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Bericht und Meinung
71. Jahrgang / Heft 37 12. September 1974 Postverlagsort Köln
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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Ärztliche Mitteilungen
Herausgeber: Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung
Sozialstationen Lebenshilfe
für Kranke und Sieche
Pläne zur Neuordnung der ambulanten Krankenpflege
Pläne zur Reform und Neuorganisation der ambulanten Kranken- pflege aus jüngster Zeit finden das besondere Interesse der Öffent- lichkeit. In einigen Bundesländern, so vor allem in CDU-regierten, werden sogenannte Sozialstationen geplant und geschaffen. Sie sollen helfen, einem immer mehr spürbaren Mangel zu begegnen, der auf verschiedene Ursachen zurückzuführen ist.
Während einerseits der Pflegebedarf, vor allem älterer Menschen, wächst, ist die immer seltener gewordene Gemeindekrankenschwe- ster physisch schon lange nicht mehr in der Lage, allen Pflegebe- dürftigen wirksam zu helfen.
Auch die früher noch intakte Nachbarschaftshilfe ist heute keine Selbstverständlichkeit mehr. Viel diskutiert worden ist die Zersplit- terung und Auflösung der Großfamilie. Weitreichende Folgen für Al- leinstehende, Hilfsbedürftige und alte Menschen sind unübersehbar.
Krankenhauseinweisungen, vor allem älterer Leute mit „sozialer In- dikation" nehmen ständig zu. Der Anteil alter Menschen an der Ge- samtbevölkerung steigt gleichzeitig weiter. Heute sind bereits 11 Millionen Bundesbürger älter als 65 Jahre (Anteil an der Wohnbe- völkerung rund 18 Prozent).
Somit müssen Leistungen, die früher von der engen Lebensgemein- schaft — der Familie oder Verwandtschaft — erbracht wurden, heute weitgehend von der Gesellschaft getragen werden. Die Pflege und Versorgung älterer, kranker und siecher Mitbürger ist deshalb eine gesellschaftspolitische Aufgabe ersten Ranges.
Die CDU hat mit ihrem Vorhaben — der bundesweiten Einrichtung von Sozialstationen — eine Idee aufgegriffen, die sozusagen schon in der Luft lag. In einer vom rheinland-pfälzischen Sozialminister Dr.
Heinrich Geißler kürzlich in Bonn veranstalteten Anhörung wurde die
DEUTSCHES ÄRZTE BLATT Heft 37 vom 12. September 1974 2619
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Bericht und Meinung Sozialstationen
Aktualität dieser initiative bestätigt.
Nicht nur ärztliche Organisationen, sondern auch Krankenkassen so- wie kirchliche und freie Wohl- fahrtsverbände unterstützen das Engagement der Politiker.
In den „Sozialstationen" sollen zehn bis zwölf in der Alten-, Kran- ken- und Sozialhilfe ausgebildete Fachkräfte (Krankenschwestern, Altenpfleger, Sozialarbeiter und Sozialhelfer) zentral zusammenge- führt werden. Sie sollen dezentral im wesentlichen folgende Aufga- ben übernehmen:
— Hilfe für alle Bürger in Not mit Rat und Tat, insbesondere die gleichmäßige und ständige Versor- gung des Betreuungsbereichs mit offenen und pflegerischen Hilfen;
— die Mobilisierung der Nachbar- schaftshilfe;
— die Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Ärzten, den Krankenhäusern, Alteneinrichtun- gen, Ausbildungsstätten und Be- hörden.
Eine sinnvoll geregelte Zusammen- arbeit von Sozialstationen mit allen betroffenen Gruppen, Institutionen und Behörden, zielt nicht nur dar- auf ab, die Pflegesituation in den angesprochenen Bereichen zu ver- bessern, sondern leistet zugleich auch einen Beitrag, den enormen Kostenanstieg in der Krankenversi- cherung zu bremsen. Mit den vor- handenen Mitteln und Organisa- tionsstrukturen können allerdings diese Aufgaben nicht bewältigt werden. Es müssen deshalb Wege gesucht werden, die vielfältigen Organisations-, Personal- und Aus- bildungsfragen wie auch Besol- dungs- und Finanzierungsprobleme zu lösen. Sie werden sich lösen lassen, wenn alle beteiligten Grup- pen, Behörden, Institutionen und Trägerverbände erkennen, daß das Projekt „Sozialstationen" langfri- stig richtungweisende Lösungen beinhaltet.
Es wird immer deutlicher, daß Be- ratung und Hilfe im Bereich der
Sozialversicherung sich mehr und mehr zu einer eigenständigen Auf- gabe entwickeln.
Während die reine Pflegeleistung (Hauspflege) bereits im § 185 der Reichsversicherungsordnung (RVO) geregelt ist — bei Aus- schluß der ärztlichen Leistung — wird die ärztliche Betreuung der Versicherten im Rahmen der RVO durch den Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigung geregelt.
Daraus ergibt sich, daß zwischen Hauspflege und ärztlicher Versor- gung streng getrennt werden muß, da hier voneinander unabhängige und inhaltlich verschiedene Lei- stungsbereiche mit eigener Rechts- grundlage vorliegen. Bei der Zu- weisung von Aufgaben an die So- zialstationen muß diese Abgren- zung zwischen Hauspflege und ärztlicher Versorgung beachtet werden.
Dabei kann sich jedoch ein Aufga- benkatalog nicht einheitlich und nicht in Form einer Ausschließlich- keitsliste darstellen lassen. Um so vordringlicher erscheint es des- halb, einen Rahmenkatalog festzu- legen, der von vornherein die Kern- aufgaben einer Sozialstation klar umreißt. Die Festlegung des Aufga- benrahmens muß auch dazu ange- tan sein, den bereits entstandenen Eindruck auszuräumen, daß es sich bei der Einrichtung von So- zialstationen um paramedizinische Einrichtungen, Ambulatorien oder medizinisch-technische Zentren (MTZ) handelt. Es muß vielmehr eindeutig sichergestelIt sein, daß solche Sozialstationen weder Kran- kenpflegestationen noch medizini- sche Ambulatorien sind.
Denn grundsätzlich können So- zialstationen weder den niederge- lassenen Arzt bzw. Zusammen- schlüsse von Ärzten in Praxisge- meinschaften noch andere Formen ärztlicher Zusammenarbeit, noch Krankenhäuser ersetzen. Die So- zialstationen müssen vielmehr ih- ren eigenen Standort im Bereich der Lebenshilfe finden.
Klare Aufgabenabgrenzung notwendig
Wie notwendig eine klare Abgren- zung und definitorische Bereini- gung der Begriffe und Aufgaben der Sozialstationen ist, um Mißver- ständnissen vorzubeugen, macht eine Äußerung des Deutschen Ge- werkschaftsbundes (DGB) zum Thema „Sozialstation" deutlich.
Der stellvertretende Vorsitzende des DGB, Gerd Muhr, meint — so ist es in der „Rheinischen Post"
vom 27. Juli 1974 nachzulesen —, daß „medizinisch-technische Lei- stungen" (was immer er sich in diesem Zusammenhang darunter vorstellen mag; die Red.) nicht län- ger zum Behandlungsmonopol der freipraktizierenden Ärzte gehören dürften. Vielmehr sollten die Ärzte
— so Gerd Muhr — von der techni- schen Leistung „etwas entlastet"
werden, um mehr Zeit für die „rei- nen Gesundheitsprobleme" gewin- nen zu können.
Die Diskussion um die Sozialstatio- nen sollte jedoch nicht zum Anlaß genommen werden, um gewerk- schaftseigene Projekte zum wie- derholten Male anzupreisen. Sie sollte vielmehr verdeutlichen, daß mit einer richtungsweisenden Ent- wicklung dieser Einrichtungen ein Weg eingeschlagen werden könn- te, uni die noch im argen liegende Betreuung Älterer und Hilfebedürf- tiger zu verbessern. Nicht überse- hen werden sollte auch, daß durch die angestrebte Organisationsform die Arbeitsbedingungen (Urlaub, geregelte Freizeit und angemesse- ne Bezahlung) der Sozialhelfer so- wie die Attraktivität des Berufsbil- des eine Aufbesserung erfahren würden.
Der Einrichtung zentraler Stationen pflegerischer und sozialer Dienste muß insoweit die gleiche Beach- tung geschenkt werden wie der Einrichtung ärztlicher Gruppenpra- xen als sinnvoller Ergänzung der ärztlichen Einzelpraxis.
Franz Stobrawa
2620 Heft 37 vom 12. September 1974 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT