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Archiv "Kinder, Kranke, Alte und Sieche: Symbole menschlicher Hinfälligkeit und Größe" (02.05.1974)

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Spektrum der Woche. Aufsätze -Notizen FEUILLETON

Paula Modersohn-Becker wurde als Tochter eines Bauingenieurs am 8. Februar 1876 in Dresden ge- boren. Als sie am 21. November 1907 im Alter von 31 Jahren an ei- ner Embolie, achtzehn Tage nach der Geburt ihres ersten Kindes starb, hatte sie für ihr kurzes Leben ein äußerst dichtes und differen- ziertes malerisches und zeichneri- sches CEuvre hinterlassen. Zu Leb- zeiten hatte kaum jemand aus ihrer Umgebung ihre Malerei verstanden

— sie selbst hatte aber auch nur wenigen Einblick in ihr Werk ge- währt. Nur schwer konnte sie ihre Familie davon überzeugen, daß au- ßer der Malerei kein anderer Beruf für sie in Frage käme. Ihr Vater, der seit 1888 als städtischer Baurat in Bremen tätig war, räumte ihr dann schließlich nach dem Abschluß ih- rer Ausbildung als Lehrerin (1895) die Möglichkeit ein, eine Kunst- schule in Berlin (1896) zu besu- chen.

Seit 1898 wählte sie das unmittel- bar vor den Toren der Stadt Bre- men gelegene Moordorf Worpswe- de als Wohnsitz, wo sie bei dem Maler Fritz Mackensen (1866 bis 1953) Unterricht nahm. Im Jahre 1901 wurde sie durch die Heirat mit dem Landschaftsmaler Otto Moder- sohn (1865 bis 1943) ganz in den damals bereits überregional be- kannten Worpsweder Künstlerkreis einbezogen. Doch scheint gerade diese äußere Integration in jene bereits etablierte Künstlerkolonie bei der jungen vorwärtsstrebenden Malerin eine innere Isolierung aus- gelöst zu haben. Sie malte völlig zurückgezogen in der kleinen Kam-

mer einer abgelegenen Moorkate und später, seit 1900, während ihrer längeren Pariser Aufenthalte in ärmlichen Hotelzimmern des Quar- tier Latin.

Bei ihrem letzten und längsten Be- such in Paris 1906/07 wurde aller- dings der Bildhauer Bernhard Hoet- ger (1874 bis 1949) auf sie auf- merksam und ermunterte sie, ihren Weg, der sie längst von den Worps- weder Malern weg zu den „Allermo- dernsten" wie Paul Gauguin (1848 bis 1903) und den Nabis, Paul C- zanne (1839 bis 1906) und Vincent van Gogh (1853 bis 1890) und dann in ihren letzten Lebensjahren über diese hinaus eigenständig weiter- geführt hatte, unbeirrt weiterzuge- hen. Dies ist insofern bemerkens- wert, weil die beiden einzigen öf- fentlichen Ausstellungen ihrer Bil- der zu Lebzeiten, 1899 und 1906 in der Bremer Kunsthalle, mit abfälli- ger Kritik bedacht worden waren (2).

Außer Otto Modersohn und dem Jugendstilmaler und Grafiker Hein- rich Vogeler (1872 bis 1942) hat- te niemand sonst aus dem Ma- ler- und Literaturkreis, zu dem um 1900 unter anderen auch Rainer Maria Rilke (1875 bis 1926) und Carl Hauptmann (1858 bis 1921) ge- hörten (3), die künstlerische Qua- lität Paula Modersohn-Beckers wahrgenommen. Sie galt eben nur als die Frau eines renom- mierten Malers.

Wenn man sich näher mit dem Werk Paula Modersohn-Beckers befaßt, so kann man darin als einen

In dem niedersächsischen Moordorf Worpswede entfal- tete sich um 1900 in einem Kreis angesehener Land- schaftsmaler eine junge, vita- le Künstlerin, in deren zeich- nerischem und malerischem Werk Krankheit und Leiden als Phänomene elementaren menschlichen Daseins inte- griert sind: Paula Moder- sohn-Becker. Diese zielstre- bige Malerin, die mit ihrem bahnbrechenden Werk dem zeitgenössischen Kunstver- ständnis weit vorauseilte und

bis heute auf eine umfassen- de Würdigung warten muß (1), widmete die Hauptschaf- fenskraft ihres kurzen, pro- duktiven Lebens neben der Landschafts- und Stilleben- malerei der Darstellung des Menschen. Wenn sie in ihren Gemälden, Zeichnungen und Radierungen häufig Kinder aus dem Worpsweder Wai- senhaus sowie Debile, Kran- ke und hinfällige alte Men- schen aus der Bauernbevöl- kerung und dem Armenhaus von Worpswede festhielt, so vor allem deshalb, weil gera- de dieser Personenkreis von ihr als dem Leben in seinen Urformen am nächsten ste- hend empfunden wurde. Es war ihr ein Bedürfnis, an Hand dieser einfachen Schicksale die menschliche Existenz in ihrer individuellen Freiheit und in ihrer naturhaf- ten Abhängigkeit zeitlos und objektiv künstlerisch wieder- zugeben. Bei solchen Men- schen fand sie archetypische Lebens- und Verhaltenswei- sen, die, seit Jahrhunderten

tradiert, die Gesichter und den gesamten Habitus der Leute geprägt hatten.

unverkennbaren Grundzug die be- sondere Hinwendung zu den Ar- men und Alten, Kindern und Kran- ken erkennen. Mit Vorliebe hat sie

Kinder, Kranke, Alte und Sieche:

Symbole menschlicher Hinfälligkeit und Größe

Medizinisches im künstlerischen Werk von Paula Modersohn-Becker

Christa Murken-Altrogge und Axel Hinrich Murken

1354 Heft 18 vom 2. Mai 1974 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

(2)

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Paula Modersohn-Becker

1: Modellstudie, 1898/99, Kreide und Rötet, 515 x scheue, verschrobene, materiell

und geistig minderbemittelte Men- schen, deren ungewecktes, naives Wesen sie anzog, gemalt. Die Mo- tivwahl der Künstlerin mag einmal in der Suche nach ursprünglichen menschlichen Daseinsformen, nach geistigen, seelischen und körperli- chen Wahrheiten begründet gewe- sen sein, zum andern hat sie wohl auch rein äußerlich das Auffällige, Sonderlinghafte einiger dieser bäu- erlichen Menschen zur künstleri- schen Wiedergabe gereizt. Ein starkes soziales Mitgefühl dürfte dabei weniger ausschlaggebend gewesen sein als eher die wenig kostspielige Verfügbarkeit die- ser Modelle.

Vor allem in ihrer ersten produkti- ven Schaffensperiode von 1898 bis 1900 übten die dunkle, tonige Land- schaft und die oft schwermütigen und dumpfen Gestalten innerhalb dieser fast abgeschlossenen Bau- ernschaft eine große Faszination auf die junge Malerin aus. In der Motivwahl einer von der Zivilisation unberührten Landschaft mit ihrer spezifischen Bevölkerung klingen Ähnlichkeiten mit Gauguin an, der seit 1886 in der Bretagne (Pont Aven) und später in der Südsee das einfache Leben suchte (4). For- mal begegnen sich beider Werke in der monumentalen, vereinfachten Formgebung, in einer bereits weit- gehenden Abstraktion und einem kühnen Kolorit. Gemeinsam ist ih- nen auch ein symbolisches Durch- dringen viuseller, ästhetischer und emotionaler Erlebnisse. Der menschlichen und künstlerischen Suche beider Maler nach primiti- ven Gesellschaftsformen entspra- chen auch ihre Wertschätzung alter Hochkulturen und ihre auf archai- sche Kunst zurückgreifenden Er- neuerungsbestrebungen, wie sie auch bei anderen Malern des Nachimpressionismus anzutreffen sind.

Die Darstellung von menschlichem Gebrechen und Siechtum erstaunt um so mehr, als Paula Modersohn- Becker selbst eine gesunde, robu- ste Frau war, die von Krankheiten physischer oder psychischer Art

Abbildung

Roselius, Böttcherstraße, Bremen

ganz verschont geblieben war (5).

Gerade in dieser Hinsicht lassen sich kaum Vergleiche etwa mit der Malerei Edvard Munchs (1863 bis 1944) oder Vincent van Goghs (1853 bis 1890) ziehen, die ihre ei- gene mehr oder weniger anfällige seelische Verfassung durch die Kunst zu bewältigen versucht haben.

Auch ein soziales Engagement vom Temperament einer Käthe Kollwitz (1867 bis 1945) oder eines Thöophi- le Steinlen (1859 bis 1923) scheint nicht der entscheidende Impuls ih- rer Hinwendung zur Welt des bäu- erlichen Proletariats gewesen zu sein. Der Worpsweder Maler Hein- rich Vogeler wies 1938, nachdem

370 mm, Sammlung

er dem „romantischen Kartenhaus Worpswede" entflohen war, auf diesen letzten Punkt ganz beson- ders hin (6).

Schon eine Bleistiftzeichnung aus dem Jahre 1898 zeigt die Vorliebe der jungen Künstlerin für sonder- linghafte Typen und auffallende Physiognomien aus ihrer bäuerli- chen Umwelt (Abbildung 1). Ein in Profilansicht wiedergegebenes Mäd- chen, etwa zwölf bis vierzehn Jahre alt, ist durch den eingezogenen Na- senrücken, das fliehende Kinn, den flachen Hinterkopf und den extrem langen Hals gekennzeichnet. Die individuellen, auffälligen Züge die- ses Mädchens, das einem Zeitungs-

DEUTSCHES ARZTEBLAT'T Heft 18 vom 2. Mai 1974 1355

(3)

Abbildung 2 (links): Krankes Mädchen 1900, Öl auf Leinwand, 710 x 530 mm, aus: Georg Biermann, Paula Modersohn, Ber- lin 1927 — Abbildung 3 (rechts): Blinde Frau im Walde, um 1900, Blei, 155 x 138 mm, Privatbesitz

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Paula Modersohn-Becker

kritiker 1926 „beinahe als Mißge- burt" erschien (7), zeugt von der relativierenden Einstellung Paula Modersohn-Beckers gegenüber da- mals tradierten Begriffen wie:

schön, häßlich, minderwertig oder anormal.

Das Bildnis eines kranken Kindes, zwei Jahre später gemalt (1900), trägt weniger hervorstechende Merkmale (Abbildung 2). Doch der Gesamteindruck vermittelt dem Be- trachter das Erscheinungsbild ei- nes kranken Geschöpfes: Die wei- ten Augen, die schlaffen Lippen und der zur Seite geneigte Kopf lassen das Mädchen abgespannt, müde und traurig wirken. Das Kind hält in rührender Weise, gleichsam als Lebenssymbol, eine kleine Blu- me wie einen unentbehrlichen Schatz in der Hand; ein Motiv, das wie kein anderes typisch für die Fi- gurenbildnisse dieser Malerin ist (8). In dieser behutsam-beseelten

Charakterisierung eines kranken Mädchens hebt sie sich formal und geistig deutlich von den meist lauten und drastischen Krankheits- darstellungen der Expressionisten ab (9).

Mit fortschreitender Entwicklung wuchs das Bestreben, die darge- stellten Menschen auf das We- sentliche ihrer psychophysischen Struktur zu reduzieren und alles Flüchtige, Spontane und Zeitbe- dingte zu eliminieren, ohne ihnen die eigene Existenz zu nehmen. Die Tendenz zum Einfachen, Typisie- renden läßt sich schon in einer Ra- dierung, die noch ganz dem Worps- weder Jugendstil verpflichtet ist, ganz deutlich erkennen (siehe Ab- bildung 3).

Die dargestellte blinde Bäuerin weist kennzeichnende Merkmale des gebrechlichen Alters auf, wel- che sich in den Konturen der ge-

beugten Gestalt und der tastenden Spreizhaltung der gichtigen Hände ablesen lassen.

Paula Modersohn-Becker schilder- te ihre Menschen meistens als stil- le, in sich versunkene, etwas schwermütige Charaktere. Sie ver- zichtet dabei — wie es auch in der Kunst der Naturvölker stets der Fall ist — auf jegliche Bewegungsmo- mente oder dynamische Effekte.

Ihre Darstellungen haben weder ei- nen situationsgebundenen Bezug noch einen genrehaften oder be- tont gefühlvollen Charakter. Diese Feststellung trifft vor allem auf das Porträt eines kranken Mädchens aus dem Jahre 1901 zu, das in sei- ner Einfachheit und Monumentali- tät für diese Zeit einzigartig ist (Ab- bildung 5).

Gegenüber den vorhergehenden Bildern ist die Abstraktion der Ge- samtkomposition weiter vorange-

1358 Heft 18 vom 2. Mai 1974 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

(4)

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Abbildung 4 (links): Mädchen am We- gesrand, um 1903, Kohle, 300x 240 mm, Graphisches Kabinett Wolfgang Werner KG, Bremen — Abbildung 5 (unten):

Bildnis eines kranken Mädchens, 1901, Öl auf Pappe, 350 x 330 mm, Landes- museum Münster

trieben; für einzelne krankhafte Symptome bleibt noch weniger Raum als auf früheren Bildern mit der gleichen Thematik. Wiederum ist es die Gesamterscheinung des Gesichts, das sich in dunklen, weit- gestellten Pupillen, einer etwas klo- bigen Nase und aufgeworfenen Lip- pen ausdrückt, das seelisches so- wie körperliches Leid erkennen läßt und den Titel „Bildnis eines kran- ken Mädchens" rechtfertigt.

Ein am Wegesrand sitzendes Mäd- chen, etwa zehn Jahre alt, aus dem Jahr 1903 ist in seiner ganz dem Augenblick hingegebenen Haltung charakteristisch für Paula Moder- sohn-Beckers künstlerische Auffas- sung und ihre Vorliebe für in ihrer Welt befangene, ungeweckte Kin- der (Abbildung 4). Wie bei dem Mädchenporträt von 1898/99 (Abbil- dung 1) fallen spezifische Merkma- le für eine einfache geistige Struk- tur auf: plumpe Nase, flacher Hin- terkopf, steil verlaufende Lidachse und schlaffer Muskeltonus der Arme. Diese Wesenszüge wieder- holen sich in der abstrahierten, spielerisch angedeuteten Land- schaft, in dem breiten Birken- stamm, Symbol jungfräulicher Weiblichkeit, und in den Bäumen am Wegesrand, die sich unbe- schwert im Winde hin und her wie- gen. Diese nur flüchtig skizzierte Zeichnung gibt die heiter-naive Stimmung eines einfachen Bauern- mädchens, welches leicht debil an- mutet, liebevoll wieder.

• Wird fortgesetzt Anschrift der Verfasser:

Christa Murken-Altrogge, M. A.

Privatdozent Dr. med. habil.

Axel Hinrich Murken 4 Düsseldorf

Himmelgeister Straße 143

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 18 vom 2. Mai 1974 1359

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