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Archiv "Die soziale Sicherung des Kindes und der Familie: Festvortrag in der Eröffnungsveranstaltung des 81. Deutschen Ärztetages 1978 in Mannheim" (21.09.1978)

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DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT Spektrum der Woche Aufsätze •Notizen

Heft 38 vom 21. September 1978

Die soziale Sicherung

des Kindes und der Familie

Festvortrag in der Eröffnungsveranstaltung des 81. Deutschen Ärztetages 1978 in Mannheim

Hans W. Jürgens

Der Kieler Anthropologe un- tersuchte die Frage, warum die durchschnittliche Kinder- zahl der Familien in der Bun- desrepublik zur Zeit unter 1,5 liegt, und er riet dazu, diese Gründe zum Ausgangspunkt sozial- und gesellschaftspoli- tischer Überlegungen zu ma- chen. Die hier abgedruckte Fassung beruht auf einer Ton- bandaufzeichnung aus der Veranstaltung.

Wenn man die ärztliche Wochen- presse, die ärztlichen Monatszeit- schriften in den letzten Jahren regel- mäßig verfolgte, dann konnte man in Abständen von zwei bis drei Wochen regelmäßig auch das Thema behan- delt finden, das uns hier beschäftigt, nämlich die Frage nach der sozialen Sicherung des Kindes und der Fami- lie. Wir finden gerade in diesen Zeit- schriften eine ganze Reihe von er- lauchten Namen aus den verschie- densten Fachrichtungen, der Medi- zin, der Psychologie, der Pädagogik, den Sozialwissenschaften und so fort. Sie führten uns immer wieder dieses Problem vor Augen — fast uni- sono in der Art eines griechischen Chores von Klagenden.

Meine Aufgabe hier wäre es eigent- lich, das alles nun noch einmal schön aufzubereiten und erneut zu- sammenzufassen. Dann könnte ich daraus einen Festvortrag so halten, wie Sie ihn sicher erwarten: Einlei- tend den Geburtenrückgang, die Auflösung der Familie, dann die Gründe: kinderfeindliche Umwelt, Egoismus unserer Gesellschaft, Ma- terialismus, Zukunftsangst; und zum Abschluß dann die Warnung. Sie richtet sich erfahrungsgemäß an diejenigen, die generativ nicht mehr so potent sind und die auch meist nicht mehr in die Lage kommen, Kinder zu erziehen und die neue Ge- neration noch_ in wesentlicher Weise aufzubauen. Anschließend etwas Beethoven.

Nun — diesen Vortrag will ich Ihnen nicht halten. Wie er sein sollte, ha- ben Sie ja inzwischen gehört, und da wir noch etwa 45 Minuten Zeit ha- ben, können wir das machen, was nun heute soziologen-chinesisches Modewort ist, nämlich das Thema etwas „zu hinterfragen".

Sie wissen genauso wie ich, daß es ab und zu sinnvoll sein kann: einige ketzerische Fragen zu stellen und dabei möglicherweise etwas den Ad- vocatus diaboli zu spielen. So kann man vielleicht dieses Thema aus ei- ner ziemlich festgefahrenen Schiene durch das Lockern einiger Schrau- ben und möglicherweise das Umbie- gen einiger Schienen auf einen an- deren Weg schicken, sofern das überhaupt möglich sein sollte.

Ein Überblick

über Zahlen und Fakten

An sich sind wir uns alle einig: Ir- gend etwas stimmt nicht. Das schafft uns Unbehagen im Bereiche Kinder, Familie, Gestaltung unseres sozia- len Lebens, und wir haben auch — wiederum ziemlich unisono — die Meinung, hier müßte irgend etwas geändert werden, denn es geht so nicht weiter. Die Prophezeiungen, die gegenwärtig gehandelt werden, kommen aus den verschiedensten Bereichen, seien es die Kriminolo- gen, die uns düstere Perspektiven aufzeichnen, seien es die Psycholo-

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Spektrum der Woche Aufsätze ·Notizen

Soziale Sicherung des Kindes und der Familie

gen, die uns das Kind vorführen, das nicht mehr aus einer richtigen, voll- ständigen Familie stammt, oder sei- en es die Demographen, die uns ausrechnen, daß wir in 100 Jahren noch knapp 20 Millionen Bundes- bürger sind, alle ganz alt, alles ganz schrecklich.

Fangen wir mit den Zahlen an, denn das sind einigermaßen harte Fakten.

Eine durchschnittliche bundesdeut- sche Familie hat gegenwärtig noch ungefähr knapp anderthalb Kinder.

Das ist sehr wenig. Und wenn wir dem gegenüberstellen, was wir brauchten, nur um unseren Bestand zu erhalten und um das zu erfüllen, was wir als einigermaßen normal an- sehen, dann wären das 2,2 bis 2,3 Kinder pro Familie. Das sind selbst- verständlich sehr abstrakte Zahlen- konkreter: Auf 100 Ehen wären 220 oder 230 Kinder erforderlich. Eine Steigerung von 1,5 bis 2,2 oder 2,3, das aber wäre eine Steigerung unserer Kinderzahl um 50 Prozent.

Das ist ein ganz eindrucksvoller Wert. Ich hatte Gelegenheit, vor eini- ger Zeit an einer Sitzung von Demo- graphen teilzunehmen, die zur Zeit sozusagen überlegen, wie man das deutsche Volk retten kann. Und da wurden einige Prognosen vorge- schlagen, die mim mal durchrech- nen sollte: Zunahme um plus 10 Pro- zent, plus 20 Prozent- und als dann jemand ketzerisch zu sagen wagte, rechnen wir doch mal die Prognose plus 50 Prozent durch, da hieß es:

um Gottes Willen, soviel Steigerung ist doch völlig irreal.

.,.. Genau diese plus 50 Prozent brauchen wir aber, um überhaupt nur wieder in die Balance zu kom- men, nicht um mehr zu werden, son- dern eigentlich nur, um den Status quo zu erhalten. Wir halten ihn ge- genwärtig nicht, und es ist auch die Frage, ob wir aus diesem Tief jemals wieder herauskommen.

Die "natürliche" Kinderzahl Gleich dahinter steht aber die Frage:

Ist denn diese Situation, in jeder Fa-

milie zwei bis drei Kinder zu haben, wirklich so natürlich, wie wir geneigt sind, es als selbstverständlich anzu- nehmen? Wieso gerade zwei Kinder oder drei Kinder? Eine Frau kann, wenn sie ihre Fruchtbarkeitsperiode einigermaßen ausnutzt, durchaus 15 Kinder haben; heute hat sie im Durchschnitt noch anderthalb. Das heißt: 90 Prozent aller Kinder wer- den verhütet. Diese Verhütung aber ist letzten Endes eine soziale Ent- scheidung und nicht mehr ein natür- lich gesteuertes biologisches Phä- nomen.

Nun könnte man sagen: Wenn eine Frau oder eine Familie ohnehin den größten Teil des Lebens mit Verhü- tungstechniken und mit sozialen Überlegungen die Fruchtbarkeit be- einflußt, dann kommt es auf diese letzten 10 oder 20 Prozent auch nicht mehr an - und das könnte ja schon genau den Unterschied aus- machen, auf den es nun demogra- phisch ankommt. Gibt es denn tat- sächlich einen natürlichen Drang, zwei Kinder zu haben? Das wäre ge- rade das, was wir heute geneigt wä- ren zu fordern.

Vor 40 Jahren gab es oder forderte man den natürlichen . Drang, vier Kinder zu haben. Sie wurden damals gebraucht, weil es höhere Verluste durch Säuglings- und Kindersterb- lichkeit gab - bei vier Kindern pro Familie war der Bestand des Volkes gesichert. Die "normale Vollfami- lie", wie damals das schöne Wort hieß, hatte vier Kinder.

Die normale Vollfamilie des pflicht- bewußten Elternpaares heute hat zwei bis drei Kinder - oder, besser gesagt: die sollte sie haben. Zwei bis drei Kinder sind genauso natürlich oder unnatürlich :zu haben wie vier Kinder oder ein Kind. Die Frage ist:

Wo gibt es überhaupt eine biologi- sche Widerstandslinie, die einen möglicherweise fortschreitenden Geburtenrückgang auffängt?

.,.. Ich könnte mir vorstellen, daß diese Widerstandslinie gerade bei einem Kind liegt, und ich werde auch versuchen zu begründen, warum.

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Ein achtzig Jahre alter Trend Wir sollten aber bei solchen Überle- gungen noch eines mitbedenken:

Das, was uns heute als erschrecken- de Folge einer Entwicklung der letz- ten Zeit erscheint, nämlich die Auf- lösungserscheinungder Familie und der Rückgang der Kinderzahlen, das ist letzten Endes nichts weiter als die Fortsetzung eines Trends, der ei- gentlich schon seit 80 Jahren läuft.

Denn seit der Jahrhundertwende spüren wir diesen Niedergang, spü- ren wir einen zunehmenden Funk- tionsverlust der Familie, spüren wir auch den Rückgang der KinderzahL Gelegentlich wurde dieser Trend un- terbrochen durch einige kleine Wel- len nach oben, so Ende der dreißiger Jahre, Ende der fünfziger und im Beginn der sechziger Jahre. Wenn man sich das ganze jedoch einmal als historischen Verlauf oder als ei- ne statistische Kurve aufzeichnet, dann ist ein ganz eindeutiger Trend zu einer stetigen Senkung der .Fruchtbarkeit erkennbar. Als Advo- catus diaboli möchte ich sagen: Was wir bestenfalls erreichen könnten, wäre möglicherweise wieder eine kleine Welle nach oben. Ob das aber den Trend auf die Dauer aufhält, ist die Frage.

Was aber ist denn in diesen 80 Jah- ren eingetreten, was uns in unserer heilen Welt so stört? Nun, das Kind ist in Konkurrenz getreten mit vielen anderen Dingen. Wir sollten aber diese Konkurrenz nicht so materiell sehen, wie sie vielfach in der Öffent- lichkeit diskutiert wird. Das Kind ist auch in Konkurrenz getreten mit ei- ner ganzen Reihe von Ideen, von Forderungen, von neuartigen Auf- fassungen, wie zum Beispiel der Auffassung von der Partnerschaft- lichkeit in der Ehe und anderes mehr. All diese Forderungen sind für sich durchaus akzeptabel, lediglich ihre Interpretation wird sehr bald strittig, wenn man feststellt, daß sie in Konkurrenz zu anderen Forderun- gen treten. Und gerade beim Bei- spiel der Partnerschaftlichkeit in der Ehe- das Standardideal unserer Ju- gend und etwas, was im Augenblick sehr groß herausgestellt wird -, da zeigt sich, und wir haben das empi-

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risch recht gut verifizieren können, daß Kinder Konkurrenten der Part- nerschaftliehkeil sind. Je mehr Kin- der da sind, desto mehr lebt auch anstatt der Partnerschaftliehkeil das alte patriarchalische System in der Familie wieder auf. Je mehr wir an- dererseits das Ideal der Partner- schaftliehkeil aufbauen, desto mehr bauen wir einen konkurrierenden Wert zu Kindern auf. Das sollten wir sehen. Auch Partnerschaftliehkeil ist etwas sehr Wichtiges für eine Ehe. Nur wenn man die Sache über- steigert, bleibt dann nur noch Ehe übrig, nicht aber mehr Familie. Ne- ben das, was wir als vollständige Fa- milie bezeichnen können, nämlich ein Elternpaar plus Kinder, tritt heu- te zunehmend die unvollständige Familie, das Ehepaar ohne Kinder.

Unvollständig aber ist diese Familie eben aufgrund anderer Wertsetzun- gen oder auch aufgrund mißverstan- dener Wertsetzungen.

Exkurs: Frankreich und Quebec Hier wird man einwenden können, daß schwarzgemalt würde, so aus- weglos sei die Sache doch gar nicht, es gebe zahlreiche Beispiele in an- deren Ländern, die mit Erfolg ver- sucht haben, gefährdete soziale Konstruktionen wie die Familie wie- der aufzurüsten, und die damit Er- folg hatten. Das in diesem Zusam- menhang immer wieder zitierte Bei- spiel ist Frankreich: Schon in den zwanziger und dreißiger Jahren un- seres Jahrhunderts hat Frankreich, ursprünglich lange Zeit als "kranker Mann an unserer Seite" apostro- phiert, durch eine einzigartige An- strengung der "Wiederaufrüstung der Familie" tatsächlich eine Stabili- sierung geschaffen, die sich dann in der Kinderzahl, im Rückgang der Ju- gendkriminalität und manch ande- rem ausdrückte. Stimmt das wirk- lich? Und wie sieht es heute aus?

Tatsächlich gilt Frankreich als Mu- sterland für Familien- und Bevölke- rungspolitik. Parallel zu dieser Poli- tik sehen wir: Es sind mehr Kinder gekommen, es hat mehr Franzosen gegeben. Hängt beides wirklich kau- sal zusammen, und wirkt dieses Re-

Spektrum der Woche Aufsätze ·Notizen Soziale Sicherung des Kindes und der Familie

zept immer? Gerade in jüngster Zeit haben wir den Eindruck, daß dieses Rezept nicht mehr wirkt. Frankreich ist zwar immer noch das Musterland in Hinsicht auf Förderung der Fami- lie und im Hinblick auf Förderung von Kindern; das ganze Sozialsy- stem, das ganze Sozialbudget ist praktisch darauf ausgerichtet. Die Familienleistungen nehmen im So- zialbudget einen sehr großen Raum · ein, Kranken- und Altersversiche- rung treten demgegenüber deutlich zurück. Dennoch sind auch die Franzosen heute demographisch an den Rand des Minus gekommen. Es gibt eine Untersuchung eines staat- lichen französischen Institutes, aus der hervorgeht, daß all die familien- politischen Leistungen Frankreichs, die nun wirklich in der Welt eine Spitzenstellung einnehmen, vermut- lich nur jede fünfte Familie veranlaßt haben, noch ein Kind zusätzlich zu bekommen.

ln der Bundesrepublik Deutschland könnten wir uns diesen Aufwand oh-

nehin nicht leisten. Und wenn wir

dann noch feststellen, der Ertrag ei- nes solchen Aufwandes ist ohnehin so bescheiden, dann könnten wir mit unseren familienpolitischen An- sätzen eigentlich nur resignieren. Übrigens brauchen wir uns nicht an Frankreich festzuhalten - es gibt ähnliche Beispiele. Die kanadische Provinz Quebec war in der Vergan- genheit berühmt dafür, daß die Fruchtbarkeit ihrer Bevölkerung in der weißen Rasse einmalig war. Dies lief parallel mit einer starken Fami- lienförderung nach französischem Muster. Auch heute ist Quebec noch immer die Provinz in Kanada, die die stärkste Familienförderung betreibt, aber wir haben dort gleichzeitig die niedrigsten Kinderzahlen, die größte Jugendkriminalität und manche an- dere negative Erscheinungen, mit denen Quebec nun ganz am Ende der kanadischen Statistiken ran- giert, während die übrigen Provin- zen, die nicht sehr viel tun, viel bes- ser dastehen. Auch hier wieder ent- steht die Frage: Wo liegt die Bezie- hung zwischen den beiden Phäno- menen? Gibt es eigentlich zwischen dem Versuch, hier irgend etwas zu

beeinflussen, und dem Ergebnis ei- nen Zusammenhang?

ln jüngster Zeit beeindrucken uns Ergebnisse aus der DDR: Eine Reihe von Maßnahmen zur Förderung der Familie läuft parallel und schlägt sich nieder in einem Anstieg der Kin- derzahl. Viel mehr wissen wir dar- über noch nicht, aber wir sind nur allzu bereit festzustellen, daß da ein Zusammenhang bestehe. Ob aber nicht beides möglicherweise völlig unabhängig aus ganz anderen Quel- len gespeist wird, bleibt offen. Wir wünschen, daß ein Zusammenhang besteht, genauso wie wir bei uns wünschen, daß Maßnahmen, die wir ergreifen, einen Sinn und ein Ergeb- nis haben. Weil wir es wünschen, glauben wir, daß dieser Zusammen- hang besteht.

Ein schon nach zehn Jahren überholtes Modell

Zum Beweis dieser These von dem Zusammenhang zwischen Wunsch und Wirklichkeit noch ein anderes Modell: Im Jahre 1966 gab es eine Prognose des Statistischen Bundes- amtes, die aus den vergangeneo Jahren mit einem stetigen Ansteigen der Kinderzahl extrapoliert worden war. Diese Prognose von 1966 sagte bis zum Jahr 2000 einen Anstieg der Bundesbevölkerung um 14 Millio- nen voraus. Hätte die Bundesregie- rung damals erklärt, das ist ja viel zuviel, und wie sollen wir denn 14 Millionen mehr Einwohner verkraf-

ten, und hätte man dann eine Politik

gegen diese unerwartete Fruchtbar- keit in Angriff genommen; dann wür- de man heute sagen, diese Po!itik hat Erfolg gehabt. Man hat aber tat- sächlich gar nichts unternommen, und die nicht unternommene Politik hatte auch Erfolg.

.,... Das Fazit: Familienpolitik und Bevölkerungsentwicklung gehen möglicherweise weitgehend unab- hängig voneinander vor sich, und wir sollten uns vor jedem Wunsch- denken in diesem Bereich hüten.

Wir wissen nicht, ob das, was wir

tun, und das, was am Ende heraus-

kommt, wirklich zusammenhängt;

DEUTSCHES ARZTEBLATT

Heft 38 vom 21. September 1978 2141

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Spektrum der Woche Aufsätze · Notizen

Soziale Sicherung des Kindes und der Familie

wir sind lediglich geneigt, es zu glauben, wenn das, was wir uns vor- stellen, auch herauskommt. ·

Vorgetäuschte Gründe

ln der letzten Zeit haben wir zahlrei- che Gründe dafür gesammelt, war- um Familien keine Kinder mehr be- kommen, warum sich Ehepaare wei- gern, Familie zu werden. Es gibt mittlerweile lange Listen, warum das so ist. An erster Stelle steht dann immer das Einkommen, an zweiter Stelle die Wohnungsfrage, an dritter Stelle die Zukunftsangst, an vierter Stelle . . . und so fort. Diese Listen sind abfragbar, und sie sind immer wieder reproduzierbar. Wie aber ist die Wirklichkeit?

Bis 1966 hat sich Jahr für Jahr das Realeinkommen unserer Bevölke- rung verbessert, und von Jahr zu Jahr stieg die Fruchtbarkeit. Bis 1966 hat sich von Jahr zu Jahr die Wohnungslage verbessert, und par- allel dazu stieg die Fruchtbarkeit. Ei- ne sehr logische Entwicklung. Nach 1966 hat sich von Jahr zu Jahr das Realeinkommen verbessert, und pa- rallel dazu sank die Fruchtbarkeit.

Nach 1966 hat sich auch die Woh- nungslage ständig verbessert, und parallel dazu sank die Fruchtbarkeit.

Das heißt: Bis1966 war alles logisch, nach 1966 wurde alles unlogisch.

Und so stellt sich dann die Frage, ob uns nicht auch vorher schon die Entwicklung nur zufällig logisch er- schien, weil wir es gerade so erwar- teten; möglicherweise hängen die Dinge aber gar nichtmiteinander zu- sammen. Wir können auch eine Par- allelität zwischen der Zunahme der Autos unserer Bevölkerung und der Abnahme der Kinderzahlen finden - man braucht die Statistiken nur ne- beneinanderzuhalten. Ob aber ein Zusammenhang existiert, ist eine ganz andere Frage.

Ich meine aber, wir gehen von einem ganz falschen Ausgangspunkt aus.

Wenn wir fragen, warum die Leute keine Kinder mehr wollen, dann set- zen wir ja irgendwie voraus, daß es

irgendein natürliches Bedürfnis gibt, eine bestimmte, wenn auch be- grenzte Kinderzahl zu haben- nicht zu viele, denn wir sind ja kein Ent- wicklungsland, eine Kinderzahl viel- mehr, die nun gerade unseren herr- schenden Vorstellungen entspricht.

Und wenn die Leute diese Anzahl von Kindern nicht haben, dann ist irgend etwas defekt, und wir suchen nach den Gründen. Sollten wir die Frage nicht einmal umdrehen: War- um wollen denn Leute Kinder ha- ben? Möglicherweise wird dann ein Schuh daraus.

Dann finden wir auch Begründun- gen, zwar wesentlich schwammige- re, denn das läßt sich nicht mehr so präzise in DM oder Quadratmeter Wohnungsgröße oder sonst irgend- einer anderen Größe ausdrücken.

Da kommen dann vielmehr Begriffe von Erfüllung, davon, den Partner und sich selbst im Kinde wiederzu- finden, von der Möglichkeit, einen Menschen gestalten zu können - das sind alles überzeugende Grün- de, die auch ganz sicher auf einer zentraleren Ebene angesiedelt sind als die doch mehr peripheren Grün- de, die von den äußeren Umständen abgeleitet wurden.

Die Schwierigkeit ist bloß: Alle diese Gründe beziehen sich auf das erste Kind. Dieses Kind gibt die Erfüllung, dieses Kind gibt die Möglichkeit, ei- nen Menschen aufzubauen, dieses Kind gibt die Möglichkeit, mitan- schauen zu dürfen, wie man sich selbst und wie der Partner sich in einem anderen Wesen entwickeln.

Wo ist dann aber der Wert des zwei- ten Kindes? Genau da liegt das Pro- blem. Denn alles, was das erste Kind bringt, ist offenbar die Erfüllung be- stimmter basaler Wünsche - und das zweite Kind? Wir haben gelernt, daß ein Einzelkind nicht in der idea- len Umgebung aufwachse, und als Opfer für das erste Kind erzeugen wir das zweite. Besonderen Nutzen für uns selbst (wir denken ja nun mal egoistisch) können wir aus dem zweiten Kind eigentlich nicht mehr ziehen. Und die Verhaltensweise un- serer Bevölkerung zeigt ja, daß trotz aller Unkenrufe, trotz aller Warnun- gen eben dieser Trend zum Ein-

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Kind-System sich immer stärker durchsetzt. Ich meine, wir können diesen Trend nicht immer mit der Defizitliste betrachten, die Defizitli- ste verfeinern, etwas modifizieren, versuchen, mit einigen Hilfsmaßnah- men daran zu bessern, und das Grundprinzip, das möglicherweise dahintersteckt, völlig außer acht las- sen. Was macht das zweite Kind at- traktiv? Das, meine ich, ist die ent- scheidende Frage.

Der "Babyschock"

Das Bemerkenswerte in diesem Zu- sammenhang ist, daß sehrviele Ehe- paare in unserer Bevölkerung mit dem Wunsch ihre Ehe beginnen: Wir wollen zwei Kinder haben. Nach den Erfahrungen mit dem ersten Kind aber bleibt genau dieser Wunsch auf der Strecke. Wir haben das in Longi- tudinalstudien an einer großen Zahl von deutschen Ehepaaren und Fa- milien verfolgen können. Wir haben in einer ganzen Reihe von Bundes- ländern Tausende von Familien durch ihre Ehe von Beginn an ver- folgt und sahen sie hoffnungsfroh mit dem Wunsch nach zwei Kindern starten. Nach dem ersten Kind kam dann aber das, was die Presse als

"Babyschock" bezeichnet. Sie mochten dann auf einmal kein wei- teres Kind, sie hatten sich alles et- was anders vorgestellt. Genau die- ses eine Kind brachte noch genü- gend Werte, auf die man hoffte, und die Nachteile konnte man gewisser- maßen verkraften. Beim zweiten Kind aber war man dazu nicht mehr bereit - und das war unabhängig, zum Teil jedenfalls, von der Frage, ob die Frau berufstätig war oder nicht.

~ Hier gibt es also eine Art sensible Phase nach dem ersten Kind. Und es ist die Frage, ob man diese sensible Phase nicht sehr viel schärfer ins Auge fassen müßte als bisher, wo wir den Begriff Familie und Kinder unscharf und in toto betrachten.

Wir sollten, so meine ich, die Gieß- kanne weglassen, mit der wir heute Gerechte und Ungerechte begießen.

Solche Maßnahme bringt nichts. I>

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Soziale Sicherung des Kindes und der Familie

Auch die Tatsache, daß das Kinder- geld beim ersten Kind beginnt, dem Kind nämlich, das mit großer Wahr- scheinlichkeit ohnehin geboren wird, sollte man hinterfragen. Soll- ten wir nicht mit dem zweiten Kind beginnen, dann aber mit doppelter Kraft? Auch das wäre eine Überle- gung wert.

Es gibt ein Denkmodell, das wir vor einiger Zeit für die Stadt Berlin ent- wickelt haben, das Modell von der

„Mutter im Staatsdienst". Berlin hat ja besondere Probleme mit seinen Familien und seinem Nachwuchs.

Könnte man nicht versuchen, ganz gezielt die Reserven zu mobilisieren, die in der Bevölkerung vorhanden sind, die Reserven derjenigen, die sich zu Kindern und zu einer richti- gen Familie im alten Sinn bekennen und denen man ermöglichen sollte, eben diese Kinder zu haben? Das ist zwar das Ziel jeder Familienpolitik, nur pflegt die Familienpolitik bislang jedenfalls mit der Gießkanne herum- zulaufen und alle zu motivieren, auch die, die sich nicht motivieren lassen wollen.

Wir wissen, daß es in unserer Bevöl- kerung auch heute noch Ehepaare gibt, die, wenn man sie doch nur ließe, auch gern vier oder fünf Kin- der bekämen und dabei glücklich sein könnten und würden. Bloß, „die Verhältnisse sind grad nicht so."

Nun, warum machen wir die Verhält- nisse nicht so? Warum fangen wir nicht von dieser Keimzelle aus mög- licherweise an, wieder richtige Fa- milien aufzubauen? Warum hören wir nicht auf, mit diesem sinnlosen Durchschnitt von der Standard- zwei-Kinder-Familie durchs Land zu gehen?

An diesem Durchschnitt liegt doch alles: Wer zwei Kinder hat, ist nor- mal, wer zwei Kinder hat, ist ange- paßt, wer zwei Kinder hat, ist der gute Staatsbürger. Selbst die Fach- wissenschaft spricht bereits bei vier Kindern von exzessiver, von aus- schweifender Fruchtbarkeit. Mit sol- chen Formeln kann man natürlich den größeren Familien die Kinder- freudigkeit und die Freude an dem Familienleben nehmen.

Mit dem Durchschnittsdenken ist das so eine eigenartige Sache: Der normale Bundesbürger ist außeror- dentlich stolz, wenn er ein außerge- wöhnliches Auto hat. Jede unserer Damen ist glücklich, wenn sie ein Kostüm trägt, das nicht jede andere auch trägt. In allen möglichen Le- bensbereichen finden wir es beson- ders schick, besonders erstrebens- wert, wenn wir vom Durchschnitt ab- weichen. Bloß im Bereich der Kin- derzahl sind wir von einer kaum faß- baren Konformität. Jemandem einen Durchschnittsgeschmack vorzuwer- fen ist eine Beleidigung. Jemandem eine Durchschnittskinderzahl zu un- terstellen, ist ein selbstverständli- ches Lob. Genau dies sollten wir durchbrechen und könnten wir auch durchbrechen.

Die Motivierten unterstützen Noch einmal zurück zu unserem Denkmodell: Wir haben in unserer Bevölkerung ein Potential von etwa 10 Prozent an Ehepaaren, die durch- aus bereit wären, eine Vier- oder Fünf-Kinder-Familie aufzubauen.

Warum nehmen wir uns nicht dieser Ehepaare besonders an?• Warum ge- ben wir ihnen nicht die Möglichkeit, ihren Wunsch zu verwirklichen, und zwar nicht nur mit einigen kleinen Douceurs, sondern indem wir ihre Leistung nicht nur verbal, sondern auch sozial anerkennen. Da kom- men wir zu dem Schlagwort „Mütter im Staatsdienst". Das ist nun nicht eine neue Variante des Mutterkreu- zes oder des Lebensborns, sondern die Möglichkeit, denjenigen, die ger- ne Kinder versorgen wollen, die Möglichkeit zu geben, dies in einer anerkannten Position zu tun — sie nämlich als Mutter, die nicht nur et- was für sich, sondern auch für die anderen leistet, zu honorieren und sie darüber hinaus auch sozial auf Lebenszeit zu sichern. Selbstver- ständlich braucht es sich dabei nicht nur um eigene Kinder zu handeln, sondern es wären auch Pflegekinder einzu beziehen.

Dies wäre immerhin ein Denkansatz, der auch zu finanzieren wäre. Die Zahl der Familien, die hier in Frage

kämen, wäre nicht sehr groß; aber sie könnte uns doch ein Beispiel ge- ben für ein neues Bild von Familien, die sich ohne äußere Zwänge frei entfalten können. Nicht der Kult des Kinderreichen vergangener Zeiten soll hier wiedererweckt werden, wohl aber der Gedanke, daß die freie Entscheidung von Eltern nicht nur im Sinne einer Minimierung der Kin- derzahl, sondern — wenn sie darin ihre Erfüllung finden — auch im Sin- ne einer Maximierung, in einer grö- ßeren Kinderschar, erhalten bleiben muß.

Das Denken in Durchschnittskinder- zahlen und der davon ausgehende soziale Druck im Hinblick auf ange- paßtes Verhalten, aber auch der aus diesen Denkansätzen resultierende wirtschaftliche Druck sind gefähr- lich. Wir sollten diese Situation er- kennen und uns in Denken, Verhal- ten und familienpolitischem Han- deln darauf einrichten. Das Durch- schnittsdenken und die daran ange- paßte familienpolitische Gießkanne müssen wir überwinden. Der ein- gangs zitierte Chor der Klagenden sollte uns nicht zur Resignation ver- anlassen. Wie in allen Industrielän- dern verläuft bei uns ein historischer Trend, in dem sich die Situation der Familie und damit verbunden die Kinderzahl stark wandeln. Wir soll- ten uns durch die aktuelle Situation nicht den Blick für diesen übergrei- fenden Trend verstellen lassen. Die- se Entwicklung zu erkennen bedeu- tet aber nicht zu resignieren, sich ihr auszuliefern. Wir sollten zumindest versuchen, das, was wir schon nicht aufhalten können, so zu kanalisie- ren, daß wir uns ein Maximum an Lebenserfüllung sichern.

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. rer. nat. Dr. agr.

Hans W. Jürgens Neue Universität Olshausenstraße 40-60 2300 Kiel 1

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