeit durch behördliche Verbote. Kinder stehen unter einem gewaltigen Ernährungs- druck (Grafik 1).

Eine weitere Schlußfolgerung ernährungswissenschaftlicher For- schung, die die Prävention außeror- dentlich erschwert, liegt darin, daß Einsicht in gesunde Ernährung noch keineswegs zu einer notwendigen Verhaltensänderung führt. Rationale Appelle etwa an die Hausfrauen, Nahrung in gesundheitsfördernder Weise auf den Tisch zu bringen, stoßen sich an äußerst komplexen Zu- sammenhängen. Die Hausfrau wird nicht gegen die Liebe und Gewohn-

T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE

Warenkenntnis Kochkenntnis Zeitlich

Räumlich Folge

Familie Arbeit Freizeit Haushaltsstruktur

Nahrungsbeschaffung

Informationen über Nährwerte und Kalorien

Tatsächlich beobachtbares Ernährungsverhalten

Nahrungszubereitung Mahlzeitenordnung Mahlzeitengestaltung Tägliche Ernährungssituation

Ernährungssystem Normen der

Zubereitung Normen des

Verzehrs Grafik 2

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heiten ihrer Angehörigen auf Dauer mit moralisierendem Kochlöffel an- gehen, sondern wird in den überwie- genden Fällen resignieren und auf tra- ditionsschwangere Zubereitungswei- sen zurückfallen, die in einer Zeit Geltung haben mochten, als physi- sche Bewegung und der Abbau von Kalorien durch körperliche Anstren- gung die Norm waren (Grafik 2).

So sehen wir, daß Prävention, die sich nicht ausreichend an den wissen- schaftlichen Erkenntnissen sozialen Verhaltens orientiert, selbst zum Risi- ko wird. Eine neue, umfassendere Epi- demiologie ist notwendig, die sich we- der ausschließlich naturwissenschaft- lich noch ausschließlich sozialwissen- schaftlich orientiert. Weder sind So- zialwissenschaften ohne gebührende Berücksichtigung medizinischer Fak- ten in der Lage, Grundlagen für präventive Vorschläge zu erbringen, noch sind es Mediziner ohne ausreichende sozialwissenschaftliche Orientierung. Sollen sich berechtigte Erwartungen nicht nur der Ärzte, son- dern aller am Gesundheitswesen Be- teiligten einigermaßen erfüllen kön- nen, ist eine mit vielen Konstrukten behaftete, quantitativ orientierte Epi- demiologie gleichsam wieder auf die Füße zu stellen. Erfolgreiche Präventi-

on bedeutet erfolgreiche Veränderung sozialen Verhaltens im Umgang mit Gesundheitsproblemen: Gesundheit ist zwar Bedingung für eine bewußt ge- staltete Lebensführung, aber nicht ihr ausschließliches Ziel. Eine Gesund- heitspolitik und eine ihr dienende Epi- demiologie, die diesen existentiellen Tatbestand mißachtet, wird Schiff- bruch erleiden, wird Gesundheitsko- sten nicht mindern, sondern die Ineffi- zienz des Gesundheitswesens steigern.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1997; 94: A-2492–2496 [Heft 39]

Literatur

1. Abel T: Gesundheitsverhaltensforschung und Public Health: Paradigmatische An- forderungen und ihre Umsetzung am Bei- spiel gesundheitsrelevanter Lebensstile.

In: Weitkunat et al. (Hrsg): Public Health und Gesundheitspsychologie. Bern–Stutt- gart: Verlag Huber, 1997.

2. Adams J: Risk. University College of Lon- don Press, 1995.

3. Atteslander P: Sanktionen für Risikover- halten – Ausweg oder Unsinn? In: Weltge- sundheit. Magazin der Weltgesundheitsor- ganisation 1986; 2: 16–21.

4. Atteslander P: Das Gesundheitswesen zwischen Professionalisierung, Laiensy- stem und Bürokratie. In: Berner P, Zapotoczky K (Hrsg): Gesundheit im Brennpunkt, Bd. 3. Linz: Veritas Verlag, 1992; 13–30.

5. Atteslander P, Fürstenau U, Maurer A et al.: Verlust der Repräsentativität durch

mangelnde Zentralität – ein Instrumenten- experiment. In: Soziale Welt, 1993; 3: 1–20.

6. Atteslander P: The patient as a commodi- ty? Human limits to rationalization in the health sector. In: GSF Schriftenreihe, WHO Collaborating Center for Public Health Research, Vol 46. Kiel: Sept 1995;

125–144.

7. Bogs W, Achinger H, Meinhild H et al.:

Sozialenquete. Soziale Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart:

Enke Verlag, 1966; 73–81.

8. Schneider B: Anwendung und Mißbrauch epidemiologischer Statistiken. In: Pfuster- schmid-Hardtenstein H. (Hrsg): Das Ganze und seine Teile. Europäisches Fo- rum Alpbach 1995. Wien: Ibera Verlag, 1996; 260–265.

9. Vienonen M, Tragakes E: Health care reforms on the european scene. In: GSF Schriftenreihe, WHO Collaborating Cen- ter for Public Health Research, Vol. 46.

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10. WHO in Zusammenarbeit mit Nether- lands Central Bureau of Statistics, Depart- ment for Health Statistics: Third consulta- tion to develop common methods and in- struments for health interview surveys.

Voorburg, 22.–24. September 1992; 5–63.

11. Wolfson MC: Social Proprioception:

Measurement, Data, and Information from a Population Health Perspective. In: Evans RG, Barer ML, Marmor TR: Why are some people healthy and others not? The Determinants of health of populations. Ber- lin, New York: de Gruyter, 1994; 287–316.

Anschrift des Verfassers

Prof. em. Dr. phil. Peter Atteslander Lehrstuhl für Soziologie

und empirische Sozialforschung Universität Augsburg

Universitätsstr. 2 · 86159 Augsburg

Es wird allgemein anerkannt, daß regelmäßige sportliche Aktivität einen Beitrag zur Vorbeugung von Zivilisati- onskrankheiten leistet. Körperliche Fitneß ist auch mit einer geringeren Mortalität assoziiert. Eine finnische Arbeitsgruppe untersuchte in einer Kohortenstudie über den Beobach- tungszeitraum von 1970 bis 1990, wie häufig ehemalige Spitzenathleten eine Krankenhausbehandlung beanspruch- ten. Zusätzlich interessierte die Auto- ren, ob hierbei die gesundheitlich posi- tiven Effekte sportlicher Aktivität ge- genüber möglichen negativen Einflüs- sen überwiegen. Es wurden die Daten von 2 049 männlichen Eliteathleten ausgewertet. Diese Sportler hatten Finnland in den Jahren von 1920 bis 1965 bei den Olympischen Spielen, verschiedenen Weltmeisterschaften oder Europameisterschaften vertre-

ten. Zur Kontrolle dienten die Daten von 1 403 Männern, die im Alter von 20 Jahren bei ihrer Musterungsunter- suchung vor dem Militärdienst gesund waren. Die Autoren unterschieden in ihrer Untersuchung zwischen Aus- dauersportarten wie beispielsweise Langlauf und Kraftsportarten wie Bo- xen oder Ringen. Eine dritte Gruppe bildeten Leistungssportarten wie bei- spielsweise Fußball, Eishockey oder Basketball.

Die statistische Auswertung der erhobenen Daten zeigte, daß die ehe- maligen Spitzenathleten aller drei Sportartgruppen unter Berücksichti- gung von Alter und Beruf, im Vergleich zur Kontrollgruppe, weniger stationäre Behandlungstage im Krankenhaus in Anspruch nahmen. Diese Tendenz, die insbesondere bei Athleten der Ausdau- ersportarten zu beobachten war, konn-

te auf eine geringere Anzahl von Kran- kenhausbehandlungen aufgrund von Herzerkrankungen, Lungenerkran- kungen und Krebs zurückgeführt wer- den. Die Athleten wurden jedoch häu- figer wegen Erkrankungen des Bewe- gungsapparates behandelt. Zusätzlich sind andere gesundheitsfördernde Le- bensgewohnheiten bekannt, welche mit einem sportlich aktiven Lebensstil verbunden sind. Beispielsweise waren unter den Spitzenathleten der Ausdau- ersportarten insgesamt 58,7 Prozent Nichtraucher. In der Kontrollgruppe waren es nur 26,5 Prozent. mll Kujala et al.: Hospital care in later life among former world-class Finnish athle- tes. JAMA 1996; 276: 216–220.

Dr. Kujala, Unit for Sports and Exercise Medicine, Institute of Biomedicine, Uni- versity of Helsinki, Töölö Sports Hall, Mannerheimintie 17, FIN-00250 Helsin- ki, Finnland.

Athleten werden seltener im Krankenhaus behandelt

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