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enn ein Arbeitneh- mer arbeitsunfähig er- krankt ist, muss er nach dem Entgeltfortzah- lungsgesetz dem Arbeitgeber eine ärztliche Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit (AU) sowie deren voraus- sichtliche Dauer vorlegen, wenn die Arbeitsunfähigkeit länger als drei Kalenderta- ge dauert. Die Bescheinigung kann nur von einem appro- bierten Arzt ausgestellt wer- den. Kassenärzte haben dabei die AU-Richtlinien zu be- achten, die beispielsweise ei- ne Rückdatierung nur aus- nahmsweise und höchstens bis zu zwei Tagen erlauben.Entsprechendes gilt für Fol- gebescheinigungen.
Krankheit bedeutet aber nicht automatisch Arbeitsun- fähigkeit. Es kommt darauf an, ob die arbeitsvertraglich ge- schuldeteTätigkeit nicht mehr verrichtet werden kann oder ob ihre Ausübung den Krank- heitszustand verschlimmern würde. Bevor ein Arzt eine AU-Bescheinigung ausstellt, muss er also klären, welche Tätigkeiten sein Patient dem Arbeitsvertrag nach ausüben muss. Ist er dazu trotz seiner Erkrankung in der Lage, so ist er nicht arbeitsunfähig;
kann er nur noch einen Teil seiner Aufgaben erfüllen, ist er trotzdem „voll“ arbeitsun- fähig. Eine Teilarbeitsunfähig- keit gibt es nicht.
Bescheinigtes muss zutreffen Ambulante Behandlungen einer Krankheit, die den Pa- tienten als solche nicht hin- dert, seine vertraglich geschul- dete Arbeit zu tun, führen
nicht zur Arbeitsunfähigkeit.
Ebenso ist nicht arbeitsun- fähig, wer krankheitsbedingt lediglich den Weg zur Arbeit nicht zurücklegen kann. Bei der Ausstellung von Arbeits- unfähigkeitsbescheinigungen sollte bedacht werden, dass die Ausstellung einer fal- schen Bescheinigung unter Umständen Schadensersatz- ansprüche des Arbeitgebers gegen den Arzt auslösen kann und – bei Vorsatz – nach § 278 StGB strafbar ist („Ausstel- len unrichtiger Gesundheits- zeugnisse“).
Besondere Probleme er- geben sich bei gesundheitli- chen Beschwerden schwange- rer Arbeitnehmerinnen. Hier ist die Sorgfaltspflicht des Arztes bei der Ausstellung von Bescheinigungen beson- ders gefordert, weil deren Inhalt unter anderem aus- schlaggebend dafür ist, ob der Patientin ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krank- heitsfall zusteht oder ob der Arbeitgeber so genann- ten Mutterschutzlohn zahlen muss. Das bedeutet sowohl für die Patientin als auch für den Arbeitgeber einen großen Unterschied.
Ist die schwangere Arbeit- nehmerin arbeitsunfähig, hat sie sechs Wochen lang An- spruch auf Entgeltfortzah- lung durch den Arbeitge- ber und erhält anschließend Krankengeld. Liegen dage- gen die Voraussetzungen des
§ 3 Abs. 1 Mutterschutzge- setz vor, hat sie Anspruch auf zeitlich unbegrenzte Wei- terzahlung ihres vollen Loh- nes durch den Arbeitge- ber. Diese Unterschiede spiel- ten auch in einem aktuellen Urteil des Bundessozialge-
richts eine Rolle (Aktenzei- chen: B 11 AL 77/98).
Wenn der Arbeitgeber al- lerdings nicht mehr als 20 Ar- beitnehmer beschäftigt (wie das zum Beispiel für die meisten Arztpraxen zutrifft), hat er in diesen Fällen An- spruch auf Erstattung des vol- len Mutterschutzlohnes durch die zuständige Krankenkas- se (§ 10 ff. Lohnfortzahlungs- gesetz). Er wird in diesem Fall also überhaupt nicht mit Lohnfortzahlungskosten belastet.
Abgrenzung ist oft schwierig Insbesondere Gynäkolo- ginnen und Gynäkologen soll- ten keinesfalls routinemäßig die Formulare für Arbeitsun- fähigkeit verwenden, sondern prüfen, ob nicht in Wirklich- keit ein mutterschutzrecht- liches Beschäftigungsverbot vorliegt. Dabei sollte die ak- tuelle Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts beach- tet werden, die – kurz gefasst – wie folgt aussieht: Ein An- spruch auf Mutterschutzlohn besteht nur, wenn allein das mutterschutzrechtliche Be- schäftigungsverbot dazu führt, dass die Schwangere mit der Arbeit aussetzen muss. Be- stehen Schwangerschaftsbe- schwerden, kommt es also dar- auf an, ob diese Beschwer- den Krankheitswert haben oder ob eine Fortsetzung der bisherigen Tätigkeit trotz nor- malem Schwangerschaftsver- lauf zu einer Gefährdung von Leben oder Gesundheit von Mutter beziehungsweise Kind führen kann. Krankheitsbe- dingte Arbeitsunfähigkeit ge- mäß § 3 Abs. 1 Entgeltfort-
zahlungsgesetz und mutter- schutzrechtliches Beschäfti- gungsverbot gemäß § 3 Abs. 1 Mutterschutzgesetz schließen sich wechselseitig aus.
Ein Beschäftigungsverbot darf also nicht bescheinigt werden, wenn es sich um einen Zustand handelt, der (auch) Krankheitswert hat. In die- sen Fällen ist eine Arbeitsun- fähigkeitsbescheinigung aus- zustellen. Ergeben sich da- gegen während einer ohne Beschwerden mit Krankheits- wert verlaufenden Schwan- gerschaft Umstände, die am Arbeitsplatz zu einer Gefahr für Mutter oder Kind füh- ren, besteht Anspruch auf ein ärztliches Zeugnis nach § 3 Abs. 1 Mutterschutzgesetz.
Die Abgrenzung kann im Einzelfall schwierig sein und birgt Haftungsrisiken für den Arzt. Stellt er – fälschlich – ei- ne „normale“ Arbeitsunfähig- keitsbescheinigung aus, kann er der Patientin gegebenen- falls wegen entgangenen Mut- terschutzlohnes schadenser- satzpflichtig sein. Bescheinigt er ein Beschäftigungsverbot, obwohl die Beschwerden auch Krankheitswert haben, be- steht die Gefahr, vom Ar- beitgeber der Patientin auf Ersatz eines durch Zahlung des Mutterschutzlohnes ent- standenen Schadens in An- spruch genommen zu werden, soweit diesem kein Anspruch aus der Lohnfortzahlungsver- sicherung für Kleinbetriebe zusteht.
Noch ein Hinweis auf ei- ne aktuelle Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts: Da- nach ist es – entgegen dem Gesetzeswortlaut – unter Um- ständen auch zulässig, ein „vor- läufiges ärztliches Beschäfti- gungsverbot“ auszusprechen.
Das gilt bei Vorliegen entspre- chender objektiver Anhalts- punkte, solange ungeklärt ist, ob von der Beschaffenheit ei- nes Arbeitsplatzes Gefahren für Mutter oder Kind ausge- hen (Aktenzeichen: 5 AZR 49/98).
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Jürgen Behrmann, Münster
A-466 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 8, 25. Februar 2000
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