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Archiv "Der Krankheitsbegriff und der „Beruf des Psychotherapeuten“" (25.01.1979)

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Eine Untersuchung der Be- griffe "Gesundheit" und

„Krankheit" nach den Geset- zen der Logik — sie führt den Autor zu dem Schluß, daß eine gesetzliche Regelung nicht- ärztlicher psychotherapeuti- scher Tätigkeit, wie sie der

Psychotherapeuten-Gesetz- entwurf der Bundesregierung vorsieht, „für den Patienten gemeingefährliche Verhältnis- se" schaffen würde.

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Heft 4 vom 25. Januar 1979

Der Krankheitsbegriff und

der „Beruf des Psychotherapeuten"

Curt Weinschenk

Der Krankheitsbegriff hat gegenwär- tig in der Bundesrepublik Deutsch- land eine ganz besondere Bedeu- tung erlangt, weil er für den „Ent- wurf eines Gesetzes über den Beruf des Psychotherapeuten" eine wich- tige Rolle spielt. Auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Psychia- trie und Nervenheilkunde vom 29.

bis zum 30. September 1978 in Kon- stanz war deshalb auch das Thema des ersten Vormittags „Krankheits- begriffe im seelenheilkundlichen Bereich". Wohl vor allem wegen ei- ner starken Überschreitung der Re- dezeit beim ersten Vortrag („Krank- heitsbegriff der Psychoanalyse") kam es am Schluß dieser Vormit- tagsveranstaltung wegen der bereits überschrittenen Zeit nicht mehr zu einer Diskussion der Vorträge, ob- wohl diese keineswegs eine hinrei- chende Klarheit über den Krank- heitsbegriff im seelenheilkundlichen Bereich vermittelt hatten. Deshalb wollen wir jetzt hier den Versuch un- ternehmen, durch einen Beitrag über den Krankheitsbegriff und die Begriffe von Krankheiten im seelen- heilkundlichen Bereich die erforder- liche Klarheit zu gewinnen.

Unsere Untersuchung zerfällt in vier Teile. Im ersten wollen wir uns dem Krankheitsbegriff überhaupt wid- men. Im zweiten soll der soziale Krankheitsbegriff umrissen werden.

Dann wollen wir uns im dritten Teil den Krankheiten im seelenheilkund- lichen Bereich hinsichtlich ihrer Ab- grenzung gegenüber nicht krank-

dann im vierten Teil von den gewon- nenen Ergebnissen her zum „Ent- wurf eines Gesetzes über den Beruf des Psychotherapeuten" Stellung zu nehmen.

1. Der Krankheitsbegriff überhaupt Damit unsere Darlegungen hinrei- chend fundiert sind, ist es gleich am Anfang erforderlich, uns erst einmal darüber zu verständigen, was über- haupt ein Begriff ist. Dazu sind eini- ge Erörterungen aus dem Bereich der Logik unumgänglich.

Ein Begriff ist die gedankliche Zu- sammenfassung einer Anzahl von Merkmalen, die für eine bestimmte Klasse von Gegenständen oder Le- bewesen charakteristisch ist.

Die Ableitung der Begriffe von allem Wirklichen beginnt bei allem Seien- den überhaupt. Dieses kann man unterteilen in Seiendes mit dem Merkmal Sterblichkeit und Seiendes ohne dieses Merkmal. Das Seiende mit dem Merkmal Sterblichkeit sind die Lebewesen. Der Begriff der Le- bewesen ist seinem Umfange nach enger als der des Seienden über- haupt.

Die Lebewesen kann man dann wei- ter unterteilen durch Begriffe immer engeren Umfanges. So kommt man bei dieser Begriffspyramide z. B. zu den koordinierten Begriffen Würmer

— Insekten — Fische — Vögel — Säuge-

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Säugetiere als Gattung ausgehen, können wir den Begriff des Men- schen als Art (species) durch die Gattung (genus proximum) Säuge- tier und die charakteristischen diffe- renzierenden Merkmale (differentia specifica) aufrechter Gang und Sprache definieren: der Mensch ist

ein Säugetier mit aufrechtem Gang

und Sprache.

Wenn wir uns somit den Begriff des Menschen erarbeitet haben, ist es für unsere Zwecke nicht weiter er- forderlich, die Begriffspyramide zur Spitze hin fortzusetzen, weil die für unser Vorhaben notwendigen Be- griffe "gesunder Mensch - kranker Mensch" Begriffe von Arten dersel- ben Gattung, nämlich der Art Mensch, sind. Es handelte sich bei Gesundheit und Krankheit der Men- schen um koordinierte oder homo- loge Begriffe. Diese homologen Be- griffe zerfallen nach den Lehren der Logik in drei Unterarten:

<D

in disjunktive Begriffe, deren

Umfänge sich nicht berühren;

@ in konträre Begriffe, die End- punkte bezeichnen, zwischen denen ein kontinuierlicher Übergang mög- lich ist (z. B. Begriffe von Schwarz und Weiß);

®

in kontingente Begriffe, deren Umfänge sich berühren.

Gesundheit und Krankheit der Men- schen sind konträre Begriffe. Zwi- schen ihnen gibt es einen kontinu- ierlichen Übergang wie zwischen Weiß und Schwarz in Form des

Grau. Die "Grauzone" zwischen

Krankheit und Gesundheit besteht einerseits in menschlichen Zustän- den, bei denen man nicht sicher ent- scheiden kann, ob es sich bereits um eine Krankheit handelt, und um andere Zustände, wo es nicht sicher ist, ob es sich noch um Krankheit handelt. Außerdem befinden sich in dieser "Grauzone" die "Störungen", die keine Krankheiten sind, von de- nen aber einige angeblich einen

"Krankheitswert" besitzen.

Der nächste Schritt für die Erarbei- tung des Krankheitsbegriffes muß

nun darin bestehen, die Differentia specifica, die Merkmale, anzugeben, die für die Krankheit gegenüber der Gesundheit charakteristisch sind, und die damit den Inhalt des Begriffs Krankheit beim Menschen ausma- chen.

Als auffälligstes Merkmal des Krankseins finden wir das Sterben in jungen Jahren oder überhaupt ein vorzeitiges Sterben, wenn der Tod nicht unmittelbar durch äußere Ge- walteinwirkungen verursacht wird.

Beispiele für Krankheit sind uns al- len geläufig. Es stirbt z. B. ein 10jäh- riger nach starken Schmerzen an ei- ner Appendizitis. Als Ursache für den frühen Tod des Jungen findet man anatomische ,und physiologi- sche Veränderungen. Oder ein 32jähriger Mann begeht Suizid durch Erhängen. Die Ursache dafür war eine endogene Depression mit hypochondrischen Wahnideen, Ver- folgungsideen und Suizidabsichten bei hochgradig depressivem Affekt.

Ein 42jähriger Mann leidet an einer Pneumonie. Er wird durch Behand- lung wieder gesund. Nach einem Verkehrsunfall müssen einem Mann beide Beine im Bereich der Ober- schenkel amputiert werden.

Wir könnten nun viele weitere ein- schlägige Beispiele sammeln, die wir in drei Gruppen unterteilen kön- nen. Die erste Gruppe enthält die Fälle, wo die Betreffenden an Zu- ständen versterben, wie sie einer Appendizitis zugrundeliegen. Die zweite Gruppe enthält gleichartige Zustände, die aber im gegebenen Fall nicht zum Tode führen, die aber doch lebensgefährlich sind. Bei ei- ner dritten Gruppe ist das Leben der Betreffenden durch bestimmte Ver- änderungen anatomischer, physio- logischer oder seelischer Art nicht gefährdet. Die Betreffenden sind aber durch diese Veränderungen in ihrer Handlungsfreiheit nicht nur vorübergehend wesentlich einge- schränkt (z. B. durch Amputation beider Beine).

..,. Somit definieren wir die Krank- heit: Krankheiten der Menschen sind Zustände, die durch Verände- rungen anatomischer und/oder phy-

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sielogischer und/oder seelischer Art verursacht sind, und durch die das Leben der Betreffenden gefährdet ist oder aber seine Handlungsfähig- keit nicht nur vorübergehend we- sentlich eingeschränkt wird. Auch solche Veränderungen anatomi- scher und/oder physiologischer und/oder seelischer Art sind Krank- heiten, die zu den oben als Krank- heit definierten Zuständen mit Wahrscheinlichkeit hinführen.

Krankheit und Gesundheit sind- wie gesagt- konträre Begriffe des Men- schen als Artbegriff. Für die Defi- nition der Gesundheit der Menschen genügt es demnach zu sagen: Ge- sundheit ist dann gegeben, wenn bei einem Menschen die Merkmale der oben definierten Krankheit fehlen.

2. Der soziale Krankheitsbegriff Der soziale Krankheitsbegriff ist die Form des Krankheitsbegriffes, die für die soziale Praxis bei den jeweils gegebenen gesetzlichen und institu- tionellen Verhältnissen eines Staa- tes erforderlich ist. Gegen den Krankheitsbegriff überhaupt ist der soziale Krankheitsbegriff durch Hin- zunahme weiterer Merkmale für die praktische Verwendbarkeit im Ge- sundheitsdienst bestimmter zu ge- stalten - vor allem hinsichtlich der Abgrenzung zur Gesundheit. Für den sozialen Krankheitsbegriff, wie er für die Krankenkassen und die Anwendung sozialer Gesetze erfor- derlich ist, ist es gegenüber dem Krankheitsbegriff überhaupt erfor- derlich, hinsichtlich der "Grauzone"

zwischen Gesundheit und Krankheit Bestimmungen vorzunehmen, die es ermöglichen, im Sinne der gelten- den Gesetze und Anordnungen klare Entscheidungen zu treffen.

Überall in der Welt, wo es um Vertei- lung von öffentlichen Geldern geht, sind gesetzliche Regelungen über die Verwendung dieser Mittel erfor- derlich, damit Nichtberechtigte nicht auf Kosten anderer Bürger Gelder erlangen können. Im Falle der gesetzlichen Krankenkassen be- deutet dies also, daß eine praktizier- bare Grenzziehung zwischen Krank-

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heit und Gesundheit erfolgen muß, um eine Kostenlawine zu unter- binden.

Bei schweren und überhaupt den gängigen Krankheiten gibt es für die Entscheidung der Frage, ob krank oder gesund, für den erfahrenen Arzt keine ernsthaften Probleme.

Diese bestehen aber bezüglich der Grauzone, von leichten und sehr leichten Veränderungen, wie sie den eigentlichen Krankheiten vorausge- hen und nach Krankheiten zurück- bleiben können. Bei diesen ist- und besonders unter sozialen Gesichts- punkten - zu bedenken, daß durch eine Therapie von solchen Zustän- den körperlicher und seelischer Art die vorhandenen natürlichen Ab- wehrkräfte des Organismus geschä- digt oder sogar außer Funktion ge- setzt werden können. Ob bei derarti- gen Fällen dieser Art eine Therapie zu erfolgen hat oder nicht, ist nach unserem Erachten nicht durch ein detailliertes Gesetz zu regeln. Viel- mehr wird man es hier mit Richtli- nien für den erfahrenen Arzt bewen- den lassen müssen. Diese Richtli- nien müssen den Arzt anweisen, in solchen Fällen aufgrund der erhobe- nen Befunde, der gültigen wissen- schaftlichen Erkenntnisse und sei- ner Erfahrung eine Entscheidung zu treffen, die für die Gesundheit des betreffenden Menschen dienlich ist und die Allgemeinheit nicht mit un- nötigen Kosten belastet (auf die

"Störungen", die keine Krankheiten sind, aber angeblich Krankheitswert besitzen, gehen wir später ein).

3. Der "Krankheitsbegrlff"

im seelenheilkundliehen Bereich Die Medizin zerfällt in eine größere Anzahl von Fachgebieten wie z. B.

Chirurgie, Innere Medizin, Kinder- heilkunde, Neurologie, Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Röntgendiagnostik, Anästhesie, Psychotherapie. Diese einzelnen Fachgebiete der Medizin sind nach verschiedenen Gesichtspunkten entstanden:

CD

Nach einzelnen Organen oder Organsystemen: z. B. Augen heil-

Spektrum der Woche Aufsätze · Notizen Der "Beruf des Psychotherapeuten"

kunde, Fach der Hals-, Nasen-, Oh- renkrankheiten, Neurologie, Psych- iatrie.

®

Nach besonderen Therapiefor- men: z. B. Chirurgie, Innere Medizin, Strahlentherapie, Psychotherapie.

@ Nach dem Alter der Patienten:

z. B. Innere Medizin - Kinderheil- kunde, Neurologie und Psychiatrie- Kinder- und Jugendpsychiatrie.

@) Nach besonderen Diagnostikme- thoden: z. B. Röntgendiagnostik.

Diese einzelnen Fachgebiete der Medizin haben nun aber keineswegs scharfe Grenzen. Ihre Umfänge überschneiden sich vielmehr mehr oder weniger. Die Einteilungen sind nur nach Präferenzen erfolgt. Es gibt zwischen den einzelnen Diszi- plinen der Medizin mehr oder min- der umfangreiche Überschneidun- gen. Besonders deutlich ist das z. B.

bei der Neurologie und Psychiatrie, wenn es sich bei einer Krankheit der Neurologie nicht nur um eine zu- grundeliegende Veränderung des peripheren Nervensystems handelt.

Aus dem Vorstehenden ist zu ent- nehmen, daß die Unterteilungen zwischen den einzelnen Fachgebie- ten nicht unter dem Gesichtspunkt besonderer Krankheitsbegriffe, son- dern prävalierender Merkmale der Krankheiten erfolgt sind. Es gibt al- so nicht einen besonderen Krank- heitsbegriff der Chirurgie, der Psychiatrie, der Psychoanalyse usw.

Vielmehr sind nur chirurgische;

psychiatrische, neurologische Krankheiten vorhanden, bei denen der eine und derselbe verbindliche Krankheitsbegriff vorausgesetzt ist.

Man kann sich nun Begriffe der chir- urgischen Krankheit, der psychiatri- schen Krankheit usw. bilden. Aber das sind dann keine verschiedenen Krankheitsbegriffe, sondern Begriffe von verschiedenen Krankheiten, durch die vorkommende Krankhei- ten unterteilt werden und nicht be- sondere Krankheitsbegriffe entste- hen. Es ist unbedingt erforderlich, sich diesen Sachverhalt klar zu ver- gegenwärtigen, daß Krankheitsbe-

griff und Begriffe der Krankheiten der verschiedenen medizinischen Fachgebiete Verschiedenes darstel- len, wenn es auch nicht ganz ein- fach ist, dies auseinanderzuhalten.

Dies ist aber notwendig, weil sonst ein heilloses Durcheinander entste- hen würde, wie es teilweise schon vorhanden ist.

..,. Es gibt also nicht einen "Krank- heitsbegriff der Psychoanalyse",

"Krankheitsbegriff der psychologi- schen Medizin" und "Krankheitsbe- griff. der Psychiatrie", sondern nur Krankheiten der verschiedenen me- dizinischen Disziplinen und Begriffe dieser verschiedenen Krankheiten.

Unübersehbar ist aber innerhalb der gesamten Medizin und natürlich auch der medizinischen Fachgebie- te eine sehr wichtige Hierarchie, die in bezug auf das Verhältnis von Dia- gnostik und Therapie besteht. Primo loco steht in jedem Falle der ärztli- chen Tätigkeit an Patienten die Dia- gnostik. Es muß zunächst erkannt werden, welche Krankheit vorliegt, bevor man die für diese Krankheit angemessene Therapieform wählen kann. Es heißt also: erst die Diagno- se, dann die Therapie. Die Diagnose dient allein der Therapie. Entgegen sich in der Gegenwart breitmachen- den Bewegungen muß mit aller Ent- schiedenheit darauf hingewiesen werden, daß die Diagnose keine

"Etikettierung" in einem für den Pa- tienten abträglichen Sinne bedeutet, sondern vielmehr die unumgängli- che Voraussetzung dafür ist, daß ihm die richtige Therapie zum frü- hestmöglichen Zeitpunkt zukommt (es widerspricht nicht dem Grund- satz: Erst die Diagnose, dann die Therapie, wenn bei Fällen, wo eine diagnostische Klärung nicht hinrei- chend gelingt, unter einer Ver- dachtsdiagnose eine Therapie ein- geleitet wird, weil auch hier die Dia- gnose, wenn auch nur als eine Ver- dachtsdiagnose, der Therapie vor- angeht).

Das hierarchische Verhältnis von Diagnostik und Therapie bedeutet also, daß in jedem Fall einer prakti- schen ärztlichen Tätigkeit am Pa- tienten die Art der Erkrankung als

DEUTSCHES ARZTEBLATT Heft 4 vom 25. Januar 1979 227

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Diagnose das Primäre ist und da- nach sekundär die Therapieform folgt. Eine Betätigung wird allein da- durch zur Therapie, daß diese Betä- tigung bestimmte Krankheit in ei- nem überdurchschnittlichen Aus- maße heilt (vgl. hierzu Weinschenk, C.: Wann ist ein Verfahren eine Form der Therapie? Nervenarzt 44, 274 [1973)). Das gilt für alle Arten von Krankheiten, sowohl für solche, die in Form von anatomischen und/oder physiologischen Veränderungen be- stehen wie für solche im Seelenheil- kundlichen Bereich. Jede Form der Therapie kann sich allein durch ihre Bewährung bei der Heilung be- stimmter Krankheiten als eine Form der ärztlichen Therapie ausweisen.

Es bestehen nun sehr wesentliche Unterschiede im Verhältnis von Dia- gnostik einerseits und Therapie von Krankheiten andererseits bezüglich der ärztlichen Tätigkeit. Hinsichtlich der Diagnostik ist die ärztliche Tätig- keit unteilbar. Dahingegen können bestimmte therapeutische Tätigkei- ten nach der erfolgten Diagnostik

durch einen Arzt an andere Berufe wie z. B. Krankengymnastinnen und nichtärztliche Psychotherapeuten vom Arzt delegiert werden.

Allein der Arzt vermag, weil er auf allen Fachgebieten der Medizin hin- reichende Kenntnisse erworben hat, unter Beachtung der notwendigen differentialdiagnostischen Erwä- gungen die Diagnose zu stellen oder durch das Hinzuziehen von Fachärz- ten anderer Disziplinen mit diesen gemeinsam die Diagnose zu ermit-

teln. Wenn z. B. ein 34jähriger Mann

in die Sprechstunde des Psychiaters kommt und über das starke Nachlas- sen seiner Leistungen im Berufsle- ben klagt und der Arzt vom Patien- ten erfährt, daß in der letzten Zeit sich die Ehe des Patienten sehr dis- harmonisch gestaltet hat, unter- sucht der Psychiater den Patienten psychiatrisch, neurologisch und grob internistisch. Er findet dabei in diesem Beispiel krankhafte Verän- derungen, die auf einen Hirnturmor hinweisen. Diese Diagnose wird dann durch EEG-Ableitungen wahr- scheinlich und durch eine Röntgen- diagnostik (zerebrales Arterio-

gramm) bestätigt (vorher war der Patient von einem nichtärztlichen Psychotherapeuten einer Familien- therapie unterworfen worden). Der Tumor war nicht mehr operabel. Es war nur noch eine Strahlentherapie möglich.

~ Gerade bei den Krankheiten im seelenheilkundliehen Bereich .sind- wie wohl in keinem anderen Fachge- biet der Medizin - die Symptome ihrer Ätiologie nach in der Regel mehrdeutig. Deshalb besitzen hier differentialdiagnostische Erwägun- gen eine fundamentale Bedeutung. Das hängt auch zweifellos damit zu- sammen, daß es etwas Psychisches für sich allein gar nicht gibt. Nun können wir hier im Rahmen dieser Abhandlung nicht grundlegend das Problem von Leib und Seele erör- tern. Aber es ist doch möglich, uns einige Grundsachverhalte zu verge- genwärtigen. Alles Psychische ist immer die Funktion von bestimmtem organischen Körperlichen. Das er- hellt z. B. schlagend schon daraus, daß, wenn man den Blutzuckerspie- gel eines Patienten bei der Insulin- Schock-Therapie durch täglich stei- gende Insulindosen immer weiter senkt, es infolge der zunehmend schlechter werdenden Hirnernäh- rung über Bewußtseinsstörungen leichteren und schwereren Grades zum Koma kommt. Beim bewußtlo- sen Menschen funktionieren At- mung, Herz, Kreislauf und Verdau- ung, also die vegetativen Funktio-

nen. Aber das Bewußtsein und damit

alle seelischen Funktionen ein- schließlich des Handeins sind erlo- schen. Ihre Funktion ist an eine be- stimmte Höhe des Blutzuckerspie- gels in den Gehirngefäßen gebun- den. Wenn man einem derartig Be- wußtlosen die Injektion einer Zuk- kerlösung verabreicht, schlägt er in vielen Fällen schon während der In- jektion die Augen wieder auf und beginnt zu sprechen. So kann man das Bewußtsein gleichsam - soma- tisch - ausknipsen und wieder an- knipsen -wie das elektrische Licht. Es gibt auch keine unmittelbare Kausalität zwischen Psychischem und Psychischem. Seelisches wirkt niemals unmittelbar auf Seelisches

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ein. Kausalvorgänge zwischen Seeli- schem und Seelischem erfolgen im- mer über physische, somatische Zwischenglieder. Das ist z. B. auch beim therapeutischen Gespräch zwischen den Therapeuten und dem Patienten der Fall. Wenn der Thera- peut spricht, verwandelt er seine Ge- danken, die er mitteilen will, mittels seiner somatischen Sprachappara- tur zentrifugal in somatische Luft- schwingungen, die das - somati- sche - Ohr des Patienten treffen. Dort erzeugen die Luftschwingun- gen als Reize somatische nervöse Erregungen, die im Gehirn zentripe- tal fortgeleitet werden und in Be- wußtseinsinhalte des Patienten transformiert werden. Beim thera- peutischen Gespräch sind also die seelischen Glieder der Kausalkette zwischen Therapeut und Patient und auch beim Gespräch in umgekehrter Richtung gegenüber den somati- schen sehr stark in der Minderheit.

Und es leuchtet ein, daß die Mög- lichkeit der kausalen Veränderung dieser Vorgänge durch solche so- matischen Glieder in jedem Fall ge- geben ist. Das ist ganz besonders bei Sinnestäuschungen, z. B. bei Il- lusionen, der Fall.

Es bleibt uns noch übrig, auf die

"Störungen von Krankheitswert"

einzugehen. Es gibt zweifellos Stö- rungen, die keine Krankheiten sind. So z. B. eine Niedergeschlagenheit, die nach dem Erfahren des Ablebens eines Verwandten eintritt, Ärger, den wir über das Verhalten eines Vorge- setzten empfinden, Durst an einem heißen Tage, der uns unerträglich erscheint usw. Es handelt sich um Veränderungen physiologischer und/oder seelischer Natur - aber nur von vorübergehender Art und deshalb keine Krankheiten. Wenn sich dahingegen die erwähnte Nie- dergeschlagenheit zu einer länger anhaltenden Depression entwickelt, handelt es sich um eine reaktive De- pression und damit um eine Krank- heit und nicht nur um eine Störung von Krankheitswert, weil es eine seelische Veränderung nicht vor- übergehender Art ist, durch die die Handlungsfähigkeit des Betreffen- den wesentlich eingeschränkt ist

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und auch eine Lebensgefahr durch Suizid vorhanden sein kann.

~ Anhand weiterer Beispiele kann man erhärten, daß es einerseits Stö- rungen gibt und andererseits Krank- heiten, aber keine Störungen mit Krankheitswert (nach den gültigen Gesetzen der Logik gibt es auch nur Krankheit und Nichtkrankheit Nach dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten gibt es ein Drittes neben Krankheit und Nichtkrankheit nicht).

4. Krankheitsbegriff und der "Entwurf eines Gesetzes über den Beruf

eines Psychotherapeuten"

Wenn wir nun von den von uns erar- beiteten Erkenntnissen her zum Ent- wurf eines Psychotherapeuten ge- setzlich Stellung nehmen, so möch- ten wir von den vielen möglichen Gegenargumenten nur die vier fol- genden anführen:

CD

Es ist aus dem Wortlaut des Ge- setzes nicht zu ersehen, welcher klar umrissene Sachverhalt bei seiner

, ,eigenverantwortlichen Tätigkeit''

den Psychotherapeuten veranlassen muß, bei einem gegebenen Fall der Diagnostik und/oder Therapie die notwendige ärztliche Mitwirkung in Anspruch zu nehmen. Das ist um so bemerkenswerter, als in § 1 (2) des Entwurfs unter 1. bis 6. alle Krank- he.itskategorien aufgezählt werden, die bisher der Psychiater und Ju- gendpsychiater und nach Delegie- rung ärztliche Psychotherapeuten behandelten und noch behandeln.

<1) Die Diagnostik von Krankheiten ist als eine ärztliche Tätigkeit unteil- bar (s. o.). Bei der Diagnostik von Krankheiten der Menschen ist die Ausbildung als Arzt eine Conditio si- ne qua non. Es handelt sich dabei immer um den ganzen Menschen.

Ein Abweichen von dieser Notwen- digkeit der Diagnostik von Krankhei- ten durch den Arzt muß man schlicht als allgemeingefährlich für den Pa- tienten bezeichnen (im DEUTSCHEN ÄRZTEBLATT 1978, S. 2313, sagen Walter Burkart und Erwin Odenbach

Spektrum der Woche Aufsätze · Notizen Der "Beruf des Psychotherapeuten"

von dem Entwurf: "Für den Patien- ten nicht ungefährlich").

®

Der Gesetzentwurf sieht vor, daß die "Psychotherapeuten" nach

"wissenschaftlich begründeten und anerkannten psychotherapeuti- schen Methoden" tätig sein sollen (§ 1 [2]). Dabei handelt es sich um die folgenden angeblich "anerkann- ten psychotherapeutischen Richtun- gen" (§ 5 [2]):

1. Gesprächstherapie 2. Verhaltenstherapie 3. Individualpsychologische

Therapie

4. Psychoanalytische Therapie.

H. E. Ehrhardt hat dazu (forum 1978, 5, S. 175) zutreffend ausgeführt:

"Man wird aber schwerlich eine psy-

chotherapeutsehe Methode finden, deren Vertreter nicht behaupten, ih- re Methode sei wissenschaftlich be- gründet. Darüber hinaus soll die Me- thode auch anerkannt sein. Es wird jedoch nicht gesagt, wer für die An- erkennung zuständig sein soll.

Einstweilen ist es durchaus üblich, daß sich Vertreter der gleichen Me- thode oder Schule gegenseitig ihre Anerkennung bestätigen. Kritik von Außenstehenden wird auf Unkennt- nis, Unverständnis oder Konkur- renzneid zurückgeführt."

Hinzuzufügen ist noch, daß die ver- schiedenen "Richtungen" auch noch untereinander über den wis- senschaftlichen und therapeuti- schen Wert ihrer Richtungen in zum Teil sehr heftigem Streit liegen. ln- wieweit eine dieser "Richtungen"

für die Behandlung einer oder der anderen und überhaupt welcher Krankheiten wirklich geeignet ist, das müßte in jedem Fall in einer nachprüfbaren Art und Weise erst einmal von neutraler Seite festge- stellt werden (bezüglich der Diagno- stik und Therapie von Krankheiten durch die "Gesprächstherapie" vgl.

Weinschenk, C.: Therapie ohne Dia- gnostik. Nervenarzt, 46, 332-333 [1975]).

@) Im Gesetzentwurf wird in der

"Vorläufigen Begründung. A. Allge- meiner Teil" darauf hingewiesen,

daß zur Bedarfsfrage an nichtärztli- chen Psychotherapeuten keine "ge- naue Angaben" gemacht werden können. Auch sei angesichts des Ansteigans der Arztzahlen zu erwar- ten, "daß möglicherweise schon in wenigen Jahren ein Teil der beste- henden Versorgungslücken in der Psychotherapie auch durch Ärzte geschlossen werden kann."

Die angeführten Gegenargumente sollten nach unserer Meinung genü- gen, um das Verantwortungsbe- wußtsein der Väter dieses Gesetz- entwurfes dahingehend zu mobili- sieren, daß sie verhindern, für die Patienten gemeingefährliche Ver- hältnisse in der ärztlichen Versor- gung zu schaffen und unter großem Kostenaufwand einen Berufsstand mit völlig ungewissen Existenzbe- dingungen ins Leben zu rufen.

ZITAT

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. phil. Dr. med.

Gurt Weinschenk Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Philipps-Universität Hans-Sachs-Straße 6 3550 Marburg/Lahn

Grenzen

der Planungsbürokraten

"Verbandwatte und neue Röntgenplatten muß das Krankenhaus direkt und oh- ne den zeitaufwendigen Dienstweg über eine lange Hürde von Instanzen be- schaffen können. Medizini- sches Handeln dürfen die Verwaltungsleute nicht be- stimmen. Den angeblichen Bettenberg haben nicht mit zu viel Freiheiten ausge- stattete Krankenhäuser zu verantworten, sondern Pla- nungsbürokraten."

Kurt Naujeck in .,Rheinische Post"

DEUTSCHES ARZTEBLATT Heft 4 vom 25. Januar 1979 229

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