Quantenchemische Untersuchungen zur baseninduzierten Reaktivität von Silanen
Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Naturwissenschaften
vorgelegt dem Fachbereich Biochemie, Chemie und Pharmazie der Goethe-Universität Frankfurt am Main
von Lioba Meyer aus Darmstadt
Frankfurt am Main 2018
D30
Vom Fachbereich Biochemie, Chemie und Pharmazie
der Goethe-Universität Frankfurt am Main als Dissertation angenommen.
Dekan: Prof. Dr. Clemens Glaubitz Gutachter: (1) Prof. Dr. Max C. Holthausen
(2) Prof. Dr. Norbert Auner
Datum der Disputation: 18.2.2019
“The first principle is that you must not fool yourself and you are the easiest person to fool.“
Richard Feynman
Die vorliegende Forschungsarbeit wurde im Zeitraum von Januar 2013 bis September 2018 in der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Max C. Holthausen im Institut für Anorganische und Analytische Chemie der Goethe-Universität Frankfurt am Main angefertigt. Viele der hier diskutierten Ergebnisse sind in Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftlern entstanden und publiziert worden. Am Ende der entsprechenden Kapitel werden die jeweiligen Veröffentlichungen aufgeführt und im Anhang findet sich eine Auflistung der Grafiken und Tabellen mit expliziten Angaben zu Beiträgen von Kooperationspartnern und vorhergehenden Veröffentlichungen.
Danksagung
Ohne die Unterstützung von Freunden und Kollegen ist das Verfassen einer Promotionsschrift kaum möglich, daher möchte ich an dieser Stelle allen Menschen danken, die zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben.
Zuerst gilt mein besonderer Dank Prof. Dr. Max C. Holthausen, der mir die Anfertigung dieser Promotionsschrift in seinem Arbeitskreis ermöglicht hat. Danke für Dein Vertrauen, Dein Engagement und Deine tatkräftige Unterstützung.
Weiterhin möchte ich allen aktuellen und ehemaligen Mitgliedern des Arbeitskreis Holthausen für die Zusammenarbeit und die angenehme Arbeitsatmosphäre danken, namentlich sind das Dr. Martin Diefenbach, Dr. Guido Wagner, Andor Nadj, Dr.
Puneet Gupta, Dr. Robin Panisch, Josef Wender, Timo Porsch, Moritz Förster, Julia I.
Schweizer, Alexander Sturm, Jonas Peschina, Hendrik Verplancken und Maximilian Mensche. Der fruchtbare fachliche Diskurs mit Dr. Martin Diefenbach und Julia I.
Schweizer hat maßgeblich zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen – Danke für die gute Zusammenarbeit. Außerdem danke ich Moritz Förster für die vielen fachlichen und weniger fachlichen Diskussionen.
Mein Dank gebührt auch Prof. Dr. Norbert Auner für die gute Zusammenarbeit und zahlreiche Anregungen – Danke für Deine Unterstützung – sowie den Mitgliedern seines Arbeitskreises Dr. Felix Neumeyer, Tobias Santowski und Dr. Larissa Zherlitsyna.
Ebenfalls möchte ich mich bei Prof. Dr. Matthias Wagner, Dr. Hans-Wolfram Lerner und den ehemaligen Mitgliedern des Arbeitskreis Wagner Dr. Jan Tillmann und Dr.
Maximilian Moxter für die gute Zusammenarbeit bedanken.
Nicht zuletzt danke ich Carolin Friedrich und Linda Jirges, nicht nur für ihre administrativen Tätigkeiten, sondern auch für die persönliche Komponente.
Ebenso danke ich den Praktikanten und Bachelorstudenten, die ich während meiner Promotionszeit betreut habe und die mit ihrem neugierigen Verstand geholfen haben meine Forschung voranzutreiben.
Ich danke meinen Freunden die mich durch mein Studium und die Promotionszeit begleitet haben, besonders Kim. Ein herzlicher Dank gilt meinen Eltern und Geschwistern, Danke für eure Unterstützung. Zuletzt möchte ich Bernhard danken – Danke, dass es Dich gibt!
Inhaltsverzeichnis
Einleitung ... 1
Strukturmerkmale von Siliciumverbindungen ... 3
Silylene ... 4
Silanide ... 7
Silikate ... 12
Reaktivität von Silanen ... 14
Motivation ... 15
Kapitel 1 – Aufbau eines perchlorierten Polysilans in der Gasphase ... 19
1.1 Quantenchemische Methoden ... 20
1.2 Experimentelle Hintergründe ... 22
1.3 Quantenchemische Untersuchungen zum Reaktionsmechanismus ... 23
1.3.1 Elementarschritte ... 23
1.3.2 Aufbaumechanismus ... 27
1.3.3 Gasphasenstabilität cyclischer Perchlorsilane ... 29
1.4 29Si-NMR-chemische Verschiebungen ... 31
1.4.1 29Si-NMR-chemische Verschiebungen acyclischer Perchlorsilane ... 32
1.4.2 29Si-NMR-chemische Verschiebungen cyclischer Perchlorsilane ... 36
Kapitel 2 – Chlorid-induzierter Aufbau perchlorierter Silane ... 43
2.1 Quantenchemische Methoden ... 45
2.2 Chlorid-induzierter Aufbau zweifach Chlorid-komplexierter Cyclohexasilane aus Si2Cl647 2.2.1 Initiation und Kettenwachstum – Addition von SiCl3– an Si2Cl6 und höhere Silane . 48 2.2.2 Der Aufbau unverzweigter Spezies ... 51
2.2.3 Der Aufbau verzweigter Spezies – Elementarschritte ... 55
2.2.4 Der Aufbau verzweigter Spezies – Reaktionsmechanismus ... 59
2.2.5 Ringbildung ... 66
2.2.6 Abspaltung von Silylgruppen an substituierten Cyclohexasilanen ... 72
2.2.7 Vergleich des Chlorid-induzierten Aufbaus mit dem Amin-induzierten Aufbau ... 75
2.3 Aufbau der zweifach Chlorid-komplexierten dianionischen Sechsringe aus HSiCl3 ... 82
2.4 Mechanismus für die Umsetzung von [Si6Cl122Cl]2– mit Al2Cl6 ... 93
2.5 Aufbau und Abbau von neo-Si5Cl12 ... 101
2.5.1 Experimenteller Hintergrund und die Interpretation der 29Si-NMR-Spektren ... 102
2.5.2 Massenspektrometrische Untersuchungen ... 104
2.5.3 Reaktionsmechanismus für den Abbau von neo-Si5Cl12 ... 109
2.5.4 Reaktionsmechanismus für den Abbau von [Si3Cl10]2– ... 115
2.5.4 Bindungsanalyse der Silanide ... 118
Kapitel 3 – Selektive Chlorierung von Monosilanen mit HCl/Ether ... 125
3.1 Quantenchemische Methoden ... 126
3.2 Experimentelle Hintergründe ... 128
3.3 Chlorwasserstoff in etherischer Lösung ... 129
3.4 Chlorierung von Methylchlorsilanen ... 133
3.5 Alkoholvermittelte Chlorierung von Methylchlorsilanen ... 138
Zusammenfassung und Ausblick ... 145 Literaturverzeichnis ... I Anhang ... a Zusätzliche Informationen zu den Reaktionsmechanismen ... a Übersicht über Kooperationspartner und publizierte Ergebnisse ... g Lebenslauf ... I
Abkürzungsverzeichnis
2e-2z Bindung zwei-Elektronen-zwei Zentren-Bindung 2e-3z Bindung zwei-Elektronen-drei-Zentren-Bindung
AO Atomorbital
au atomic units
bcp bond critical point
BPR Berry-Pseudorotation
bzw. beziehungsweise
CAAC cyclisches Alkylaminocarben CID collision-induced dissociation COSMO conductor like screening model DFT Dichtefunktionaltheorie
DMF N,N-Dimethylformamid
DPEA N,N-Diisopropylethylamin
ESI-MS electrospray-ionization mass-spectrometry
ESI–-TOFMS electrospray-ionization time-of-flight mass-spectrometry ESP electrostatic potential energy map
Et Ethyl
et al. et alii (und andere)
Exp. experimentell
HO Hybridorbital
HOMO highest occupied molecular orbital IRC intrinsic reaction coordinate
IUPAC International Union of Pure and Applied Chemistry
LP lone pair
LUMO lowest unoccupied molecular orbital MAE mittlerer absoluter Fehler
Me Methyl
Mes Mesityl
MO Molekülorbital
NBO Natural Bond Analysis
nBu n-Butyl
ncp nuclear critical point
NHC N-heterocyclisches Carben NLMO natural localized molecular orbital NMR nuclear magnetic resonance NPA natural population analysis PCS perchloriertes Polysilan
QTAIM quantum theory of atoms in molecules
RI resolution of identity
SN2 nucleophile Substitution zweiter Ordnung
SO spin orbit
TBA+ Tetrabutylammoniumkation TBAC Tetrabutylammoniumchlorid TBAF Tetrabutylammoniumflourid
Tbt 2,4,6-Tris[bis-(trimethylsilyl)methyl]phenyl
tBu tert-Butyl
TDAE Tetrakis(dimethylamino)ethylen Tip 2,4,6-Triisopropylphenyl
TMS Tetramethylsilan
VB valence bond
VSCC valence-shell charge concentration
WBI Wiberg bond index
ZORA zero-order regular approximation
Einleitung
Liest man Einleitungen auf dem Gebiet der Siliciumchemie, beginnen die Autoren ihren Prolog meist mit einem Satz, der besagt, Silicium sei nach Sauerstoff das zweithäufigste Element der Lithosphäre[1] und alleine durch seine Omnipräsenz wissenschaftlich relevant. Dieser Auffassung möchte ich eine 1970 von G. Urry geäußerte These gegenüberstellen: „While mineralogy is undeniably an interesting and challenging discipline, these silicon resources have so far proven less susceptible to chemical modification by silicon chemists than have petroleum resources for the organic chemist“.[2] Heute, nahezu fünfzig Jahre später, sind dank modernen Methoden der Hauptgruppenchemie zahlreiche Siliciumverbindungen zugänglich, die früher bestenfalls als esoterische Forschungsziele galten: Silane, Silylene, Disilene, Disiline und molekularer Sand (SiO2) sind beispielsweise durch die Verwendung potenter Lewis-Basen,[3-6] wie N- heterocyclischer Carbene (NHCs)[7-9] und cyclische Alkylaminocarbene (CAACs)[10-12]
und das geschickte Einbringen sterisch anspruchsvoller Reste[13, 14] zugänglich.
Siliciumverbindungen mit freien Valenzen oder Doppelbindungen entfalten derzeit eine vielfältige Chemie, wie sie zuvor meist nur Übergangsmetallkomplexen vorbehalten war[15, 16] und reaktive Intermediate können soweit stabilisiert werden, dass eine Charakterisierung gelingt. Neben solchen im Labormaßstab darstellbaren, immer noch eher akademisch relevanten Verbindungen ist Silicium in unserer modernen Welt gleichwohl allgegenwärtig, sei es als hochreines Silicium in Elektronikbauteilen oder in Form von Silikonen [R2Si–O]n in Gegenständen des täglichen Gebrauchs und in Baustoffen. Besonders Chlorsilane werden industriell im Multitonnenmaßstab hergestellt und bilden die Basis für die Produktion zentraler Technologien der modernen Zivilisation.[17]
Industriell wird elementares Silicium immer noch als sogenanntes technisches Silicium durch Reduktion von Siliciumdioxid mit Kohlenstoff im Lichtbogenofen bei hohen Temperaturen hergestellt – ein energetisch sehr anspruchsvoller Prozess. Die für die Halbleitertechnik notwendige Reinheit wird durch die Aufreinigung nach dem Siemens-Verfahren erzielt:[18, 19] Technisches Silicium wird dabei mit Chlorwasserstoff
zu Trichlorsilan, HSiCl3, und Wasserstoff umgesetzt, das entstandene Trichlorsilan destilliert und in einer Wasserstoffatmosphäre zu elementarem Silicium reduziert und an sehr reinen Siliciumstäben abgeschieden. Große Mengen Silicium gehen in diesem Prozess aber in Form von Tetrachlorsilan verloren – pro Tonne produziertem Reinst- silicium fallen 18 Tonnen SiCl4 an – das derzeit entweder unter erheblichem Aufwand zu Trichlorsilan refunktionalisiert oder mit großem Wertverlust zu Kieselsäure hydrolysiert wird.[20] Folglich stellt die effiziente Verwendung von SiCl4 eine beachtliche Herausforderung für die Siliciumindustrie dar. Forschungsanstrengungen auf diesem Gebiet werden gleichwohl eher selten berichtet. Neben dem Siemens- Prozess gibt es noch die Möglichkeit, Trichlorsilan in Monosilan (SiH4) umzuwandeln und anschließend thermisch abzuscheiden.[21] Für die Produktion der zweiten industriell relevanten Verbindungsklasse, der Silikone, liefert das Müller-Rochow- Verfahren das wichtigste Vorläufermolekül, Dimethyldichlorsilan (Me2SiCl2).[22-24]
Dabei reagiert technisches Silicium mit Methylchlorid bei erhöhten Temperaturen an einem Kupferkatalysator zu Me2SiCl2. Zur Darstellung von Silikonen wird das Organo- chlorsilan hydrolysiert und in ausgefeilten Verfahren polymerisiert.[25, 26]
Sowohl für den Siemens-Prozess als auch für das Müller-Rochow-Verfahren wird ein Silylen als Schlüsselintermediat in der Gasphase postuliert;[27-31] eine Spezies mit höchster Relevanz für die moderne Forschung in der Hauptgruppenchemie.
Überraschenderweise sind häufig selbst einfache Moleküle wie Me2SiHCl synthetisch nur schwer zugänglich. Daher ist das Ziel der vorliegenden Arbeit die Entwicklung von Konzepten zur Erschließung alternativer Zugänge zu vergleichsweise einfachen aber vielseitig nutzbaren Verbindungsklassen wie perchlorierte Oligosilane und Methyl(Chlor)silane. Anhand quantenchemisch-mechanistischer Untersuchungen wurden experimentelle Arbeiten begleitet, um mit einem Verständnis für grundlegende Bindungstransformationen eine rationale Entwicklung neuer Synthese- routen zu ermöglichen.
Strukturmerkmale von Siliciumverbindungen
Im Grunde bilden die Elemente Silicium und Kohlenstoff Verbindungen sehr ähnlicher Zusammensetzung (EH4, E2H6, EX4, EO2 etc. mit E = C, Si, und X = F, Cl, Br, I) und neigen zur Bildung von Ketten, Ringen und Netzwerken.[1] Beschränken wir uns zunächst auf die Alkane CnH2n+2 und Silane SinH2n+2: Beide Elemente sind in diesen valenzgesättigten Verbindungen tetraedrisch von ihren Substituenten umgeben, allerdings resultiert aus der unterschiedlichen Elektronegativität von Kohlenstoff und Silicium eine Umkehr der Bindungspolaritäten, was zur formalen Zuordnung Cδ––Hδ+ und Siδ+–Hδ– führt. Diese unterschiedlichen Bindungspolaritäten führen zu signifikanten Reaktivitätsunterschieden zwischen Alkanen und Silanen: Im Gegensatz zu den gegenüber Luft und Wasser stabilen Alkanen neigen Silane in Gegenwart von Wasser zur Hydrolyse und entwickeln bei Umsetzung mit Mineralsäuren H2, beide Prozesse sind stark exotherm.
Silicium neigt im Gegensatz zu Kohlenstoff zur Bildung hypovalenter und hyperkoordinierter1 Spezies, die nicht nur als reaktive Intermediate, sondern auch in Form stabiler Verbindungen auftreten können.[32-34] Neben den gesättigten Silanen
Schema 1. Räumliche Lewis-Struktur hypovalenter, ungesättigter und hyperkoordinierter Siliciumverbindungen (R steht für Alkyl- und Silylgruppen, Wasserstoff- und Halogensubstituenten, sowie Lewis-Basen), je nach Substitutionsmuster treten Variationen der gezeigten Gesamtladung auf.
1 Für Siliciumatome mit mehr als vier Bindungspartnern wird in dieser Arbeit der Begriff hyperkoordiniert an Stelle des veralteten Begriffs hypervalent verwendet, Näheres zur Bindungssituation von hyperkoordiniertem Silicium findet sich im Folgenden.
R Si
R R
R
Silan
Si
R R
R
Silanid
Si R
R R
Silyliumkation
Si R R
Silylen
Disilen Disilin Si Si
R
RR
R Si Si
R
R
R Si R
R R
R
Si R
R R
R R
R Silikat hypovalente Spezies
ungesättigte Spezies hyperkoordinierte Spezies 2
sind hypovalente Siliciumverbindungen wie Silylene SiR2, Silanide SiR3– und Silylium- kationen SiR3+, die ungesättigten Disilene (R2Si=SiR2) und Disiline (RSi SiR) bekannt, sowie hyperkoordinierte Silikate SiR5–, SiR62– (Schema 1). Silylene (SiR2), Silyliumkationen (SiR3+) und Silanide (SiR3–) sind auf Grund ihrer Elektrophilie bzw.
mangelnder Valenzsättigung besonders reaktionsfreudig und stellen oft reaktive Intermediate dar, während die hyperkoordinierten Silikate (SiR5–, SiR6–) in vielen Fällen durchaus stabile Verbindungen sind.[35-41]
Silylene
Silylene sind die nächsthöheren Homologen der Carbene. Beide Spezies sind divalente, neutrale Verbindungen, in denen das Zentralatom ein Elektronensextett aufweist. Auf Grund ihrer Elektrophilie sind sie üblicherweise sehr reaktiv, können allerdings durch die Wahl geeigneter Substituenten stabilisiert werden.[7, 38, 42] Während Carbene im Regelfall einen Triplett-Grundzustand aufweisen,[43] liegen Silylene üblicherweise im Singulett-Grundzustand vor. Im Singulett-Silylen SiH2 ist das freie Elektronenpaar im a1 sp2-Hybridorbital lokalisiert, während das senkrecht zur Molekülebene stehende p- Orbital (b1) unbesetzt bleibt (Schema 2), im Grundzustand weisen Singulett-Silylene daher einen ambiphilen Lewis-Charakter auf. Im Triplett-Silylen sind beide Orbitale jeweils mit einem Elektron besetzt. Der angeregte 1A1 Zustand des Singulett-Silylens mit einer Doppelbesetzung des p-Orbitals ist auf Grund der räumlich kompakteren Natur des p- gegenüber dem sp2-Hybridorbital am Zentralatom energetisch ungünstiger als der 1A1 Grundzustand des Singulett Silylens.[44] Die Beschreibung des angeregten 1B1 Zustandes durch quantenchemische Methoden ist grundsätzlich nur mit Hilfe von Mehrdeterminantenverfahren möglich, allerdings ist dieser Zustand energetisch ungünstig[44] und im Folgenden nicht von Relevanz. Die in dieser Arbeit vorgestellten quantenchemischen Ergebnisse wurden durchgängig mit Methoden der Dichtefunktionaltheorie (DFT) durchgeführt, die eine hinreichend genaue Beschreibung des Grundzustands der untersuchten Systeme gestattet.
Schema 2. Schematische Darstellung der elektronischen Zustände eines Silylens.
Aufgrund ihrer ausgeprägten Elektrophilie sind Silylene im Allgemeinen hochreaktive Verbindungen, die üblicherweise nur unter isolierten Gasphasen- bedingungen nachweisbar sind.[7, 30, 39, 45-47] Abgesehen von frühen Matrixisolations- arbeiten[48] gelingt ihre experimentelle Isolierung und Charakterisierung im Allgemeinen nur durch spezifische Maßnahmen zur Stabilisierung. Es gibt drei Grundkonzepte, um diese Stabilisierung zu erreichen: (1) thermodynamische oder elektronische Stabilisierung, (2) kinetische Stabilisierung, (3) Stabilisierung durch externe Lewis-Basen. Die elektronische Stabilisierung durch Einführung von !-Donor- substituenten in Nachbarschaft eines divalenten Siliciumatoms führte 1994 erstmalig zur Isolierung und Charakterisierung eines stabilen Silylens (Schema 3a). In Analogie zum berühmten Arduengo Carben[49, 50] konstruierten West und Mitarbeiter ein fünfgliedriges N-heterozyklisches Grundgerüst, in dem die freien Elektronenpaare der Stickstoff-Donoren eine !-Konjugation mit dem freien p-Orbital des benachbarten Silylenzentrums gestatten, wodurch dessen Elektrophilie effizient abgesättigt wird.
Gleichzeitig wird das Siliciumatom durch sterisch anspruchsvolle Reste an den beiden benachbarten Stickstoffatomen abgeschirmt, um eine Dimerisierung zu verhindern.[51]
Kira et al. synthetisierten 1999 mit der Verbindung 2,2,5,5-Tetrakis (trimethylsilyl)- silacyclopentan-1,1-diyl das erste kinetisch stabilisierte Silylen (Schema 3a).[52] Das zentrale Siliciumatom ist in ein fünfgliedriges Ringsystem integriert, das sterisch anspruchsvolle Substituenten, hier Trimethylsilylgruppen, in direkter Nachbarschaft trägt. Die Stabilisierung eines Silylens durch externe Lewis-Basen gelang Okazaki et al. 1997 durch die Verwendung von Isocyaniden mit sterisch anspruchsvollen Resten CNR mit R = Mesityl (Mes), 2,4,6-Tris[bis-(trimethylsilyl)-methyl]phenyl (Tbt), 2,4,6-Triisopro-pylphenyl (Tip) in Verbindung mit raumerfüllenden Substituenten am
Si R R
Si R R a1
b1
1A1 3B1
Singulett Triplett
Si R R
1A1 Singulett
Si R R
1B1 Singulett
Schema 3. Grundkonzepte zur Stabilisierung von Silylenen: (a) erste molekulare Beispiele sind (1) das von West synthetisierte thermodynamisch stabilisierte Silylen, (2) das von Kira synthetisierte kinetisch stabilisierte Silylen und (3) das basenstabilisierte Silylen von Okazaki (mit R = Mesityl (Mes), 2,4,6- Tris[bis-(trimethylsilyl)-methyl]phenyl (Tbt), 2,4,6-Triisopro-pylphenyl (Tip)). (b) Grenzorbitalschema für die push-pull Stabilisierung von SiCl2 und SiH2 (Dipp = 2,4-Diisopropylphenyl).
zentralen Siliciumatom.[3] Vor allem das dritte Konzept fand in jüngster Vergangenheit durch den Einsatz von N-heterozyklischen Carbenen (NHCs) als Lewis-Basen vielfach Anwendung und führte zur sogenannten „Renaissance der Hauptgruppenchemie“:[53-55] Mit Hilfe von NHCs war es erstmals möglich, Silicium und andere Hauptgruppenelemente in ungewöhnlichen Oxidationsstufen und Koordinationsumgebungen zu isolieren und zu charakterisieren. Durch die Verwendung dieser äußerst potenten σ-Donoren isolierte Roesky das NHC- koordinierte Dichlorsilylen[7, 8] und Filippou das analoge Dibromsilylen.[56]
Unabhängig voneinander gelang Roesky und Rivard die zusätzliche Koordination einer Lewis-Säure (z.B. Monoborane und Übergangsmetallkomplexe) an ein nucleophiles Silylen-NHC-Addukt (Schema 3b).[45, 57-62] Diese push-pull Stabilisierung,[63] die sich schematisch auch als Lewis-Base SiCl2 Lewis-Säure schreiben lässt, verdeutlicht die Ambiphilie der Silylene. Schweizer et. al zeigten kürzlich, dass die Ambiphilie des Dichlorsilylens in Kombination mit einer Lewis-Base nicht nur die Koordination von
Si Me3Si
Me3Si SiMe3
SiMe3
Kira 1999 N
N Si
West 1994
tBu
tBu
Si Mes Tbt
Okazaki 1997 C (a) NR
(b)
Roesky 2010
Si Cl Cl C
N N
Lewis-Base
Ambiphil (C6F5)3B
Lewis-Säure
Rivard 2014
Si H H C
N N Dipp
Dipp
(CO)5W
Holthausen 2016
Si Cl Cl N
Si Cl3Si SiCl3
Monoboranen oder Übergangsmetallen erlaubt, sondern auch eine dative Bindung an ein weiteres Silylen ermöglicht (Schema 3b, rechts).[4] Da statt einer Lewis-Säure in diesem Fall ein weiteres Ambiphil (hier Si(SiCl3)2) als Akzeptorgruppe dient, ist der Aufbau größerer dativ gebundener Netzwerke auf diesem Weg denkbar, da die chemische Reaktivität der Verbindung durch ein noch im Komplex vorhandenes, stereoelektronisch aktives Elektronenpaar erhalten bleibt.
Silanide
Unter den hypovalenten Verbindungen gibt es neben den oben untersuchten sehr reaktiven Silylenen auch Silylanionen, die sogenannten Silanide.[36, 41, 64, 65] Sie zeichnen sich durch ein freies Elektronenpaar und eine negative Ladung an einem trivalenten Siliciumatom aus. Üblicherweise sind Silanide durch ein Gegenion stabilisiert, etwa durch ein Lewis-azides Metallkation.[41, 64] Röntgenkristallographische Studien zeigen, dass das Gegenion entweder eine Si–M Bindung eingehen kann, sich intermolekular gebunden in der Peripherie des Anions befindet oder bei einem schwach koordinierenden Gegenion lose assoziiert ist (Schema 4). Das erste präparativ zugängliche Silanid, LiSiPh3, konnte bereits 1933 von Kraus und Eatoug synthetisiert werden,[66] einen Existenzbeweis lieferten aber erst 1951 Gilman und Benkeser in voneinander unabhängigen Arbeiten.[67-69] Wiberg et al. publizierten 1997 eine Reihe an Alkali- oder Erdalkalimetallionen gebundener Silanide mit unterschiedlicher Anzahl an zusätzlich an das Metall assoziierten Solvensmolekülen.[70] 1998 erweiterten Lappert et al. diese Arbeiten um eine weitere Klasse, die zwitterionischen Silanide, in denen das Metallkation in der Peripherie des Silanids an Donoren gebunden vorliegt.[71] In den darauf folgenden Jahren erschienen zahlreiche Publikationen zu Silylanionen, die nicht nur die Entwicklung einfacher Synthesen für diese Verbindungen thematisieren, sondern auch ihre Verwendung in der organischen und anorganischen Chemie, sowie in den Materialwissenschaften beleuchten.[36, 41, 72]
Heute finden Silanide Anwendung als Schutzgruppen, zur Knüpfung von Si–C und
Schema 4. Übersicht über röntgenkristallographisch charakterisierte (a) Silylanionen unterschiedlicher Natur mit Metall-Gegenion, sowie (b) ein metallfreies Silylanion. (c) Vorgeschlagene Struktur von Na[2.2.2]Si(tBu)3.
Si–Si Bindungen, zur Deprotonierung schwach azider Kohlenwasserstoffe und generell als Bausteine zum Aufbau oligomerer Siliciumverbindungen.[36, 41, 72] Zur Darstellung von Silylanionen haben sich vier allgemeine Verfahren etabliert: (i) Die Umsetzung eines halogenierten tetrakoordinierten Silans mit Alkalimetallen in unpolaren Solventien,[70, 73-76] (ii) die Deprotonierung oder Metallierung eines Hydrido-Silans mittels Alkalimetallen,[77] Alkalimetalllegierungen[78] oder Alkalimetallhydriden,[79]
(iii) Spaltung der Si–Si Bindung in Disilanen mittels Alkalimetallen,[67, 80-85]
Lithiumorganyl[86, 87] oder Alkalimetallhydrid,[88] und schließlich (iv) die Transmetallierung von Silylquecksilber mit Alkalimetallen,[79] oder von Alkalimetallsilaniden mit Erdalkalisalzen,[89, 90] Salzen der Elemente aus der Zink Gruppe[73, 91] und Kupfersalzen durch Metathese.[92-96] Die erste Darstellung eines metallfreien Silanids gelang Hiyama et al. bereits 1983 durch die Si–Si Bindungsspaltung in Hexamethyldisilan mittels Tetrabutylammoniumflourid (TBAF), die in SiMe3– mit einem Tetrabutylammoniumkation als nicht koordinierendem Gegenion resultiert (Schema 4b).[97] Wiberg postulierte die Existenz eines metallfreien Silanids mit einem [2.2.2]Kryptanden, in dem es keine Bindung zwischen dem chelatisierten Gegenion und dem negativ geladenen Siliciumzentrum gibt; diese
Si
Ph Ph
Ph Li
Si
Ph Ph
Ph Li
Si tBu
tBu tBu
Na (THF)2
Gilman and Benkeser 1951 (a)
Wiberg 1997
Lappert 1998 Si
N Li N Me3Si
Ar
Ar
(THF)3 SiMe3
SiMe3
(b)
N
nBu nBu
nBu nBu
Hiyama 1983
Si
Me Me
Me
Wiberg 1997
Si
tBu tBu
tBu
O O
N
O N
O
O O
Na (c)
Verbindung wurde allerdings nicht vollständig charakterisiert (Schema 4c). Während metallfreie Trialkylsilylanionen mittlerweile wohletabliert sind, werden die in unseren Arbeiten untersuchten perhalogenierten Silanide bislang lediglich als reaktive Intermediate postuliert.[5, 98-103] Nozakura und Konotsune formulierten bereits in den 1950er Jahren die Vermutung, dass eine Deprotonierung von HSiCl3 durch organische Basen wie Piperidin oder Pyridin möglich sei.[104] Benkeser beobachtete 1970 mittels NMR-spektroskopischer Untersuchungen die Bildung von SiCl3– in Umsetzungen von Methylchlordisilanen mit dem elektronenreichen Alken Tetrakis(dimethylamino)- ethylen (TDAE).[99] Basierend auf quantenchemischen Berechnungen schlagen auch Kolesnikov et al. eine Deprotonierung von HSiCl3 mit Lewis-Basen vor und formulieren auch eine mögliche Rekombination mit der protonierten Base, wobei SiCl2 und HCl gebildet würden.[105] In einer Veröffentlichung der Arbeitsgruppe Wagner wird die Reaktion von HSiCl3 mit Na[Si(tBu)3] im ersten Schritt als eine Deprotonierung des Trichlorsilans beschrieben, an die sich in einem zweiten Schritt die Bildung eines Dichlorsilylens als reaktives Intermediat anschließt.[106] Im Einklang mit diesem Befund schließen Orlandi et al. in ihrer mittels DFT-Rechnungen durchgeführten Studie die Bildung des SiCl3– aus HSiCl3 mit harten Lewis-Basen aus und postulieren die intermediäre Bildung eines freien Dichlorsilylens als reaktive Spezies.[107] Zusätzlich zeigen sie, dass die Reduktion von Iminen[108, 109] und Nitrogruppen mit HSiCl3[110] von der Wahl der Aminbase abhängt. N-Benzyl-3- nitroanilin wird selektiv reduziert: Unter Verwendung der weichen Lewis-Base N,N- Dimethylformamid (DMF) wird die Iminfunktion protoniert, mit der harten Lewis- Base N,N-Diisopropylethylamin (DPEA) dagegen wird die Nitrogruppe zu einem Amin reduziert.[107] Demnach ist das Trichlorsilylanion in Anwesenheit von Lewis- Basen nicht stabil, es bildet sich das ebenfalls nicht persistente Dichlorsilylen, welches entweder zum Aufbau perchlorierter Silane führt[5, 6, 106, 111] oder mit anderen in der Reaktionslösung vorhandenen Spezies weiterreagiert.[99, 107] In neuen Studien gelang Wagner und Mitarbeitern das Abfangen eines SiI3– Anions durch ein Boran bei der Umsetzung von Hexachlordisilan mit [Et4N]Cl und BI3.[112] Neben diesem Boran- Addukt konnte das Tris(trichlorsilyl)silanid Si(SiCl3)3– durch die Umsetzung von
Schema 5. Verschiedene Wege zur Synthese des Si(SiCl3)3– Anions: (a) Durch Umsetzung des Perchlorneopentasilans mit Chlorid, (b) als Nebenprodukt der NHCDipp stabilisierten Dichlorsilylenbildung aus HSiCl3,[113] und (c) durch Deprotonierung des HSi(SiCl3)3 mittels NHCDipp.
neo-Si5Cl12 mit [NR4]Cl sowohl massenspektroskopisch[114] als auch röntgenkristallographisch[115] nachgewiesen werden (Schema 5a). Schwarze et al.
publizierten 2016 die Isolierung eines dem Tris(trichlorsilyl)silanid analogen metallfreien Silanids, Si(C2F5)3–, welches durch die Umsetzung von HSi(C2F5)3 mit Lithiumdiisopropylamid und Kronenether entsteht.[116] Weiterhin veröffentlichten 2017 Olaru et al. die Kristallstruktur des Tris(trichlorsilyl)silanids als Nebenprodukt der Reaktion von NHCDipp mit HSiCl3 (Schema 5b).[113] Überdies gelang der Gruppe mittels Deprotonierung von HSi(SiCl3)3 mit NHCDipp die quantitative Synthese des Silanids (Schema 5c).
(b)
(c)
N
N C
Dipp
Dipp
HSiCl3 + C
N N
Dipp Dipp
2 + C
N N
Dipp Dipp
H Si Cl
Cl Cl Synthese nach Roesky
C N N
Dipp Dipp
Cl H H
C N N
Dipp Dipp
Si Cl3Si SiCl3
SiCl3 Nebenprodukt (Olaru et al.)
Synthese nach Olaru et al.
N
N C
Dipp
Dipp
+ C
N N
Dipp Dipp
H Si
Cl3Si SiCl3 SiCl3 HSi(SiCl3)3
(a) Synthese nach Wagner
neo-Si5Cl12 + [nBu4N]Cl SiCl4 + [nBu4N]+ Si Cl3Si SiCl3
SiCl3
Schema 6. Postulierte Silanidintermediate unter verschiedenen Reaktionsbedingungen: (a) Bildung von SiCl3–, Si(SiCl3)Cl2– und Si(SiCl3)2Cl als Intermediate während des Aufbaus dianionischer Chlorid- komplexierter Sanwichkomplexe aus Si2Cl6 durch Chloridionen,[5] (b) Abbau des neo-Si5Cl12 mittels Chloridionen führt zu Si(SiCl3)3–[115] und (c) Abbau des neo-Si5Cl12 über zu Si(SiCl3)3– zum Disilen Basenaddukt.[4] Gegenionen für geladene Verbindungen sind nicht dargestellt.
Neben dem Tris(trichlorsilyl)silanid werden in unseren Untersuchungen auch andere perchlorierte Silanide als Intermediate im Rahmen der Chlorid-, sowie Amin- induzierten Auf- und Abbaureaktion von perchlorierten Oligosilanen formuliert (Schema 6). Im Verlauf des Chlorid-induzierten Aufbaus zweifach Chlorid- komplexierter dianionischer Sandwichkomplexe treten laut unseren quanten- chemischen Untersuchungen die Silanide SiCl3–, Si(SiCl3)Cl2– und Si(SiCl3)2Cl– als wichtige Schlüsselintermediate auf.[5] Der Abbau des neo-Si5Cl12 mittels Chloridionen ermöglicht die Isolation des kristallinen Tris(trichlorsilyl)silanids[115] und führt bei längeren Reaktionszeiten zu einem Polymer bisher unbekannter Zusammensetzung.
Alternativ bilden sich, sofern die Chloridionen-Konzentration entsprechend hoch ist, cyclische, dianionische Silan/Chlorid-Komplexe.[114] Während des Abbaus von neo- Si5Cl12 mit Amin-Basen hingegen ist Si(SiCl3)3– lediglich ein bei tiefen Temperaturen mittels 29Si-NMR nachweisbares Zwischenprodukt, das bei höheren Temperaturen autokatalytisch an der Bildung eines Disilen-Basenaddukts beteiligt ist.[4]
Cl SiCl2 Cl2Si Cl2Si
Cl2Si SiCl2 SiCl2 Cl
Si2Cl6 Si
Cl Cl
Cl NR4Cl
CH2Cl2
neo-Si5Cl12 Si
Cl3Si SiCl3 SiCl3 [nBu4N]Cl
CH2Cl2
Si Cl3Si Cl
Cl Si
Cl3Si SiCl3 Cl
neo-Si5Cl12 Si
Cl3Si SiCl3 SiCl3 NMe2Et
Benzol Benzol
freeze quench Cl Si Cl EtMe2N
Si SiCl3
SiCl3 Polymer
(a)
(b)
(c)
Silikate
Bindungstheoretische Überlegungen für Verbindungen der Gruppe 14 bis 18 mit fünf oder sechs Substituenten, die nicht der Oktettregel folgen, wurden schon 1969 von Musher vorgestellt, der zu ihrer Beschreibung den Begriff der hypervalenten Verbindungen einführte.[117] Für die Anordnung der fünf Substituenten im Falle von pentakoordinierten Silikaten sind im VSEPR-Bild zwei Koordinationspolyeder denkbar, eine trigonale Bipyramide oder eine quadratische Pyramide. Tillmann wies kristallographisch eine (verzerrte) trigonal bipyramidale Anordnung der Substituenten für die im Folgenden untersuchten Silikate nach. Die Bindungssituation in Verbindungen mit pentakoordinierten Siliciumatomen kann anhand des ansonsten sehr mächtigen Hybridisierungsmodells nicht erklärt werden, zeigte doch Schleyer bereits 1990 mittels quantenchemischer Berechnungen, dass keine d-Orbital- beteiligung vorliegt.[118] In der gleichen Veröffentlichung schlägt Schleyer den Begriff Hyperkoordination an Stelle des Begriffs der Hypervalenz vor. Weiterhin zeigte er, dass die Beschreibung äquatorialer Bindungen durch sp2-Hybridorbitale und axialer Bindungen als 3c-4e Orbitalwechselwirkungen unplausibel ist, impliziert doch dieses Bild fälschlicherweise eine lediglich auf die axialen Bindungen beschränkte Polarität.
Alternativ zu Hybridisierungsmodellen beschreibt Cioslowski alle Bindungen als ionisch und formuliert no-bond Grenzstrukturen, in der jeweils ein Anion ungebunden vorliegt.[119] Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Shaik mit der Einführung des sogenannten charge shift bonding[120, 121] für hyperkoordinierte Verbindungen, bei der er eine Resonanz zwischen kovalenter und ionischer Natur der Bindung formuliert.[122]
Diese Art der Bindung lässt sich sowohl in der valence bond (VB) Theorie als auch im Rahmen der MO-Theorie definieren.[123]
Unabhängig von der theoretischen Betrachtung der Bindungssituation existiert eine Vielzahl an Kristallstrukturen von penta- und hexakoordinierten Silicium- verbindungen, genannt seien hier beispielhaft einige Silikate mit Halogen- substituenten: die von Boudjouk publizierten chelatisierten SiH2Cl2 und HSiCl3
Silikate[102, 124-128], Wagners neutrales TMEDASi2Cl6 Silikat,[129] ebenso Levasons
Schema 7. Auswahl von Kristallstrukturen mit penta- und hexakoordinierten Siliciumzentren: Boudjouks chelatisierte Silikate (X = Cl, H), Tillmans chelatisiertes Hexachlordisilan, Levasons Phosphin- und Diphosphin-Komplexe (R = Me, Et; X = Br, Cl) und Hoges penta- und hexakoordinierte Silikate mit Pentafluoroethylresten (X = Cl, F, Br, OPh). Gegenionen für geladene Verbindungen sind nicht dargestellt.
Phosphin- und Diphosphin-Komplexe von SiCl4 und HSiCl3[130], sowie Hoges penta- und hexakoordinierte Silikate mit Pentafluoroethylresten[131-135] (Schema 7). Durch geeignete Wahl der Substituenten am hyperkoordinierten Siliciumatom gelang es Kost, den Verlauf einer Isomerisierungsreaktion röntgenkristallographisch zu verfolgen[40] und Hupf et al. publizierten kürzlich den Verlauf der Trajektorie einer nucleophilen Substitution am Siliciumatom.[136] Ganz allgemein finden in der organischen Synthese hyperkoordinierte Siliciumverbindungen als Nucleophile und Hydrid- Donoren Anwendung. Sie ermöglichen C–C Bindungsknüpfungen, Trans- metallierungen und Kreuzkupplungen und dienen dem Chiralitätstransfer.[137-145] In all diesen Anwendungen ist der elementare Reaktionsschritt eine nucelophile Substitution zweiter Ordnung (SN2) an einem pentakoordinierten Siliciumatom. Für Silicium sind SN2-Reaktionen die Regel,[146] allerdings treten im Gegensatz zu SN2- Reaktionen am Kohlenstoff in Abhängigkeit vom gewählten Substitutionsmuster pentakoordinierte Intermediate auf.[147-149] Bickelhaupt erklärt das Auftreten pentakoordinierter Silikate mit seinem ball-in-a-box Modell, wonach der Größenunterschied zwischen Kohlenstoff und Silicium dazu führt, dass im Fall des
Hoge
2014 Hoge
2016 N
N Si
X X C2F5
C2F5 Si Cl
Cl C2F5
C2F5 Cl Boudjouk
2001 Si N Et2
Et
N NEt2
Cl X
H
Levason 2013 Si R2P
X X
X X
PR2
Si Et2P
Cl H
Cl Cl
PEt2
Wagner 2012
Si Me2N
Cl Cl
Cl SiCl3
NMe2
Boudjouk 1998
Si N Et2
Et
N Cl
Cl X
H
Siliciumzentralatoms die Bildung zweier verlängerter axialer Bindungen möglich ist, Kohlenstoffatome hingegen können nur eine kurze axiale Bindung ausbilden.[150]
Reaktivität von Silanen
Der gezielte Aufbau höherer perchlorierter Silane stellt bis heute eine Herausforderung dar, bislang sind lediglich neo-Si5Cl12, cyc-Si5Cl10 und cyc-Si6Cl12 durch gezielte Synthesen in nennenswertem Maßstab zugänglich.[102, 151-162] Der Amin- induzierte Aufbau des neo-Si5Cl12 aus Si2Cl6 oder Si3Cl8 ist seit Jahrzehnten bekannt.[151-156] Schweizer et al. publizierten kürzlich eine detaillierte mechanistische Arbeit zum Aufbau des perchlorierten Neopentasilans und identifizierten SiCl2NMe3
unzweifelhaft als reaktives Schlüsselintermediat in dieser Reaktion.[6] Die klassische Synthese der Cyclosilane cyc-Si5Cl10 und cyc-Si6Cl12 basiert auf der reduktiven Dechlorierung von Ph2SiCl2,[157] und dem anschließenden Austausch aller Phenylgruppen durch Chloratome.[158-161] Das Hauptprodukt dieser Synthese ist cyc- Si5Cl10, als Nebenprodukte entstehen in geringen Mengen cyc-Si4Cl8 und cyc-Si6Cl12. Boudjouk zeigte, dass Cyclohexasilane alternativ auch durch die Umsetzung von HSiCl3 mit Aminen zugänglich sind, allerdings resultiert diese Reaktion nicht in neutralen Verbindungen, sondern in einem dianionischen inversen Sandwichkomplex
Schema 8. Übersicht über die aus der jeweiligen Umsetzung von Hexachlordisilan mit Chlorid (links) und Amin (rechts) resultierenden Produkte; R = Me, Et, nBu.
Cl
NR3 (kat.)
NMe2Et Benzol freeze quench NR4Cl
CH2Cl2
NR4Cl
nBu3N (kat.) CH2Cl2
SiCl3 Si Cl3Si SiCl3
SiCl3
Si2Cl6
Si Cl Cl EtMe2N
Si SiCl3
SiCl3 SiCl2
Cl2Si Cl2Si
Cl2Si SiCl2 SiCl2 Cl
Cl– NR3
Cl
SiCl Si(SiCl3)
[Si6Cl122Cl]2–.[102] Tillmann et al. zeigten 2012, dass die Reaktion von Si2Cl6 mit TMEDA in Dichlormethan ebenfalls zu [Si6Cl122Cl]2– führt.[129] Weiterhin gelang ihnen die verblüffend selektive Synthese substituierter Sandwichkomplexe [1,y-(SiCl3)2Si6Cl122Cl]2– mit y=1,3,4 durch die Umsetzung von Si2Cl6 mit [nBu4N]Cl.[5] Bei 85 °C können die Silylgruppen abgespalten werden und durch Umsetzung mit AlCl3 lässt sich das neutrale Cyclohexasilan cyc-Si6Cl12 erhalten.[162] Bei der Reaktion von Si2Cl6 gegenüber Aminen oder Chloridionen entstehen je nach Wahl der Lewis-Base und Stöchiometrie unterschiedliche Produkte: Die Umsetzung mit Chloridionen führt zu Chlorid-komplexierten cyclischen Dianionen[5] oder einem Sila- fulleran mit Chlorid als endohedralem Gast,[163] während aus der Verwendung von Aminen als Lewis-Base neo-Si5Cl12 oder EtMe2N SiCl2 Si(SiCl3)2 resultiert (Schema 8).[4, 34, 151-156]
Motivation
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Aufklärung von Reaktionsmechanismen mittels quantenchemischer Methoden, die der Reaktivität einfacher Mono- und Disilane gegenüber Lewis-Basen zugrunde liegen. Dabei wurden experimentelle Arbeiten und Industriekooperationsprojekte durch mechanistische Untersuchungen begleitet. Ein besonderes Augenmerk lag dabei darauf durch das Verständnis grundlegender Bindungstransformationen einen alternativen Zugang zu scheinbar simplen Molekülen zu eröffnen, die synthetisch bisher nicht zugänglich waren.
Die Ausprägung der Lewis-Acidität siliciumorganischer Verbindungen hängt in erheblichem Ausmaß von der Substituentenwahl am Siliciumzentrum ab. Für die Monosilane lässt sich eine sinkende Acidität in der Reihenfolge SiCl4 > RSiCl3 >
R2SiCl2 > R4Si beobachten (R = H, Alkyl).[164] Der gleiche Trend gilt auch für höhere Silane (SinR2n+2), wobei die in diesem Fall präsenten Silylgruppen die Acidität der benachbarten Siliciumatome erhöhen. Wir haben zum einen den Auf- und Abbau von Si–Si Bindungen in den vergleichsweise aciden perchlorierten Silanen untersucht, zum
anderen den Austausch von Substituenten an Monosilanen vom Typ R2SiH2
(Schema 9).
Im ersten Kapitel dieser Arbeit wird die Reaktivität von SiCl2 in der Gasphase näher beleuchtet: Dabei wird der Reaktionsmechanismus für die Bildung höherer cyclischer und acyclischer Perchlorsilane etabliert, mögliche Produkte der Gasphasen- reaktion vorgeschlagen, deren Stabilität verglichen und schließlich mittels quanten- chemischer Berechnungen 29Si-NMR-chemische Verschiebungen für eine Vielzahl
Schema 9. Überblick über die in dieser Arbeit untersuchten Reaktionen, eingeteilt in Auf- und Abbau von Si–Si Bindungen (Urry,[165] Schweizer et al.,[4] Boudjouk,[102] Tillmann et al. 2012,[129] Tillmann et al.
2015,[114] Wiberg,[166] Hengge,[167] Neumeyer et al.[168, 169]), sowie den Austausch von Substituenten an Monosilanen (Dobrovetsky,[170] Auner/Holthausen[171]).
Aufbau von Si–Si Bindungen
Abbau
Substituentenaustausch
R4-nSiHn HCl Toluolkat.
R4-nSiCln R = Me, Et, Ph, nBu
kat. = B(C6H5)3, Et2O B(C6H5)3
R2SiH2 Ether/HCl R2SiHCl R = Me, Et, Ph, nBu, ...
Ether/HCl 100 °C
R2SiCl2 neo-Si5Cl12 HCl
Toluol 4 HSiCl3 + SiCl4
neo-Si5Cl12 HCl Toluolkat.
HSi(SiCl3)3 + SiCl4
neo-Si5Cl12 NMe3 [NMe3 SiCl3 NMe3][Si(SiCl3)]
4 Si2Cl6 NR3 (kat.) neo-Si5Cl12 + 3 SiCl4
4 Si2Cl6 NMe2Et EtMe2N SiCl2 Si(SiCl3) + 4 SiCl4 Benzol
[Si6Cl12 2Cl]2–
HSiCl3 PEDETA CH2Cl2
[Si6Cl12 2Cl]2–
Si2Cl6 NR4Cl CH2Cl2
AlCl3
Si6Cl12 [1,y-(SiCl3)2Si6Cl10 2Cl]2– 85 °C
Si2Cl6 NR4Cl kat.
CH2Cl2
[Si32Cl45 Cl]–
neo-Si5Cl12 1 eq Ether/HCl
HSi(SiCl3)3 + SiCl4 4 eq Ether/HCl
4 HSiCl3 + SiCl4 HCl
kat.
Toluol
4 HSiCl3 + SiCl4 R = Me, Et, Ph, nBu kat. = NR3Cl, NR3
R = Me, Et, Ph, nBu y = 1,3,4 R = Me, Et, Ph, nBu
kat. = nBu3N Urry
1960
Schweizer et al.
2016
Boudjouk 2001
Tillmann et al.
2012
Tillmann et al.
2015
Wiberg 1962
Hengge 1980
Schweizer et al.
2016
Neumeyer et al.
2016
Auner/ Holthausen 2018 Dobrovetsky
2017
bislang experimentell nicht charakterisierter Perchlorsilane vorhergesagt. Im darauf folgenden Kapitel werden die Ergebnisse mechanistischer Untersuchungen zum Chlorid-induzierten Aufbau von [cyclo-Si6Cl122 Cl]2– aus Si2Cl6 vorgestellt und mit dem Reaktionsmechanismus für den Amin-katalysierten Aufbau von neo-Si5Cl12 aus Si2Cl6 verglichen. Mithilfe von quantenchemischen Analysemethoden wie der natural bond orbital (NBO) Analyse nach Weinhold und Baders quantum theory of atoms in molecules (QTAIM) werden Strukturmotive und Bindungsmodelle für das Dichlor- silylen (SiCl2), sein Aminaddukt SiCl2NMe3 und ein Silanid (SiCl3–) etabliert.
Weiterhin wird der Abbau von neo-Si5Cl12 mit Chloridionen diskutiert und wesentliche Zwischenprodukte dieser Reaktion charakterisiert, sowie die Fragmentierung der Abbauprodukte in der Gasphase untersucht und mit experimentell gemessenen Massenspektren verglichen. Zusätzlich wurde ausgehend vom kleinsten denkbaren perchlorierten Silanid (SiCl3–) der Einfluss zusätzlicher Silylgruppen am subvalenten Siliciumzentrum (1–, 2–, 3–) mittels QTAIM und NBO untersucht (Schema 10). Im letzten Kapitel schließt sich eine Untersuchung der Reaktivität von konzentrierten HCl/Ether-Lösungen mit Me2SiH2 an, wobei die Natur der HCl/Ether Lösung in einem kurzen Exkurs beleuchtet wird.
Schema 10. Lewis-Strukturen der in Kapitel 2.5.4 mittels NBO und QTAIM untersuchten perchlorierten Silanide SiCl3–, 1–, 2– und 3–.
Si
Cl Cl
Cl Si
Cl Cl
SiCl3 Si
Cl SiCl3
SiCl3 Si
Cl3Si SiCl3 SiCl3
SiCl3– 1– 2– 3–