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Archiv "Anatomie im Zwielicht?" (09.02.1989)

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DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT

DER KOMMENTAR

Am 2. Januar 1989 wurde in den Tagesthemen der ARD in gekürzter Form ein bereits im Dritten Pro- gramm des SWF ausgestrahlter Be- richt über die Anatomie im Natio- nalsozialismus gesendet. Auslöser war ein Vortrag von Prof. Dr. Ulrich Drews, Lehrstuhl II und stellvertre- tender Direktor des Anatomischen Institutes der Universität Tübingen, gehalten am 17. November 1988 in einer von Studenten organisierten Ringvorlesung des Wintersemesters 1988/89: „Medizin im Nationalso- zialismus". Das Fernsehen hat die im Vortrag offengelegten Sachver- halte optisch und in Interviews so er- gänzt und aufgearbeitet, daß daraus der Vorwurf entstehen konnte, Me- dizinstudenten würden in den Ana- tomien — beispielhaft wurden Tübin- gen und Heidelberg genannt — an Präparaten von Opfern des Natio- nalsozialismus unterrichtet.

Die Reaktionen waren unvor- stellbar heftig: Das israelische Fern- sehen fragte an, was davon zutreffe;

die Redaktion des Time-Magazins meldete sich; ein Stern-Redakteur eilte nach Tübingen; die deutsche Botschaft in Tel Aviv forderte Aus- kunft vom Auswärtigen Amt in Bonn, dieses vom Wissenschaftsmi- nisterium in Stuttgart, das wiederum von der Universität Tübingen und die schließlich vom Anatomischen Institut. In der in- und ausländischen Presse wurde der Vorwurf mit Schärfe behandelt, vor Ort gab es Pressemitteilungen der Universität, Gegenpressemitteilungen der stu- dentischen Arbeitsgruppe „Medizin im Nationalsozialismus", offene Briefe. Die Forderung nach dem Rücktritt des Institutsdirektors und nach dienstrechtlichen Maßnahmen wurde von seiten der SPD-Landtags- fraktion erhoben.

Eine Lawine war losgetreten und riß immer mehr mit sich: Auf Anhieb haltlose Verdächtigungen wurden geäußert, der KZ-Arzt Mengele zunächst mit der Anatomie allgemein und dann speziell mit der

Tübinger Anatomie in einen Zusam- menhang gebracht, Bundestagsab- geordnete äußerten ihre Entrüstung, der Bundeskanzler ging in seiner Pressekonferenz tadelnd auf den Vorgang ein, in Israel sah man alle Vorurteile über „die" Deutschen bestätigt, auch Asylanten sollten plötzlich Opfer der Anatomen sein, kurzum: Der deutschen Sprache fehlten offensichtlich die Worte, um das „Unerträgliche", „Verwerf- liche", „Abscheuliche", „Schamlo- se" in einer als angemessen empfun- denen Weise zu artikulieren.

Das Institut reagierte sofort:

Die Unterrichtssammlungen wurden überprüft, und mit großer Mühe konnten bisher vier Referenzpräpa- rate von histologischen Kursserien auf zwei Opfer des Nationalsozialis- mus zurückgeführt werden. Bei den makroskopischen Präparaten, Kno- chen und Skeletten ist bisher keine Identifizierung gelungen.

Ein vielschichtiger Sachverhalt

Ein zentraler Vorwurf lautete:

Wie kommt es, daß den Anatomen erst heute und nach der Sendung be- wußt werden konnte, an Knochen und Schnitten von Opfern des Schreckensregimes Anatomie zu lehren? Eine Antwort auf diese Fra- ge erforderte es, den Sachverhalt in seiner Vielschichtigkeit differenziert zu betrachten und auch psychologi- sche Aspekte zu berücksichtigen.

Nur einiges davon kann hier ange- sprochen werden.

Mehr als eine Generation nach Ende der Naziherrschaft durften die derzeit tätigen Anatomen anneh- men, daß von den politisch Verant- wortlichen, den Ministerien und na- türlich auch von der Universität selbst längst eine generelle Überprü- fung aller in Frage kommenden me- dizinischen Sammlungen veranlaßt und die Entfernung der Präparate von Opfern der Nazizeit geregelt

worden war. Mehrfach hat in den vergangenen 44 Jahren das Direkto- rium des Institutes in Tübingen ge- wechselt, und ohne die leiseste Spur eines Verdachtes wurden von den heutigen Lehrkräften die Präparate im Unterricht verwendet, die sie bei ihrem Dienstantritt vorfanden und denen man ihre Herkunft nicht anse- hen kann. Es ist nicht ersichtlich, wo da ein schuldhaftes Verhalten liegen soll, das dienstrechtliche Maßnah- men rechtfertigen könnte.

In der Anatomie geht es um das Aufdecken, Erkennen und Be- schreiben der normalen Morpholo- gie, von normalen Strukturen. Das Ziel ist es, die Norm, also die typi- schen Verhältnisse, die — in entschei- dendem Unterschied zur Pathologie

— gerade nicht in einem bestimmten Individuum angetroffen wurden, aufzudecken, die zu keiner Kranken- geschichte gehören, die keiner be- stimmten Biographie zugeordnet werden können. Von da erklärt sich, daß praktisch kein Makropräparat in Tübingen nach seiner Herkunft be- stimmt, ja nicht einmal datiert wer- den kann. Das ist nicht nur aus Re- spekt vor den Toten angebracht, sondern auch von der Sache her überflüssig, denn es soll — um nur ein Beispiel zu nennen — die normale Lage des Ganglion trigeminale er- kennbar sein. Das aber ist unabhän- gig von Alter, Geschlecht, Rasse, Sozialstatus mit der bei allen biologi- schen Objekten üblichen Abwei- chung von den idealtypischen Ver- hältnissen an jedem entsprechend präparierten und gut erhaltenen Ob- jekt möglich.

Die Makroskopische Anatomie hatte ihre große Zeit vor Einführung moderner Verfahren wie Histoche- mie, Elektronenmikroskopie, Auto- radiographie. Die meisten Feucht- präparate stammen daher, sofern nicht neue Präpariermethoden ein- gesetzt werden, aus früheren Zeiten.

Den Anatomien wurden damals — al- so weit vor 1933 — als Lehr- und Un- terrichtsmaterial auf der Grundlage von Verordnungen und Erlassen der zuständigen Ministerien die Leichen von Hingerichteten und Selbstmör- dern überstellt, die das Recht auf ein kirchliches Begräbnis verloren hat- ten, sowie von Personen ohne Ange-

Anatomie im Zwielicht?

Michael Arnold

Dt. Ärztebl. 86, Heft 6, 9. Februar 1989 (21) A-297

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hörige, oder wenn die Angehörigen damit einverstanden waren. In den

„Leichenbüchern" finden sich meist nur Name, Alter, Todesursache, der Kurs, in dem die Präparation erfolg- te, nichts weiter. Hinter jeder dieser Eintragungen aber steht ein Schick- sal, steht in der Mehrzahl ein grau- sames Schicksal: Sozial Unterprivi- legierte, Heimatlose, Schwerkran- ke, Entmündigte, am Leben Ver- zweifelte — die kamen früher in die Anatomie.

Es war — mit Sicherheit kann man das nur für sich selbst sagen — belastend, das zu wissen, und ver- ständlich, daß man keine restlose Einsicht in die für die Erfüllung der Lehraufgaben irrelevante Herkunft der Anatomieleichen suchte. Hier ist inzwischen ein grundsätzlicher Wandel eingetreten, denn heute werden ausnahmslos die Körper Verstorbener im Unterricht verwen- det, die sich der Anatomie zu Leb- zeiten selbst verfügt haben. Nach Beendigung des Kurses werden die Überreste eingeäschert.

Das Institut hat nichts zu verbergen

Von diesem Personenkreis kön- nen die Feucht- und Demonstra- tionspräparate in den vorhandenen Sammlungen nicht stammen, denn es wird bei der Verfügung die kom- plette Einäscherung und Beisetzung zugesagt. Also sind sie älter, sie stammen von jenen Personen, die der Anatomie aus Gefängnissen, Fürsorgeanstalten, Landeskranken- häusern u. a. zugeführt worden wa- ren. Keinem der Präparate ist anzu- sehen, woher die Leichen gekom- men sind und um welche Personen es sich handelt. Wo soll da eine Schuld der Anatomen liegen?

Von einer solchen Schuld der Anatomen war in der Presse sofort und schon vor Abschluß der mühsa- men Überprüfung des Präparatebe- standes mit aller Selbstverständlich- keit ausgegangen, den Anatomen mißtraut und die Einrichtung einer Kommission gefordert worden — so, als gäbe es ein Motiv für das Institut, die Dinge zu verschleiern! Das Ge- genteil ist richtig: Das Institut möch-

te so schnell wie möglich die Angele- genheit ins reine bringen.

Es gibt begründete Hoffnung, daß dies nun gelingt, nachdem durch den Präsidenten der Universität ein Gespräch mit Vertretern der israeli- tischen Religionsgemeinde zustande kam. Kaum eine andere Gruppe hat mehr Anlaß, in dieser Sache mitzu- wirken, als Juden, und keiner wird eine Maßnahme halbherzig nennen können, die von ihnen gutgeheißen und mitgetragen wird.

Die Sachlichkeit der Unterre- dung, der zurückhaltende und gera- de deshalb eindrucksvolle Bezug auf die selbsterlebten Schrecknisse, das hohe Niveau der theologischen Be- gründung, der überzeugende Ver- weis auf die gemeinsame Verant- wortung stachen wohltuend ab von vielen ungeprüften Behauptungen in der Presse, den schrillen Worten wirkungsbedachter Politiker und von oft unüberlegten Vorwürfen der Studenten.

Es zeichnet sich nun eine radi- kale Lösung ab: Weil die Objekte nicht identifizierbar und datierbar sind, könnten so gut wie alle aus den Beständen des Anatomischen Insti- tutes in Tübingen entfernt werden müssen. Die Entscheidung soll einer eigens gegründeten Kommission übertragen werden, die letztendliche Verantwortung aber ist von Univer- sität und Institut zu übernehmen, so wie sie zusammen nach neuen We- gen suchen müssen, auch in Zukunft einen anschaulichen Anatomieun- terricht zu gewährleisten.

Über die Angemessenheit der bisherigen Reaktionen und der zu ergreifenden Maßnahmen wird erst in weiterer Zukunft ein sachgerech- tes Urteil gefällt werden können.

Schon heute aber steht fest, daß we- der die Tübinger Anatomen noch die Anatomie als Fach noch die Uni- versität eine Schuld auf sich geladen haben oder ins Zwielicht geraten sind: Es hat uns nur unsere Vergan- genheit eingeholt.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Michael Arnold Anatomisches Institut

der Universität Tübingen Osterbergstraße 3

7400 Tübingen 1

Assistenzarzt in England

Ratschläge für Interessenten an einem Auslandseinsatz

Junge Ärzte und Ärztinnen, die nach dem Examen eine Assistenz- arztstelle suchen, haben damit in der Bundesrepublik oft Schwierigkeiten.

Ein Kollege empfiehlt ihnen im fol- genden Aufsatz, in England mit der Arztausbildung zu beginnen Seinen Erfahrungen nach ist das ein Weg ohne allzu lange Wartezeiten.

Deutsche Ärzte sind zur Zeit in England sehr gefragt. Viele Kran- kenhäuser versuchen freiwerdende Senior House Officer-Stellen durch

„Continental Doctors" zu besetzen, da sie als zuverlässig und gut ausge- bildet angesehen werden. Außer- dem sind sie in der Regel nur an ei- nem Short-term-Contract (6 Monate bis 2 Jahre) interessiert und kollidie- ren somit nicht mit englischen Ärz- ten, wie viele Kollegen aus Grie- chenland, Indien und anderen Com- monwealthländern.

Während es nicht allzu schwie- rig ist, als Deutsche oder Deutscher in England eine Anstellung als Se- nior House Officer zu erlangen, ist es mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, die Facharztprüfung als Ausländer zu bestehen, geschweige denn, Registrar (Oberarzt) zu wer- den. Der Aufstieg zum Chefarzt (Consultant) ist nahezu ausgeschlos- sen.

Falls Interesse an einer be- stimmten Stelle besteht, empfiehlt es sich, vom betreffenden Kranken- haus eine Job Description anzufor- dern. Sie enthält alle notwendigen Informationen über die verschiede- nen Abteilungen des Krankenhau- ses, den Stellenplan, den Dienstplan und die Aufgaben, die den Arzt in diesem Krankenhaus erwarten. Un- abhängig hiervon empfiehlt es sich, A-298 (22) Dt. Ärztebl. 86, Heft 6, 9. Februar 1989

Referenzen

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