DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Erkrankungen der Niere (9)
Arzneimitteldosierung und -nebenwirkungen bei
chronischer Niereninsuffizienz
Jochen Eigler
und Hendrik Dobbelstein
Bei der Behandlung von Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz führen die abnehmenden renalen Funktionen zu Veränderungen der Pharmakodynamik und -kinetik, so daß ein besonders kritischer Umgang mit Medikamenten erfor- derlich wird. Zu bevorzugen sind solche Medikamente, deren Do- sierung trotz Niereninsuffizienz nicht verändert werden muß. Jede Langzeitmedikation sollte wieder- holt auf ihre Indikation kritisch überprüft werden. In allen unkla- ren Situationen sind Arzneimittel- nebenwirkungen differentialdia- gnostisch in Erwägung zu ziehen.
it den Termini Phar- makodynamik als der Lehre vom Ein- fluß der Arzneistof- fe auf den Organis- mus und Pharmakokinetik als der Lehre vom Einfluß des Organismus auf Arzneistoffe werden die komple- xen Vorgänge einer Arzneimittelwir- kung umschrieben. Es verwundert daher nicht, daß Störungen der Nie- renfunktion die Wirkmechanismen, Dosis-Wirkungs-Beziehungen und toxischen Nebenwirkungen (Phar- makodynamik) sowie Absorption, Verteilung, Metabolisierung und Eli- mination (Pharmakokinetik) von Pharmaka auf vielfältige Weise be- einflussen; und zwar nicht nur direkt durch die verminderte renale Elimi- nationskapazität, sondern auch (je nach Ausmaß der Niereninsuffi-
zienz) durch extrarenale Faktoren wie metabolische . Azidose, geringere Proteinbindung, Änderung der Blut- Hirn-Schranke, Bindungsverhalten und Interaktion mit anderen Phar- maka (4, 6).
Berücksichtigt man darüber hin- aus den zeitlichen Ablauf der Er- krankung (akute versus chronische Niereninsuffizienz), so können sich Pharmakodynamik und -kinetik un- ter Umständen so schnell ändern, daß zu ihrer Erfassung fortlaufende Messungen erforderlich wären, die in der Praxis nicht zur Verfügung stehen.
Außerdem fehlen für zahlreiche Medikamente derartige Daten, oder sie sind nur an relativ kleinen Fall- zahlen erhoben worden, so daß man oft auf Modellvorstellungen, Extra- polationen und Näherungswerte so- wie auf klinische Erfahrungen zu- rückgreifen muß. Sie können sich im Einzelfall als unzureichend oder falsch erweisen; in allen diagnostisch unklaren Situationen sollte man da- her gerade bei niereninsuffizienten Patienten unerwünschte Arzneimit- tel(neben-)wirkungen in differential- diagnostische Überlegungen einbe- ziehen. Dies gilt auch für Fälle, in denen eine Dauermedikation bisher scheinbar gut vertragen wurde. An- hand pathophysiologischer Gesichts- Medizinische Klinik (Direktor: Prof. Dr. med.
Peter C. Scriba), Klinikum Innenstadt der Ludwig-Maximilian-Universität München;
Abteilung Innere Medizin (Chefarzt: Prof.
Dr. med. Hendrik Dobbelstein), Kranken- haus der Missions-Benediktinerinnen, Tut- zing
Herrn Professor Dr. med. Eberhard Buch- bor zum 70. Geburtstag gewidmet.
punkte wird im folgenden versucht, Empfehlungen zur Arzneimittelthe- rapie bei chronisch Niereninsuffi- zienten zu geben, die vor allem Be- langen der Praxis Rechnung tragen sollen.
Pathophysiologie
Die für die Ausscheidung harn- pflichtiger Substanzen wichtigste re- nale Funktionsgröße ist die glomeru- läre Filtration (GFR), die mit Hilfe der Clearance-Technik quantifiziert werden kann. Unter Verwendung des im Muskelstoffwechsel gebilde- ten Kreatinins als Markersubstanz (endogenes Kreatinin) läßt sich in der Klinik ausreichend genau die glomeruläre Filtrationsrate mit Hilfe der sogenannten endogenen Kreati- nin-Clearance bestimmen.
Für alle nur durch glomeruläre Filtration eliminierten Substanzen muß unter Stoffwechselgleichge- wichtsbedingungen eine Proportio- nalität zwischen Serumkonzentrati- on dieser Substanz und dem Klärme- chanismus „glomeruläre Filtration"
bestehen. Diese Beziehung ist auch für das Kreatinin oft untersucht, seit Dt. Ärztebl. 88, Heft 39, 26. September 1991 (57) A-3223
langem bekannt und in Abbildung 1 graphisch dargestellt. Ihre prakti- sche Bedeutung ist unverändert groß, weil sich aus ihr nicht nur die genannte Proportionalität zwischen beiden Größen ableiten läßt, son- dern auch deutlich wird, warum die glomeruläre Filtration auf über die Hälfte des Normalen eingeschränkt sein muß, bevor es zu einem Anstieg des Serumkreatinins über die Norm kommt. Da bei pathologisch erhöh- tem Serumkreatinin diese Substanz zusätzlich tubulär sezerniert wird, ist die dann gemessene endogene Krea- tinin-Clearance etwas größer als das tatsächliche Glomerulusfiltrat. Vit- amin C und P AH können durch Er- höhung der Chromogene (bei nicht enzymatischer Bestimmung), Acetyl- salicylsäure, Cefoxitin, Trimetho- prim und Cimetidin durch Hem- mung der tubulären Kreatininsekre- tion bei Niereninsuffizienten zu
"falsch" hohen Kreatininwerten füh- ren.
Im Verlaufe des Lebens nehmen auch beim sogenannten Nierenge- sunden die renalen Ausscheidungs- funktionen ab (vergleiche Abbildung 2). Der Rückgang der glomerulären Filtrationsrate ab dem 40. Lebens- jahr beträgt etwa 1 ml pro Lebens- jahr (5). Da gleichzeitig mit zuneh- mendem Alter die Muskelrnasse und damit die Bildung von Kreatinin zu- rückgeht, bleibt die Kreatininkon-
Inulin-Clearence (ml/min) ± 1 so
GFR
125
100
75
50
. - . GFR
25 0 - -- 0 Plasmafluß
Plasmakreatinin mg% , - - - , o I
8 I
6
4
01 10 o ,
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00 0 '. Normale Filtration
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0 0 0 -2" 126 ml/min +2". . . Oeo 0 I : :
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Normalbereich {
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Na-Thiosulfat -Clearence
Abbildung 1. Beziehung zwischen Glomerulusfiltrat (hier mit Natriumthiosulfat als Marker·
substanz bestimmt) und Plasmakreatinin. Offene Kreise = Männer, geschlossene Kreise =
Frauen (aus 10)
zent ration trotz verminderter glome- rulärer Filtration in der Regel nor- mal: Ein für die Geriatrie wichtiger Sachverhalt, der verständlich macht, warum der ältere Mensch bei weite- rer (und oft relativ geringer) Ver- minderung der glomerulären Filtra- tion schneller in die Niereninsuffi- zienz mit entsprechenden pharma- kodynamischen und -kinetischen Folgen hineingerät als der nierenge-
Oiodrast Clearence (ml/min) ± 1 SO Plasma- fluss 800
600
400
200
sunde Jugendliche. Die nicht selten bei alten Patienten beobachtete Di- gitalisintoxikation trotz unveränder- ter "normaler" Dosierung findet hier eine Erklärung.
Dagegen verfügen die tubulären Systeme über große Funktionsreser- ven, so daß die Homöostase, das heißt die Konstanthaltung der Kör- perflüssigkeiten (Wasser-, Elektro- lyt- und Säure-Basen-Haushalt), trotz deutlich eingeschränkter glo- merulärer Filtration noch gewahrt bleibt. In Abhängigkeit von der glo- balen Funktionsminslerung führt dann allerdings jede Uberforderung dieser Mechanismen schnell zu Ma- nifestationen der Dekompensation (zum Beispiel Hyperkaliämie, Über- wässerung, Acidose). Die zwangsläu- fige Zufuhr etwa von Natrium oder Kalium bei der Gabe großer Mengen von Antibiotika (zum Beispiel 5,2 mval Na + /g Ticarcilin) kann dann klinisch relevant werden.
O~~----~---r---~----~----~---~----~O
Die Bestimmung der endogenen Kreatinin-Clearance ist in der klini- schen Praxis oft mit Fehlerquellen behaftet (zum Beispiel Urinsammel- perioden) oder liegt al~ Wert in einer akuten Situation nicht vor. Zu ihrer Berechnung sind daher empirische Formeln entwickelt worden, die ne- ben Plasmakreatinin Körpergewicht,
20 30 40 50 60 70 80 Alter in Jahren
Abbildung 2. Altersabhängige Änderung von Glomerulusfiltrat und renalem Plasmafluß (mo- difIziert nach 5)
A-3224 (58) Dt. ÄrztebJ. 88, Heft 39, 26. September 1991
Tabelle 1: Medikamente, die bei chronischer Niereninsuffizienz in üblicher Dosierung gegeben werden können
(Bei den blau gekennzeichneten Medikamenten gilt dies für jeden Grad der Niereninsuffizienz, bei den grau gekennzeichneten nur bis zu einer Kreatinin-Clearance > 10 ml/min beziehungsweise Serum-Kreatininwerten < 8 mg/dl). Aufgeführt sind jeweils die inter- national gebräuchlichen Freinamen [INN] sowie ein Firmenpräparat als Beispiel. Der Freiraum soll dem Leser die Möglichkeit ge- ben, von ihm bevorzugte Präparate einzutragen. * Einzelheiten siehe Text
Firmenpräparate [Beispiele**]
Pharmakon
I
Firmenpräparate[INN] (Beispiele]
Pharmakon [INN]
Analgetika
Buprenorphin Temgesic Methadon L-Polamidon
Codein Morphin
Fentanyl Pethidin Dolantin
Pentazocin Fortral Paracetamol Benuron
Tilidin Valoron
Antiarrhythmika
Amiodaron Cordarex Flecainid Tambocor
Chinidin Mexiletin Mexitil
Lidocain Xylocain Tocainid Xylotocan
Lorcainid Remivox Propafenon Rytmonorm Verapamil Isoptin
Antibiotika a) Cephalosporine
Cefoperazon Cefobis Cefamandol Mandokef
Ceftriaxon Rocephin Cefotiam Claforan
b) Penicilline*
Oxacillin Stapenor Amoxicillin Clamoxyl
Dicloxacillin Dichlor-Stapenor Ampicillin Birzotal
c) Tetracycline
Doxycyclin Vibramycin Minocyclin Klinomycin
Azlocillin Securopen Penicillin G
d) andere Antibiotika Chloramphenicol Paraxin
Clindamycin Sobelin Enoxacin Gyramid
Erythromycin Etythrocin Roxithromycin Build Antidepressiva
Amitryptilin Saroten Desipramin Pertofran Doxepin Aponal Imipramin Tofranil Nortriptylin Nortrilen
Antidiabetika
Glipizid Glibenese Glibenclamid Eughicon
Tolbutamid Rastinon Insulin
Tolazamid Norglycin
*1 Die Nennung von Beispielen erfolgte auf Wunsch der Schriftleitung
Dt. Arztebl. 88, Heft 39, 26. September 1991 (63) A-3225
Bromocriptin Levodopa
Pravidel
Antipsychotika, Neuroleptika
Haloperidol Haldol
Antirheumatika Diclofenac
Fenoprofen Ibuprofen Indometacin Naproxen
Voltaren Feprona Tabalon Amuno Proxen
Beta-Rezeptoren-Blocker Labetalol
Metoprolol Pindolol Propranolol Timolol
Trandate Beloc Visken Dociton Temserin Pharmakon
[INN]
Firmenpräparate [Beispiele]
Pharmakon [INN]
Antihypertensiva
Firmenpräparate [Beispiele]
Clonidin Catapresan Captopril Lopirin,
Diltiazem Dilzem Guanethidin Esimil (Komb.) Labetalol Trandate Nifedipin Adalat Nimodipin Nimotop Prazosin Minipress Urapidil Ebrantil Verapamil Isoptin
Diazoxid Hypertonalum Hydralazin Nepresol Minoxidil Lonolox Nitroprussid-Na rium
Antikoagulanzien Acenocoumarol Sintrom
Heparin
Phenprocoumon Marcumar
Antikonvulsi a
Phenytoin Zentropil Carbamazepin Tegretal
Valproinsäure Ergenyl
Anti-Parkinsonmittel
Bronchodilatatoren Theophyllin Euphyllin
Bronchoparat
A-3226 (64) Dt. Ärztebl. 88, Heft 39, 26. September 1991
Chloridazepoxid Lorazepam Oxazepam Phenobarbital
Librium Tavor Adumbran Phenaemal
Pharmakon Firmenpräparate Pharmakon Firmenpräparate
[INN] [Beispiele] [INN] [Beispiele]
Diuretika Bumetanid
Furosemid
Fordiuran Lasix
Chlortalidon Etacrynsäure
Hygroton Hydromedin
Fungizide Ketoconazol Nizoral
Miconazol Daktar
Herzglykoside Digitoxin*
Hypnotika, Sedativa und Tranquilizer*
Clonazepam Rivotril Diazepam Valium Flurazepam Dalmadorm Pentobarbital Repocal Phenothiazin Atosil Secobarbital Vesparax Triazolam Halcion
Tuberkulostatika Isoniazid Rifampicin
Ulkusmi tel Omeprazol Antra
Zytostatika und Immunsuppre siva Busulfan
Chlorambucil Ciclosporin 5-Fluorouracil
Myleran Leukeran Sandimmun
Adriamycin Azathioprin Cytarabin Daunorubicin Etoposid Mitomycin, Actinomycin D Vincristin, Vinblastin, Vindesin Cyclo- phosphamid
Adriblastin Imurek Alexan Daunoblastin
Vepesid
Endoxan
Verschiedenes Colchicin Methyl-
prednisolon u. a. Steroide Prednisolon Prednison
Urbason
Decortin H Decortin
Dt. Ärztebl. 88, Heft 39, 26. September 1991 (67) A-3227
Firmenpräparate (Beispiel**]
Begründung Pharmakon
[INN]
Schwer steuerbar Nephrotoxisch Cisplatin
Methotrexat Nitrofurantoin
Dosisabhängige
Sensorische Neuropathie Nalidixinsäure Kumulation potentiell tox.
Metaboliten
* K'sparende Diuretika
anhaltende
Hyperkaliämie Aldactone, Moduretik, Dytide
D-Penicillamin
Nephrotoxizität, Nephrot. Syndrom Goldpräparate
Metalcaptase, Trolovol
Ridaura, Aureotan, Tauredon Furadantin, Ituran
Nogram
Tabelle 2 a: Pharmaka, von deren Anwendung bereits bei mäßiger chronischer Niereninsuffizienz (GFR < 40 ml/min, Se- rum ICreatinin > 2,5 mg/d1) abzuraten ist.
Aufgeführt sind jeweils die international gebräuchlichen Freinamen [INN] sowie Firmenpräparate als Beispiel. Der Freiraum soll dem Leser die Möglichkeit geben, von ihm bevorzugte Präparate einzutragen. * Einzelheiten siehe Text
**) Die Nennung von Beispielen erfolgte auf Wunsch der Schriftleitung Alter und Geschlecht des Patienten
berücksichtigen (3).
thno r".._ (140 — Lebensalter) x Körpergewicht
Krca
Plasmakreatinin x 72
Bei Frauen wird dieser Wert dann noch mit 0,85 multipliziert.
Ein Beispiel verdeutlicht die ge- schilderten Zusammenhänge: Bei ei- nem 20jährigen 70 kg schweren Mann mit einem Serumkreatinin von 1,2 mg/dl beträgt die so errechnete Kreatinin-Clearance 97 ml/min; bei
Therapieempfehlungen und Dosierung
Hierfür lassen sich Pharmaka — unbeschadet theoretisch gut be- gründbarer Einwände — drei Grup- pen zuordnen:
• Pharmaka, die wegen ihrer vorwiegend extrarenalen Eliminati- on oder ihrer großen therapeuti- schen Breite auch bei Niereninsuffi- zienten in üblicher Dosierung gege- ben werden können (Tabelle 1);
• Pharmaka, die eine Dosisre- duzierung in Abhängigkeit von der Nierenfunktion erforderlich ma- chen;
O Pharmaka, von deren Ge- brauch bei Niereninsuffizienz grund-
einer 80jährigen 50 kg schweren Frau mit einem Serumkreatinin von ebenfalls 1,2 mg/dl beträgt die Krea- tinin-Clearance jedoch nur 29,5 ml/
min (entsprechende Nomogramme erleichtern diese Berechnungen).
Die häufig praktizierte Bezugnahme auf das Serumkreatinin allein bei Dosierungsrichtlinien kann daher nur einen ungefähren Anhalt liefern;
im Zweifelsfall müssen subtilere Techniken (zum Beispiel auch Blut- spiegelbestimmungen des Pharma- kons) angewandt werden.
sätzlich abzuraten ist (siehe Tabelle 2a und 2b).
Ad 1.: In Tabelle 1 sind — nach Indikationsgruppen, zum Beispiel Antiarrhythmika, Antibiotika, Anti- hypertensiva usw., geordnet — jeweils blau gekennzeichnet links Medika- mente aufgeführt, die auch bei hoch- gradiger chronischer Niereninsuffi- zienz wegen ihrer vorwiegend extra- renalen Elimination oder ihrer rela- tiv großen therapeutischen Breite in üblicher Dosierung gegeben werden können; in der rechten Spalte (grau gekennzeichnet) solche Medikamen- te, für die dies nur bei mittelschwe- rer Einschränkung des Glomerulus- filtrats (Kreatinin-Clearance bis et- wa 10 ml/min beziehungsweise Se-
rumkreatininkonzentration < 8mg/
dl) gilt. Bei noch höhergradiger Nie- reninsuffizienz muß auch hier eine Dosisanpassung erfolgen, und zwar um so sorgfältiger, je geringer die therapeutische Breite und je schwer- wiegender zu erwartende Nebenwir- kungen sind: Zytostatika sind hierfür ein typisches Beispiel.
Es handelt sich — ebenso wie bei Tabelle 2a und 2b — um eine Auswahl ohne Anspruch auf Vollständigkeit, und sie gilt zunächst für die akute therapeutische Intervention. Bei Dauermedikation oder Langzeitbe- handlung (zum Beispiel der bakteri- ellen Endokarditis) muß man auch hier Dosisanpassungen und gegebe- nenfalls Blutspiegelbestimmungen vornehmen (Antibiotika, Antiar- rhythmika, Antikonvulsiva, Digoxin).
Ad 2.: Für Pharmaka, die eine Dosisanpassung in Abhängigkeit von der Nierenfunktion erforderlich ma- chen, gilt generell, daß die Initial- (Beladungs-)Dosis gegenüber Nie- rengesunden nicht verändert, son- dern entweder das Dosisintervall oder die Erhaltungsdosis dem Grad der Niereninsuffizienz entsprechend geändert werden sollte. Auch eine Kombination dieser Vorgehenswei- sen ist möglich. Die für die Medika- mente notwendigen Dosierungs- richtlinien werden heute oft bereits A-3228 (68) Dt. Ärztebl. 88, Heft 39, 26. September 1991
Pharmakon [INN]
Firmenpräparate (Beispiel]
Pharmakon Firmenpräparate [INN] (Beispiel*]
Antiarrhythmika Disopyramid Norpace
Rythmodul
Antibiotika, Tuberkulostatika Cilastin
Chlortetracyclin
Aureomycin Norfloxacin Barazan Oxytetracyclin Macocyn Tetracyclin Achromycin Rolitetracyclin Reverin Pyrazinamid Pezetamid Resorbierbare
Sulfonamide
Antidiabetika Glibenclamid Euglucon
Antirheumatika Acemetacin Rantudil
Acetylsalicylsäure
Phenylbutazon Butazolidin Piroxicam Felden
Diuretika Acetazolamid Diamox Etacrynsäure Hydromedin Hydrochlorothiazid Esidrix
Lipidsenker Bezafibrat Cedur
Clofibrat Regelan
ZNS—wirksame Pharmaka Chloralhydrat Chloraldurat
Lithium Quilonum
Minoxidil Nitroprussid-Na Reserpin
Antihypertensiva Lonolox
Tabelle 2 b: Pharmaka, von deren Anwendung bei schwerer chronischer Niereninsuffizienz (Kreatinin-Clearance <
10 ml/min, Serum Kreatinin > 8 mg/dl) abzuraten ist.
Bei geringerer Insuffizienz sorgfältige Dosisanpassung erforderlich! Aufgeführt sind jeweils die international gebräuchlichen Freinamen [INN] sowie ein Firmenpräparat als Beispiel. Der Freiraum soll dem Leser die Möglichkeit geben, von ihm bevor- zugte Präparate einzutragen.
*) Die Nennung von Beispielen erfolgte auf Wunsch der Schriftleitung in den Beipackzetteln der Pharmain-
dustrie angegeben und finden sich darüber hinaus in entsprechender Spezialliteratur (7, 8, 9); die ausführ- lichste, mit umfangreichen Original- daten belegte und jährlich auf den neuesten Stand gebrachte Zusam- menstellung ist die von Bennett (1).
Auch alle dort angegebenen Do- sierungsempfehlungen gelten nur für eine während der Therapiedauer konstante Einschränkung der Nie- renfunktion, also nicht für Situatio- nen, die mit einer akuten Nierenin- suffizienz (zum Beispiel Kreislauf- schock, Exsikkose, Sepsis) einherge- hen. Gerade in solchen Fällen sollte man stets prüfen, wie weit man auf
Pharmaka der Gruppe 1 zurückgrei- fen kann.
Ad 3: In Tabelle 2a sind Medika- mente zusammengestellt, von deren Gebrauch bereits bei mäßiger Nie- reninsuffizienz (GFR < 40 ml/min, Serumkreatinin > 2,5 mg/dl) abzura- ten ist. Für die in Tabelle 2b aufge- führten Pharmaka gilt dies bei schwerer Niereninsuffizienz (Kreati- nin-Clearance < 10 ml/min, Serum- kreatinin > 8 mg/dl). Wie immer, sind Ausnahmen von einer Regel zu- lässig, bedürfen dann aber einer be- sonders sorgfältigen Begründung so- wie Dosisanpassung und Patienten- überwachung. Acetylsalicylsäure in niedriger Dosierung zum Beispiel
wird trotz vermehrter Blutungsnei- gung als Aggregationshemmer zur Prophylaxe eines Shuntverschlusses bei arteriovenöser Fistel verordnet.
Besondere Hinweise
Unabhängig vom renalen Funk- tionszustand müssen selbstverständ- lich allgemeine Dosierungsrichtlini- en, Interaktionen und Kontraindika- tionen beachtet werden; etwaige un- erwünschte
Wirkungen darf man
nicht ohne weiteres einer Nierenin- suffizienz anlasten (zum Beispiel Vermeidung von Betablockern bei obstruktiven Lungenerkrankungen;
Dt. Ärztebl. 88, Heft 39, 26. September 1991 (71) A-3229
Verschlechterung von prostaglandin- abhängiger Nierenfunktion durch nichtsteroidale Antiphlogistika, Er- höhung der Ciclosporinspiegel durch Pharmaka wie Erythromycin, Ca-An- tagonisten und andere).
Chronische Niereninsuffizienz ist oft Ursache oder Folge einer Mul- timorbidität, die meistens nur sym- ptomatischer Therapie zugänglich ist. Im Hinblick auf mögliche Arznei- mittelnebenwirkungen ist daher bei Niereninsuffizienten jede Langzeit- therapie regelmäßig kritisch auf ihre Notwendigkeit hin zu überprüfen.
Hochdosiert unkontrollierte Dauer- anwendung von Al-, Ca- oder Mg- haltigen Verbindungen etwa kann zu entsprechender Akkumulation im Organismus führen. Gegebenenfalls ist eine Rangordnung der medika- mentösen Intervention aufzustellen, die Lebensqualität und Lebenser- wartung einbezieht: Normalisierung des Blutdrucks ist in der Regel wich- tiger als Pharmakotherapie bei Li- pidstoffwechselstörungen.
Die Gruppe der Penicilline ist durch eine große therapeutische Breite gekennzeichnet, so daß trotz vorwiegend renaler Elimination bei kurzzeitiger Behandlung akuter Er- krankungen eine Dosisreduktion nicht erforderlich ist. Insbesondere bei Harnwegsinfekten sollte man, um ausreichend hohe Gewebs- und Urin- konzentrationen zu erzielen, auf renal (glomerulär und tubulär) eliminierte Substanzen wie Penicilline, Cephalo- sporine oder Trimetoprim zurück- greifen. Im Gegensatz dazu haben die Aminoglykoside nur eine geringe the- rapeutische Breite und müssen (am besten mit Blutspiegelkontrolle) dem Grad der Niereninsuffizienz sorgfäl- tig angepaßt werden.
Antikonvulsiva: Auch bei anuri- schen Patienten kann zur Behand- lung des Status epilepticus Diaze- pam in üblicher Dosierung verab- folgt werden. Bei Langzeit (Dauer-) therapie mit Antikonvulsiva generell ist jedoch eine regelmäßige Blutspie- gelkontrolle zweckmäßig.
Herzglykoside: Wie in Tabelle 1 angegeben, ist die Pharmakokinetik von Digitoxin nicht verändert; wegen eines verminderten Verteilungsvolu- mens sollte bei höhergradiger Nie- reninsuffizienz die Sättigungsdosis
von Herzglykosiden generell jedoch nur zirka 75 Prozent des Normalen betragen. Im Hinblick auf die bei fortgeschrittener Niereninsuffizienz häufig auftretenden Störungen des Kalium- und Säure-Basen-Haushal- tes muß die Indikation zur Digitalis- therapie hier besonders strengen Kriterien unterliegen.
Die Empfehlung, sogenannte kaliumsparende Diuretika (Spirono- lacton, Triamteren, Amilorid) bei Niereninsuffizienz zu meiden, be- ruht auf der Beobachtung anhalten- der, im Einzelfall nicht abschätzba- rer Hyperkaliämien. Ein eventueller Kaliummangel bei Niereninsuffi- zienz wird besser durch Kaliumsub- stitution ausgeglichen.
Einfluß
von Dialyseverfahren Spätestens dann, wenn die Nie- reninsuffizienz bis zur Dialyse- pflichtigkeit fortgeschritten ist, sollte man mit dem die Dialyse durchfüh- renden Nephrologen Verbindung aufnehmen, weil die vielfältigen neu hinzutretenden Probleme ein kolle- giales Miteinander bei der Betreuung dieser chronisch Kranken unerläßlich machen, und zwar unabhängig davon, welches Dialyseverfahren im Einzel- fall zur Anwendung kommt.
Im Kontext der hier behandel- ten Thematik sei beispielsweise dar- auf verwiesen, daß einige Pharmaka durch eine konventionelle (vier- bis fünfstündige) Hämodialyse in einem klinisch relevanten Umfang entzogen werden, so daß zur Aufrechterhal- tung wirksamer Arzneimittelkonzen- trationen eine Einzeldosis jeweils im Anschluß an die Dialyse verabreicht werden muß. Umgekehrt wird das Verfahren bei Intoxikationen oder versehentlicher Überdosierung von dialysablen Pharmaka auch zu deren Elimination genutzt. Spezialliteratur gibt Auskunft über die Dialysance verschiedener Stoffe (1, 11).
Im Gegensatz zur Hämodialyse findet bei der Peritonealdialyse ein vorwiegend unidirektionaler Fluß des Pharmakons vom Dialysat in das Blutkompartment statt, so daß intra- peritoneal verabreichte Medikamen-
te auch systemisch zur Wirkung ge- langen. Außerdem wird die Aufnah- me von Pharmaka aus dem Perito- neum generell durch entzündliche Reaktionen (Peritonitis) gesteigert.
Eine wichtige Ausnahme ist Hepa- rin, das sich wegen seiner stark nega- tiven Ladung einer transperitone- alen Resorption weitgehend ent- zieht.
Literatur
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In: Med. Clin. N. Amer. 74 (1990) 1059-76.
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(Hrsg.) Williams and Wilkins (1989), Balti- more.
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(Hrsg.) Williams and Wilkins (1989) Balti- more.
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10. Reubi, F.: Nierenkrankheiten, 2. Auflage (1970) Verlag Hans Huber, Bern.
11. Seyffart, G.: Giftindex, 3. Erg. (1983), Fre- senius Stiftung Bad Homburg.
Anschriften der Verfasser
Prof. Dr. med. Jochen Eigler Medizinische Klinik
Klinikum Innenstadt der Ludwig-Maximilians-Universität Ziemssenstraße 1
W-8000 München 2
Prof. Dr. med. Hendrik Dobbelstein Krankenhaus der
Missions-Benediktinerinnen Bahnhofstraße 5
W-8132 Tutzing A-3230 (72) Dt. Ärztebl. 88, Heft 39, 26. September 1991