DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
ZUR FORTBILDU Behandlung der schweren Digitalisintoxikation
Georg Mager, Harald Kaemmerer, Hans Wilhelm Höpp und Hans Hermann Hilger
eit der ersten therapeuti- schen Anwendung von Di- gitalis-Antikörper-Frag- menten (Fab) durch Smith et al. im Jahre 1976 (14) hat sich bei lebensbedrohlichen Intoxikationen mit Digitalisglykosiden die Verabrei- chung von Digitalis-Antitoxin in zahlreichen Fällen bewährt. Dies gilt sowohl für Vergiftungen mit Digoxin (17) als auch mit Digitoxin (11).
Schwere Digitalisvergiftungen erfolgen häufig in suizidaler Absicht.
Sie sind demgegenüber seltener Fol- ge einer versehentlichen Einnahme oder einer Therapienebenwirkung (17). Hohe Einzeldosen und hohe Serumkonzentrationen führen dabei zu lebensbedrohlichen Komplikatio- nen, wobei oftmals therapiefraktäre Herzrhythmusstörungen im Vorder- grund stehen.
Behandlung
Die Sequenz der therapeuti- schen Maßnahmen richtet sich nach dem Schweregrad der Vergiftung.
Als toxisch gelten Serumspiegel über 3ng/ml für Digoxin beziehungsweise über 40 bis 45ng/ml für Digitoxin, wobei die Toxizität aber von diversen biologischen Faktoren wie zum Bei- spiel Alter, Elektrolytstoffwechsel- störungen beeinflußt wird (10). Die individuelle Glykosidempfindlichkeit variiert stark, und so gibt es keine si-
Die immunologische Bindung frei- en Glykosids an Digitalis-Antikör- per-Fragmente stellt derzeit die effektivste Therapiemaßnahme zur Behandlung schwerer Digita- lisintoxikationen dar. Dieses Ver- fahren hat die Prognose solcher Vergiftungen in den letzten Jahren entscheidend verbessern können.
Tabelle 1: Zustände mit ver- minderter Digitalistoleranz be- ziehungsweise -bedarf Niereninsuffizienz (Digoxin) Leberinsuffizienz (Digitoxin,
l-Methyldigoxin) Hypokaliämie Hypomagnesiämie Hyperkalzämie Alkalose FIypoxämie
koronare Herzkrankheit Myokarditis
Gor pulmonale hohes Alter
geringe Muskelmasse Hypothyreose
chere Grenze zwischen therapeuti- scher und toxischer Glykosidkonzen- tration (6).
Zu den initialen Maßnahmen gehört die primäre Giftelimination durch Magenspülung, ergänzt durch Verabreichung von Kohle, Natrium- sulfat und Cholestyramin (letzteres bei Digitoxin: siehe 2, 3). Bradykarde Rhythmusstörungen werden durch
Atropin, Ipratropiumbromid oder durch Einlegen einer passageren Schrittmachersonde behandelt.
Letzteres kann auch durchaus schon prophylaktisch indiziert sein. Bei der Anwendung von Sympathikomimeti- ka besteht die Gefahr, daß schwere ventrikuläre Arrhythmien ausgelöst werden. Gegen ventrikuläre Extrasy- stolen und Arrhythmien können An- tiarrhythmika wie Lidocain oder auch Diphenylhydantoin, das Digita- lismoleküle kompetitiv aus ihrer Re- zeptorbindung verdrängen soll, ein- gesetzt werden. Bei supraventikulä- rem Ursprung der Ektopien bewäh- ren sich Verapamil oder Betablok- ker.
Störungen des Elektrolytstoff- wechsels (Kalium!) erfordern eine engmaschige Kontrolle und bedarfs- adaptierte Korrektur (10).
Da nur etwa ein Prozent des Di- goxins und sechs bis sieben Prozent des Digitoxins im Intravasalraum verbleiben, versprechen Maßnah- men wie die forcierte Diurese oder Hämodialyse keinen Erfolg (8, 13).
Eine beschleunigte Giftelimination läßt sich für Digitoxin, nicht aber für Digoxin mit der Hämoperfusion oder der Plasmaseparation erzielen (7, 8, 11).
Antidot-Therapie
Seit 1983 stehen für die Behand- lung schwerer Digitalisvergiftungen spezifische Digitalisantikörper zur Verfügung (15). Ihre Wirkung setzt überwiegend nach etwa ein bis drei Stunden ein; zum Teil kommt es aber auch schon unter laufender In- fusion des Antitoxins zur Rückbil- Medizinische Universitätsklinik III
(Direktor: Professor Dr. med.
Hans Hermann Hilger) der Universität zu Köln
Dt. Ärztebl. 86, Heft 44, 2. November 1989 (55) A-3295
Tabelle 2: Pharmaka, die in Kombination mit Herzglykosi- den zu unerwünschten Inter- aktionen führen können Amiodarone
Amphotericin Captopril Chinidin
Diuretika, die Kaliumverluste induzieren
Glukose-Infusionen Reserpin
Succinylcholin Sympathikomimetika Theophyllin
Tricyclische Antidepressiva Verapamil
Tabelle 3: Extrakardiale Symptome bei Digitalisintoxikationen allgemein: — Müdigkeit
—Muskelschwäche gastrointestinal
(zum Teil zentral bedingt):
—Appetitlosigkeit
—Übelkeit
—Erbrechen
—Durchfälle
—abdominale Schmerzen
—Desorientierung
—Unruhe, Agitiertheit
—Schlaflosigkeit
—Psychosen, Halluzinationen
—Schwindel
—Sehstörungen
(zum Beispiel: Verschwommensehen, verändertes Farbsehen, Skotome, Wahrnehmung von Flimmern, Blitzen) zentralnervös:
dung der klinischen Symptomatik (17). Die Latenzzeit muß mit den oben genannten symptomatischen Maßnahmen überbrückt werden.
Da das Digitalis-Antitoxin aus Schaf-Serum gewonnen wird, sind, zumindest bei wiederholter Applika- tion anaphylaktische Reaktionen möglich. Vor Infusion des Digitalis- Antitoxins muß daher ein Intraku- tan- oder Konjunktivaltest durchge- führt werden.
Bei den Digitalisantikörpern handelt es sich um Immunglobuline, die enzymatisch durch Papain in drei Anteile aufgespalten werden. Der unerwünschte Fc-Anteil (Fragment crystalline), der komplementaktivie- rend und allergen wirkt, wird dabei von zwei Fab(Fragment antigen bin- ding)-Anteilen abgespalten. Letztere tragen die Antigenbindungsstellen.
Initital wird freies Glykosid, das im Gefäßsystem zirkuliert, durch Di- gitalisantikörperfragmente (Fab) ge- bunden. Anschließend diffundiert Fab in den Extrazellulärraum (EZR) und bildet dort mit dem freien Digi- talisglykosid unwirksame Antikör- per-Glykosid-Komplexe. Hieraus re- sultiert eine Konzentrationsabnah- me der extrazellulären freien Glyko- side. Zum Konzentrationsausgleich entweicht daraufhin freies Glykosid aus der Zelle und wird dann eben- falls extrazellulär gebunden.
Im Blutserum kommt es dabei zu einem raschen Anstieg des neu- tralisierten, Fab-gebundenen Ge- samtglykosids. Die Messung des frei- en Glykosids — die technisch sehr aufwendig ist — zeigt demgegenüber sofort einen steilen Konzentrations- abfall auf Werte unterhalb der Toxi- zitätsgrenze (17). Der Gesamtglyko-
sidspiegel im Serum sinkt mit zuneh- mender renaler Elimination und Metabolisierung der Fab-Glykosid- Komplexe kontinuierlich ab.
Die für eine effektive Therapie benötigte Dosis von Digitalisantikör- pern richtet sich nach der Glykosid- menge im Körper. Als Dosierungs- richtlinie dient die Angabe, daß 80mg Digitalis-Antidot (Boehringer- Mannheim) lmg Digoxin oder Digi- toxin im Körper binden. In Fällen, in denen die eingenommene Glykosid- menge nicht rekonstruiert werden kann, wird sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern die Gabe von sechs Injektionsflaschen zu 80mg Di- gitalis-Antitoxin empfohlen. Die Ap- plikation erfolgt in Form einer Kurz- infusion, wobei die gesamte Fab- Menge in physiologischer Kochsalz- lösung verdünnt (Endkonzentration 2 bis 4 mg/ml) und über 30 Minuten infundiert wird (17).
Bei bekanntem Serumblutspie- gel gilt überschlagsmäßig, daß 1 ng/
ml Digoxin beziehungsweise 10 ng/
ml Digitoxin einem Milligramm des im Körper gebundenen Medikamen- tes entsprechen (10).
Eine erneute Gabe des Antito- xins kann in Einzelfällen nach einem etwa zehnstündigen Intervall not- wendig werden, wenn die Menge freier Fab-Fragmente im Serum nicht mehr ausreicht, rückverteilte Glykosidmoleküle oder solche, die aus dem Komplex dissoziieren, zu neutralisieren (6).
Therapiekontrolle
Die Beurteilung des Schwere- grades der Intoxikation anhand des Glykosidspiegels ist problematisch.
So gibt es bislang keinen Immunoas- say, der innerhalb kürzester Zeit ver- fügbar ist. Zuverlässige Glykosid- spiegel können erst bestimmt wer- den, wenn die Verteilungsphase in- nerhalb des Organismus abgeschlos- sen ist, das heißt bei schweren Ver- giftungen erst nach mehr als acht Stunden. Ein derart langer Zeitraum kann aber vor Beginn der Therapie zumeist nicht abgewartet werden (8).
Die bislang erhältlichen Immu- noassays messen die Gesamtkonzen- tration des Glykosides im Serum.
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Nach einer Antidot-Behandlung sind Glykosidspiegelbestimmungen daher nur dann aussagekräftig, wenn zuvor durch aufwendige Verfahren eine Denaturierung des Glykosid-Anti- dot-Komplexes erfolgte (6, 16). Der Therapieerfolg muß daher vorwie- gend am klinischen Bild und anhand elektrokardiographischer Zeichen beurteilt werden (Tabellen 1 und 2) (1, 4, 5, 9). Zur Verlaufsbeobachtung der Glykosidintoxikation eignen sich dabei vorzugsweise die Rückbildung der bradykarden oder tachykarden Rhythmusstörungen sowie die Nor- malisierung der QTc-Dauer.
Abschließend muß betont wer- den, daß das Medikament infolge seiner eingeschränkten Verfügbar- keit, der nicht sicher auszuschließen-
Tabelle 4: Elektroka.rdiographi- sche Veränderungen unter Di- gitalis
mulden-/grabenförmige ST-Senkungen
T-Abflachungen/Negativierungen Verkürzung der QTc-Dauer PQ-Verlängerung
sämtliche bradykarden oder tachykarden Rhythmusstörungen
den Antigenität (bislang wurden kei- ne bedeutsamen anaphylaktischen Reaktionen beschrieben) und infol-
ge seines hohen Preises (sechs Fla- schen kosten zirka 7500 DM) nur bei lebensbedrohlichen Digitalis-Intoxi- kationen Verwendung finden kann.
Andererseits stellt die Therapie mit Digitalis-Antidot bei entspre- chender Indikation die Therapie der Wahl dar.
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonder- druck, anzufordem über die Verfasser.
Anschrift der Verfasser:
Dr. med. Georg Mager Dr. med. Dr. med. vet.
Harald Kaemmerer
Medizinische Universitätsklinik III Joseph-Stelzmann-Straße 9
5000 Köln 41
Amyloidose bei Morbus Crohn
Beim Morbus Crohn wird das Patientenschicksal teilweise durch die sekundäre Amyloidose bestimmt, die bei mindestens einem Prozent der Crohn-Patienten auftritt. Die Ausdehnung der Darmentzündung scheint Einfluß auf die Häufigkeit der Amyloidose zu haben. Bis zur Diagnosestellung einer Amyloidose hatten 72 Patienten im Mittel seit 9,8 Jahren einen Morbus Crohn. 40 Pa- tienten verstarben etwa zwei Jahre später. Bei 64 der 72 Patienten mani- festierte sich diese sekundäre Er- krankung an den Nieren. Aufgrund der schlechten Prognose — über 50 Prozent der Patienten verstarben an einem Nierenversagen — sind wegen des Leitsymptoms Proteinurie regel- mäßige Proteinbestimmungen und zusätzlich bei einer rektoskopischen Untersuchung die Kongorotfärbung der Biopsate als Vorsorgemaßnah- men gerechtfertigt.
Wird letztendlich eine sekundä- re Amyloidose diagnostiziert, ist die erfolgreiche Behandlung der auslö- senden Grunderkrankung der einzi- ge Therapieansatz; die medikamen- töse Therapie befindet sich noch im Anfangsstadium. Zurückhaltung ist zunächst bei der Darmresektion zu üben, da postoperativ häufig Nieren- versagen beobachtet wurde.
Bei einer Nierenamyloidose und einer Kreatininclearance über zehn ml/min ist ein Therapieversuch über sechs Monate mit Colchicin oder Di- methylsulphoxid möglich, eine Hä- modialysebehandlung stellt die letzte Alternative dar. Mit einem Fort- schreiten der Amyloidose in anderen Organen muß gerechnet werden.
mle
E. Gries, M. V. Singer, H. Goebell: Amy- loidose bei Morbus Crohn, Med. Klin. 84 (1989), 65-71 (Nr. 2)
Prof. Dr. Manfred V. Singer, Abteilung für Gastroenterologie der Medizinischen Kli- nik und Poliklinik, Universitätsklinikum, Hufelandstr. 55, D-4300 Essen 1
Akutes
Nierenversagen
Das akute Nierenversagen (ANV) — charakterisiert durch plötz- liches Auftreten, kontinuierlichen und deutlichen Anstieg des Serum- kreatinins sowie Abfall der Kreati- nin-Clearance um 50 Prozent — ist ei- ne häufig auftretende, exkretorische renale Funktionsstörung mit hoher Mortalität. Zentrales Diskussions- thema ist heute die ischämische oder toxische Tubuluszellschädigung, die zur Oligo-Anurie führt.
Folgende prädisponierende Fak- toren werden für ein ANV beobach- tet: hohes Alter, Diabetes mellitus, Dehydratation, septische Tempera- turen, ausgedehnte Operationen mit Blutdruckabfall und Gewebstrauma, Gabe von nichtsteroidalen Antiphlo- gistika, Aminoglykosiden und beson- ders von Röntgenkontrastmitteln.
Häufig ist nicht eine einzelne Noxe, sondern das Zusammentreffen mehrerer Risiken wegweisend.
Therapeutische Ansatzpunkte mit Furosemid, Ca-Antagonisten und atrialem natriuretischen Peptid dienen zur Vermeidung von Oligo- Anurie und Zeilschädigung sowie zur Aufrechterhaltung der Nieren- perfusion. Ultima ratio ist die Hämo- dialyse.
Die zusätzliche Dopamingabe ist genau wie eine hochkalorische Nah- rung sowie die Vermeidung von Hy- povolämie, Hypotonie und potentiell nephrotoxischer Substanzen ein we- sentlicher Bestandteil der ANV-Pro- phylaxe. mle
H. J. Talartschik et al.: Akutes Nierenver- sagen. Nieren- und Hochdruckkrank- heiten, 18, 1989, S. 17-21
Dr. med. H.-J. Talartschik, Robert-Koch- Straße 40, 3400 Göttingen.
Dt. Ärztebl. 86, Heft 44, 2. November 1989 (59) A-3299