Wohin sollte das führen, wenn jeder seinen Speck auf eigene Rechnung ansetzen könnte, aber zu Lasten anderer abbauen dürfte et Zeichnung: Schwalge
Das vielzitierte Kölner Urteil vom 21. Juli 1976 ist nur eines von vie- len. Sie alle gelangen zu unter- schiedlichen, zum Teil gegensätz- lichen Ergebnissen, besonders in den entscheidenden Fragen.
Körperfülle als Krankheit?
Juristen sind auf Definitionen an- gewiesen, auch auf die der Krank- heit. In der Rechtsprechung ist sie
„ein ano(r)maler körperlicher oder geistiger Zustand." Und Überge- wichtige verkörpern recht ansehn- liche Zustände. Sie können juristi- sches Denken zu voreiligen Schlüssen verleiten. Ärzte sehen in der Krankheit eher das dynami- sche Geschehen als den stati- schen Zustand. Vernachlässigt man ihren Aspekt, setzt man die Krankheit der Anomalie und Be- hinderung gleich, die ihrem We- sen nach anomale Zustände sind.
Die Krankheitsdefinition der stän- digen Rechtsprechung setzt einen Konsens über das Normale voraus.
Sonst würde sie nur eine Unbe- kannte durch eine andere erset- zen, wie es bei Übergewicht tat- sächlich der Fall ist. Denn die be- kannte Broca-Formel ist nicht die einzige, die festlegen möchte, was
Normalgewicht sein soll. Der Ver- such, Übergewicht abzugrenzen, ist aber so lange zum Scheitern verurteilt, als eine allgemein aner- kannte Definition des Normalge- wichts fehlt. Darum finden die Richter auch keine Grenze zwi- schen Unter-, Normal- und Über- gewicht.
Gäbe es solche Grenzpfähle, wäre dadurch nicht bewiesen, daß Übergewicht eine „Krankheit" ist.
Unstreitig kann Fettleibigkeit Krankheitsfolge und Krankheitsur- sache sein. Wird ihr jedoch Krank- heits wert unterstellt, werden Ursa- che und Wirkung verwechselt.
Gicht, Diabetes, Arteriosklerose, Hypertonie oder Herzinfarkt kön- nen zweifelsfrei im Gefolge der Adipositas auftreten. Aber auch dann sind sie eigenständige Krankheiten und keine Symptome der Fettsucht. Für sich allein stel- len Speckfalten keine Krankheits- zeichen dar.
Nach den Lehr- und Handbüchern der Medizin ist Übergewicht keine Krankheit, sondern eine mögliche Krankheitsursache, ein Risikofak- tor. Krankheitsursachen sind zu beseitigen, nicht zu behandeln;
denn Therapie ist nach allgemei- Die Information:
Bericht und Meinung DER KOMMENTAR
Hat übergewicht Krankheitswert?
In der Kriegs- und Nachkriegszeit hat die alimentäre Adipositas we- der Universitäten noch Gerichte beschäftigt, gescriweige denn die Öffentlichkeit. Heute ist sie in aller Munde und stiftet mancherlei Ver- wirrung, nicht nur unter Konsu- menten und Journalisten, sondern auch unter Ärzten und Juristen.
Die letzten Schlagzeilen lieferte das Landgericht Köln: „Abmagern auf Kosten der Krankenkasse" —
„Die Kasse zahlt Ihre Schlank- heitskur" — „Übergewicht hat Krankheitswert". Solche Über- schriften wurden vom Inhalt man- cher Artikel noch übertroffen:
„Wenn Sie erhebliches Überge- wicht haben und demzufolge im- mer mehr organische Beschwer- den auftreten, gehen Sie doch ein- fach zu Ihrem Arzt und lassen Sie sich eine Abmagerungskur ver- schreiben." (Quick) „Wenn der Arzt aber eine Schlankheitskur für richtig hält, bezahlen wir das. Wie hoch das Übergewicht ist, spielt bei den gesetzlichen Krankenkas- sen keine Rolle." (Bild) „Ein Über- gewicht von 30 Prozent, wie bei dem Kläger, ist eine Abweichung von der Norm, die Krankheitswert hat. Die Behandlung eines solchen Übergewichts ist erstattungs- pflichtig." (TV Hören und Sehen) So sehen und hören die Leute, was Richter entscheiden und was Journalisten daraus machen. So erfahren sie, was Ärzte verschrei- ben und Kassen zahlen sollen. Den Preis dafür erfahren sie nicht.
Denn der ist sehr hoch, nicht bloß für die Übergewichtigen. Aus eige- ner Tasche bezahlen sie nur ihre überzähligen Kalorien. Für ihre überflüssigen Krankheiten zahlen alle drauf; denn die Krankenversi- cherungen treten für die Folgen von Übergewicht ein, seien sie ver- schuldet oder unverschuldet, sei die Schuld objektiver oder auch subjektiver Natur.
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 9 vom 2. März 1978 473
Die Information:
Bericht und Meinung DER KOMMENTAR
nem Sprachgebrauch Krankheits- und Krankenbehandlung. Sie setzt die Beseitigung der Krankheitsur- sachen voraus. Darum kann Ge- wichtsreduktion allenfalls zur The- rapie von Folgekrankheiten des Übergewichts gehören. Die Adipo- sitas selbst bedarf kaum der The- rapie, sondern vielmehr vernünf- tiger, kalorienarmer Ernährung.
Nahrungsmittel indes sind keine Arzneimittel. Zweckmäßige Ernäh- rung gehörtzur gesunden Lebens- weise, nicht zur Krankheitsbe- handlung. Ist Körperfülle aber gar keine Krankheit und gelten Beleib- te nicht schon wegen ihres Umfan- ges als Kranke, so ist kalorienarme oder kalorienfreie Kost von Rechts wegen nicht als Krankenkost (Diät) zu bezeichnen, auch nicht als Null-Diät. Aber selbst das Einhal- ten einer Diät stellt keine Behand- lung dar, es sei denn in übertrage- nem Sinne.
Wer ist verantwortlich?
Ein Urteil des Oberlandesgerich- tes Hamm vom 16. September 1977 hat zur Revision beim Bun- desgerichtshof geführt. Gesetzt den Fall, die Bundesrichter kämen zu dem Ergebnis, ernährungsbe- dingtes Übergewicht sei doch eine Krankheit und stationäre Null-Diät die entsprechende anerkannte Heilbehandlung, so bliebe immer noch die Frage, wer die Höhe des Körpergewichts zu verantworten hat, der Arzt, die Krankenversiche- rung oder der Übergewichtige selbst. Antwort auf diese Frage ha- ben nicht allein die Bundesrichter zu geben, sondern auch die Über- ernährten, ihre Ärzte, die Versi- cherungsträger und die Mei- nungsmacher. Sie alle sind ge- fragt, wer für den Abbau gesund- heitsgefährdender Fettspeicher aufzukommen hat.
Letzten Endes geht es nicht um eine Kostenbeteiligung der Versi- cherten, sondern um ihre Kosten- verantwortung. Wo enden wir, wenn jeder seinen Speck auf eige- ne Rechnung ansetzen, aber zu Lasten anderer abbauen könn- te? Rudolf Lehming
Pflegesätze - vorab erhöht
Zum 1. Januar dieses Jahres sind die Krankenhaus-Pflegesätze in sechs Bundesländern „vorweg"
angehoben worden, und zwar in Nordrhein-Westfalen um 3,4 Pro- zent, in Hessen, Rheinland-Pfalz und im Saarland um je 4 Prozent, in Baden-Württemberg um 4,15 und in Berlin um 4,5 Prozent.
Diese linearen Vorwegerhöhun- gen der Pflegesätze scheinen im- mer mehr gebräuchlich zu wer- den. Nach der Bundespflegesatz- verordnung vom 25. April 1973 (BPfIV) allerdings setzt die Lan- desbehörde die Pflegesätze auf der Grundlage der Selbstkosten für jedes Krankenhaus einzeln fest. Einheitliche Vorwegerhöhun- gen für ganze Bundesländer lie- gen daher – strenggenommen – außerhalb der Legalität. Auch durch § 17 (2) BPfIV sind sie nicht zu rechtfertigen. Danach kann bei der Festsetzung der Pflegesätze bestimmt werden, „daß zu diesem Zeitpunkt noch nicht feststehen- de Personalkostenänderungen in nicht unerheblichem Umfang, die sich aus Änderungen der Tarifver- träge oder der Arbeitsvertrags- richtlinien ergeben, nach Anhö- rung des Ausschusses für Pflege- satzfragen mit Wirkung vom Tage des Inkrafttretens der Änderung entsprechend den vom Kranken- haus nachgewiesenen Mehrko- sten von der zuständigen Landes- behörde durch einen Zuschlag zum Pflegesatz berücksichtigt werden."
Je länger und komplizierter die Gesetzesformulierung, um so mehr läßt sich offenbar machen.
Zum 1. Januar 1978 sind nach- weislich nur die Arbeitgeberbeiträ- ge für Arbeitnehmer über den Bei- tragsbemessungsgrenzen der Ar- beitslosen-, Renten- und Kranken- versicherung gestiegen. Diese er- höhten Beitragsanteile machen aber nicht 3,4 oder gar 4,5 Prozent der Personalkosten des Kranken- hauses aus, geschweige denn der
Pflegesätze. Zum 1. Februar wer- den allerdings höhere Tarifab- schlüsse rückwirkend in Kraft tre- ten. Aber noch niemand weiß, wann sie abgeschlossen und was sie bringen werden. Immerhin, ei- nes Tages werden die Kranken- häuser mit Mehrkosten rückwir- kend belastet werden. Für ent- sprechende Reserven sorgen So- zialleistungsträger und Selbstzah- ler heute schon durch höhere Pfle- gesätze.
Nicht bis spätestens zum 30. April, wie die Bundespflegesatzverord- nung vorschreibt, sondern erst zur Jahresmitte werden die Kranken-
häuser den Behörden ihre Selbst- kostenblätter mit den Kostenände- rungen für 1978 zuleiten. Erst dann werden die Behörden die Jahrespflegesätze für jedes Kran-
kenhaus einzeln festsetzen. Die Differenz zum vorweg angehobe- nen Pflegesatz wird in der zweiten Jahreshälfte zum Ausgleich zuge- schlagen oder abgezogen. Mit dem geltenden Recht läßt sich die- ses Verfahren nicht vereinbaren.
Aber das spricht mehr gegen das unpraktikable Gesetz als gegen die ungesetzliche Praxis. RL/DÄ
—ECHO
Zu: „Datenschutz noch unzurei- chend" von Dr. jur. Rainer Hess in Heft 2/1978. Seite 49 ff.
Bundesärztekammer kritisiert Datengesetz
„Als unzureichend hat derJu- stitiar der Bundesärztekam- mer, Rainer Hess, das neue
Bu ndesdatenschutzgesetz kritisiert. Im medizinischen Bereich bestehe die Gefahr, daß der Datenschutz bei der Krankenversicherung und in den Krankenhäusern durch Spezialbestimmungen unter- laufen werden könnte, schreibt Hess in der jüngsten Ausgabe des in Köln erschei- nenden DEUTSCHEN ÄRZ- TEBLATT" (Kieler Nachrich- ten; nach dpa)
474 Heft 9 vom 2. März 1978 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT