Von Egon Brucker, Würzburg
Die indische RituaUiteratur kennt eine große Zahl von Zeremonien' ,
die im Leben eines Hindu eine entscheidende Rolle spielen. Der
Fachausdruck dafür lautet sarnskärä, was die Wörterbücher gewöhnlich
mit „Weihe, Ritus" übersetzen. Manchmal findet man dafür auch
„Sakrament". Jedoch heilschaffende Machtverdinglichungen oder Gna¬
denmittel, wie sie die christliche Lehre mit dem Sakrament verbindet,
sind hier nicht beabsichtigt.
Die Mehrzahl dieser Riten bezieht sich auf die Zeit zwischen Geburt
und Tod. Nur wenige, darunter auch das Puijisavana-Ritual, werden
schon vorher vollzogen^. Bei diesem Ritual handelt es sich um eine
Schwangerschaftszeremonie, deren Ziel es ist, einen Sohn zu bekom¬
men'. Hiermit ist eine Reihe von Handlungen verbunden, die jeweils in
den einzelnen Grhyasütras beschrieben werden. Bemerkenswert ist
dabei, daß diese Texte des häuslichen Rituals hier öfters Unterschiede
aufweisen. Diese können sich sowohl auf die Zahl der Handlungen
beziehen als auch auf die Praktiken selbst. Immer jedoch ist ein Kem
solcher Handlungen festzustellen, der in allen Texten vorkommt und
deshalb fiir ein bestimmtes Ritual als charakteristisch anzusehen ist.
Bei dem Puipsavana ist dies nicht anders.
Auch der Zeitpunkt, zu dem speziell bei diesem Ritual die einzelnen
Praktiken vorgenommen werden sollen, ist unterschiedlich geregelt.
Die Texte erwähnen hier in der Regel einen Zeitraum von wemgen
Wochen, innerhalb dessen diese Zeremonie besonders wirksam sein
' Vgl. dazu: A. Hillebrandt: Ritualliteratur. Vedische Opfer und Zauber.
Straßburg 1897. (Grundriß der Indo-Arischen Philologie und Altertumskunde.
III, 2.); J. Gonda: The Ritual Sütras. Wiesbaden 1977. [Handbuch der indischen Literatur Vol. 1, 2.); J. Gonda: Vedic Ritual. Leiden 1980. [Handbuch der Orien¬
talistik. 2. Abt., 4. Bd., 1 Abschn.).
^ Dazu gehören außerdem: ni^eka, rtusarngamana, garbhddhäna, garbhalarß- bhana, garbharak^ana, garbhasthäpana.
' Gonda: Ritucd Sütras 557, 560; Gonda: Vedic Ritual 368ff.; Hille¬
brandt: Ritualliteratur ^\{.
soll. Dafür spricht die Stelle ÄpGS 14,9, wonach das Puipsavana zwi¬
schen dem 2. Monat der Schwangerschaft und der Zeit, in der diese
sichtbar wird, durchzuführen ist. Nach BaudhGS 1,9,1 und ÄpGS 14,9
wirderum kann die Puipsavana-Zeremonie auch vorgenommen werden,
wenn der Mond mit einem männlichen, glückbedeutenden Sternbild in
Konjunktion steht. Andere Texte hingegen halten den Zeitpunkt für
geeignet, an dem die Sternbilder Tisya, Pusya bzw. Sravana am Firma¬
ment stehen*. Jedoch die für das Puipsavana in den Grhyasütras am
häufigsten genannte Zeit ist der 2.-4. Schwangerschaftsmonat. Dies
bezeugen mehrere Texte'^. Alle stimmen darin überein, daß die für das
Pumsavana vorgeschriebenen Zeremonien immer einige Wochen nach
der Zeugung eines Kindes vorzunehmen sind. Welches sind die Gründe
dafür?
Die Ritualliteratur gibt dazu keine näheren Aufschlüsse. Dagegen
können uns die klassischen medizinischen Lehrbücher der Inder einen
Eindruck davon vermitteln, wie man sich den Verlauf der Schwanger¬
schaft besonders in den ersten Monaten vorstellte. Ich beziehe mich
dabei auf das Werk von Vägbhata, einem Mediziner, der nach neueren
Forschungen etwa im 7. Jh. n.Chr. lebte. Zwar liegt zwischen dem
Erscheinen des Lehrbuches dieses indischen Mediziners und dem der
meisten Grhyasütras ein erheblicher Zeitunterschied, doch diese Tat¬
sache ist sekundär, wenn man berücksichtigt, daß die Grundgedanken
der klassischen indischen Medizin in eine viel frühere Zeit zurückrei¬
chen; von den Anfangen im AV einmal abgesehen. Dies läßt sich im Fall
Carakas nachweisen, dessen nach ihm benanntes Werk, die Caraka-
Sarnhitä, bekanntlich nicht ein Originalwerk darstellt, sondern auf der
Bearbeitung eines älteren Tantra beruht. Somit dürfte die systema¬
tische Darstellung der klassischen indischen Medizin bereits in eine
Zeit zurückreichen, die sich an das Erscheinen der meisten Grhyasütras
anschließt.
Die zentrale Frage, die fiir das richtige Verständnis des Puipsavana-
Rituals entscheidend ist, ist die Frage nach dem Zeitpunkt, zu dem
naeh indischer Auffassung das Geschlecht eines Kindes bestimmt ist.
Während sich die Grhyasütras zu dieser Thematik nur generell äußem,
berichten die medizinischen Bücher naturgemäß mehr darüber. Aber
direkt oder gar ausführlich wird dieses Thema auch hier nicht behan¬
delt. Lediglich aus den Angaben, die sich mit der Empfängiüs beschäfti-
* A6vGS 1,13,2; ÄpGS 14,9; SähkhGS 1,14,2.
^ SähkhGS 1,2; ASvGS 1,13,2; VärGS 16,5; GobhGS 2,6,1; KhGS 2,2,17;
HirGS 2,2,2; BharGS 1,22; VaikhGS 3,11; PärGS 1,14,1.2; Kätb GS 32,2.
Egon Brucker
gen, ist zu erfahren, welche Ansicht die indische Medizin in diesem
Punkt vertrat. Bei Vaghba^a finden sich die entsprechenden Hinweise
in seinem Lehrbuch Astängahrdayasarnhitä in dem Kapitel „äarira-
sthäna". Hilgenberg und Kirfel, welche dieses Werk übersetzt
haben", überschreiben diesen Abschnitt einfach mit „Körper". Ver¬
gleicht man diese Angaben mit denen in den Grhyasütras, so sind über
den Zeitpunkt, zu dem die geschlechtliche Fixierung eines Kindes fest¬
steht, zwei Auffassungen zu erkeimen. Nach der einen ist das
Geschlecht eines Kindes bereits mit der Zeugung bestimmt. Im andem
Fall tritt dieses Stadium erst einige Wochen nach der Zeugung ein. Für
die erstere Ansicht sprechen jene Textstellen, nach denen eine Frau mit
der Geburt eines Sohnes rechnen kann, wenn der Mann ihr an den gera¬
den Tagen der zwölf Nächte nach der letzten Menses beiwohnt. Die
Erzielung männlichen Nachwuchses wird ferner in Aussicht gestellt,
wenn bei der Vereinigung von Mann und Frau der männliche Same
gegenüber dem weiblichen Menstmationsblut überwiegt. Auch eine der
Konzeption unmittelbar vorausgehende Zeremonie [putriya vidhi) soll
dieselbe Wirkung erzielen. In allen diesen Fällen ist das Geschlecht
eines Kindes mit der Befmchtung der Oozyte bestimmt.
Nach der herrschenden Meinung, die auch Vägbhata vertrittt, befin¬
det sich der Embryo anfangs eine längere Zeit hindurch in einem indif¬
ferenten Zustand. Dieser ist zunächst eine zusammengeballte Masse
aus fünf Elementen und wird nach sieben Tagen zum Kalali bzw.
Kalala. Im zweiten Monat wird daraus ein Klumpen {ghana), ein Stück
Fleisch, Muskel {pesi) oder ein längliches bzw. halbkugelförmiges Ge¬
bilde {arbuda), das sich unter der Einwirkung von Hitze, Kälte und
Wind weiterentwickelt. Daraus wurde je nachdem ein Junge, Mädchen
oder Zwitter {napurjßsaka). Im dritten Monat werden dann die einzelnen
Körperteile weiter ausgebildet. Der Abschnitt 3 7 ff. im Kapitel „Kör¬
per", dem diese Beschreibung entnommen ist, ist noch in anderer Hin¬
sicht von Bedeutung. Einmal ist es die einzige Stelle im Lehrbuch Vägh-
batas, in der von den Puipsavana-Zeremonien die Rede ist. Zum andem
findet sich hier eine Formuliemng, die im Zusammenhang mit diesem
Ritual in den Texten einmalig sein dürfte. Es heißt dort: „Noch unent-
faltet (d. i. unauflallig) im ersten Monat, wird der Embryo nach sieben
Tagen zum Kalali (und) dann verrichte man, noch bevor er auffällig
geworden ist, die Puipsavana-Zeremonien; denn kraftvolles Menschen¬
werk überwindet selbst das Schicksal". Bemerkenswert ist dabei der
" L. Hilgenberg und W. Kirfel: Väghbata's Astängahrdayasarphitä, ein
altindisches Lehrlmch der Heilkunde. Leiden 1941.
Schlußsatz. Der Autor spricht hier die übernatürlichen Mächte an, die
bei der Vollziehung der einzelnen Handlungen von den beiden Eltern,
den Hauptakteuren bei diesen Zeremonien, ausgehen. Die hierbei wirk¬
samen Kräfte sollen einen schicksalhaften Ausgang dieses Rituals ver¬
hindern, d.h. es soll am Ende der Schwangerschaft ein männlicher
Nachkomme geboren werden. Allerdings werden auch die Inder erfah¬
ren haben, daß trotz gewissenhaftester Beachtung der einzelnen Vor¬
schriften dieses Rituals der Erfolg oftmals ausgeblieben ist.
Aber warum ist gerade der 2.-4. Monat der Schwangerschaft die ge¬
eignete Zeit zur Erzielung eines männlichen Nachkommen? Hierauf
kann uns die heutige Medizin, im besonderen die Embryologie', eine
schlüssige Antwort geben. In medizinischer Hinsicht bedeutet das Ende
des 2. Monats in der Schwangerschaft einen wichtigen Einschnitt in der
Entwicklung eines Kindes. Es ist der Übergang von der Embryonal- in
die Fetalphase. Letztere beginnt mit dem 3. Schwangerschaftsmonat.
Bereits zu dieser Zeit sind die einzelnen Körperteile und Organe im
Ansatz ausgebildet, so daß die Fetalphase im wesentlichen eine Wachs-
tmnsperiode darstellt.
Entscheidend für unsere Betrachtung ist die Entwicklung des Uroge¬
nitalsystems. Hier zeigt sich, daß in der 6. Entwicklungswoche beim
männlichen und weiblichen Embryo zwei Genitalkanäle vorhanden
sind: der aus der Urniere kommende sog. WoLFF-Gang und der neu ge¬
bildete Mülle R-Gang. Zu dieser Zeit liegt visuell noch ein geschlechts¬
indifferentes Stadium vor. Beim männlichen Embryo ist gegen Ende
der 8. Woche der MtiLLER-Gang vollständig zurückgebildet zugunsten
des WoLFF-Ganges. Beim weiblichen Embryo ist es gerade umgekehrt.
Die Entwicklung der äußeren Genitalien geht demgegenüber von
einer speziellen Falte aus, der sog. Kloakenfalte, die durch eine Ver¬
dichtung des Mesenchyms entsteht. Die wichtigsten äußerlich sichtba¬
ren Teile sind an ihr oben der sog. Genitalhöcker, unten die Analfalten
und zwischen beiden die Urethralfalten. In der unmittelbar darauf fol¬
genden Phase tritt eine Verlängerung des Genitalhöckers ein, woraus
der Penis entsteht. Mit der 10. Woche ist dieser Übergang vollzogen.
Nur die Urethralfalten, aus der am Ende des 3. Monats die Urethra
wird, sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht geschlossen. Beim weibli¬
chen Geschlecht treten bei der Entwicklung des äiüieren Genitale nicht
so tiefgreifende Veränderungen auf wie beim männlichen. Der Genital¬
höcker wird hier zur Klitoris. Die Urethralfalten bilden die labia minora
und die Genitalwülste entwickeln sich zu den labia majora. Bereits in
' J. Landman: Medizinische Embryologie. Stuttgart 1980.
der 10. Schwangerschaftswoche ist diese Differenzierung vollzogen.
Obwohl der Fetus zu dieser Zeit nur etwa eine SSL (= Scheitel-Steiß-
Länge) von ca. 8 cm besitzt und ein Gewicht von etwa 30-45 Gramm
hat, besitzen die Gliedmaßen bereits die relative Länge im Vergleich
zum übrigen Körper. Der Kopf ist allerdings noch überdimensional
groß.
Die hier beschriebene Entwicklung des Urogenitalsystems in der
Embryonal- bzw. beginnenden Fetalphase macht deutlich, daß ein
enger Zusammenhang zwischen der beim Pumsavana angegebenen Zeit
und der in der Embryologie bekannten Entwicklungsperiode eines Kin¬
des besteht. Nach dem neuesten Stand der heutigen Embryologie sind
die Genitalien eines Kindes bereits zwischen der 8. und 10. Schwanger¬
schaftswoche soweit entwickelt, daß zu diesem Zeitpunkt das
Geschlecht deutlich zu erkennen ist. Wenn die Texte für das Puipsava-
na-Ritual manchmal eine Zeit erwähnen, die sogar über den 4. Schwan¬
gerschaftsmonat hinausgeht, so hängt dies damit zusammen, daß darm
die äußeren Geschlechtsmerkmale weiter entwickelt waren und über
das Geschlecht des Kindes kein Zweifel mehr bestand.
Doch wie ist es zu erklären, daß die Inder damals schon so detaillierte
Keimtnisse über die einzelnen Stadien eines Embryo hatten? In erster
Linie waren es die abortierten Embryos und Feten, die ihnen als
Anschauungsmaterial und Versuchsobjekt zugleich gedient hatten. Mit
ihrer Hilfe waren sie in der Lage, die einzelnen Phasen eines Embryo in
den ersten Wochen und Monaten genau zu studieren. So war es nahelie¬
gend, eine Zeremonie, die auf die Erzielung männlicher Nachkommen¬
schaft gerichtet ist, zu jener Zeit zu veranstalten, in der die äußeren
Geschlechtsmerkmale eines Embryo erstmals zu erkennen sind. Und
darauf beziehen sich in der Mehrzahl der Fälle auch die in den Grhyasü¬
tren für das Purpsavana-Ritual angegebenen Zeiten.
Summary
In the Indian literature, there is a great number of ceremonies, the so-
called sarnskäras. One ofthe most important prenatal rituals is the Puip¬
savana. Its purpose is to secure the birth of a male child. This ritual,
which is recorded in almost all manuals ofthe Grhyasütras, is performed at various times. The practise of these rites usually takes place between
the 2°*^ and 4* month of pregnancy. In this connection the question ari¬
ses, why the obligatory ceremonies for it take place just at this moment.
Today's medicine, especially the science of embryology, is in a posi¬
tion to give further details. Medically, the end ofthe 2"'' month of pre¬
gnancy signifies an essential tuming point in the development of a
child. It is the transition of the embryonic phase into the fetal phase.
This begins with the 3"* month of pregnancy. Already at this time the
individual parts of the body and the organs are present in their initial
states.
Of great importance for our consideration is the development of the
uro-genital system and the exterior genitals. According to the latest
embryological knowledge, the genitals of a child are so well developed
between the 8* and 10* weeks of pregnancy that the genitals can
already be seen distinctly.
Examining the premature foetus, the Hindoos could discover which
stage of the development the embryo has reached. Therefore, it was
easy to perform a ceremony to assure the birth of a male child immedia¬
tely before that time in which the extemal sex characteristics are deve¬
loped.
(Doeuments from Nepal. 4.)
Von Bernhard Kölver, Kiel
1. Einleitung
Speziell für den indischen Subkontinent sind Urkunden aus dem All¬
tagsleben, wie sie durch die großzügige Unterstützung der Deutschen
Forschungsgemeinschaft und ihres Schwerpunkts Nepal nun in etwas
größerer Zahl zusammengetragen werden, aus vielen Gründen interes¬
sant. Denn über das tägliche Leben in den hinduistischen Staaten des
Mittelalters, und besonders über die gewöhnlichen Rechtsgeschäfte,
sind wir nicht allzu gut, und durch die indische Rechtsliteratur im
Grunde eher einseitig, unterrichtet. Zu deren Vorschriften stehen Doku¬
mente in einer deutlichen Polarität. Die literarischen Texte sind dem
dharma- zutiefst verpflichtet. Und weim sie auch — ein Zeichen bewun¬
dernswerter Toleranz bei einem Weltbild, das soziale Beziehungen in so
unerhörter Rigidität bestimmt — den Brauch des Landes, den
Brauch der Familie (desäcära-, kuläcära-) ausdrücklich als Rechts¬
quelle anerkennen, verweilen sie dennoch vor allem auf dem, was mit
den Ewigen Normen im Einklang steht; sie sind nicht der Rahmen, in
dem man jene tolerierten Abweichungen ausgemalt zu sehen erwarten
darf.
Besonders zu Dienstverhältnissen, zu Knechtschaft und Sklaverei ist
das dokumentarische Quellenmaterial aus dem Subkontinent nicht
reichlich, wie überhaupt zu allem, was sich an die Vergänglichkeit
menschlichen Lebens knüpft. Auch in Nepal, wo die Gunst des Klimas
vieles bewahrt hat, das anderswo untergegangen ist, habe ich zu den im
folgenden publizierten beiden Stücken bisher keine direkten Parallelen
gefunden.
Die Dokumente gehören zu der ältesten und besten unter den bisher
bekannt gewordenen Sammlungen nepalischer Palmblatturkunden. Sie
stammt aus dem Uku Bähäh (skt. Rudravarna-Mahävihära) in Pätan.
Über die Fundumstände haben Pt. Hemräj Säkya und ich an anderer