Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 107|
Heft 4|
29. Januar 2010 A 137KOMMENTAR
Prof. Dr. med. Christian Albrecht May, Institut für Anatomie, TU Dresden
S
eit einiger Zeit nimmt die Be- reitschaft von Medizinstudenten ab, ihre Leistungskontrollen im vorge- gebenen Zeitrahmen zu absolvieren.Für einen kurzfristigen Rücktritt von Prüfungen und Klausuren ist zwar ein ärztliches Attest notwendig. Entspre- chende Krankschreibungen werden je- doch problemlos ausgestellt. Viele die- ser Bescheinigungen sind allerdings aus medizinischer und ethischer Sicht äußerst fragwürdig. Sowohl das Verhal- ten der Studierenden als auch der Ärz- tinnen und Ärzte, die solche Atteste
ausstellen, ist oftmals nicht korrekt und kritisch zu hinterfragen.
Welche Ausmaße das Problem mit den Attesten angenommen hat, zeigt ein Beispiel von der Technischen Uni- versität (TU) Dresden. Hier war kürzlich eine besondere Zuspitzung der Krank- schreibungen bei einer Histologieklau- sur zu verzeichnen. Für 24,5 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurde eine akute Erkrankung von ärzt- licher Seite bescheinigt. Fast alle Attes- te ließen jedoch keine Einschätzung über die Prüfungsfähigkeit zu, so dass genauere Angaben von den Studieren- den angefordert wurden.
Das Ergebnis: Die Gastroenteritis stand an erster Stelle in der Häufigkeit – laut den Attesten in der Regel ohne Zusammenhang mit der Prüfung. An zweiter Stelle folgte die Diagnose Kopfschmerz/Migräne, ebenfalls ohne Situationsbezug. An dritter Stelle wur- den Angst/Panik genannt, wobei hier ein Zusammenhang zur Prüfungssitua- tion gesehen wurde. Lediglich zwei Di- agnosen waren fachärztlich bestätigt.
Die beschriebene Problematik wirft viele Fragen auf, die neben den Stu- denten auch die Ärzte betreffen. Ein At- test für Prüfungen muss eine klare Be-
schreibung der Symptome einschließ- lich ihres Schweregrades enthalten.
Die Attestierung der Prüfungsunfähig- keit ist jedoch Aufgabe der Prüfungs- kommission, nicht die der Ärzte. Da die Kommissionen in den medizinischen Studiengängen häufig aus Ärzten be- stehen, ist eine eigenständige Beurtei- lung möglich. Leider werden auch bei Nachfrage oft keine oder nur ungenaue Angaben zum Schweregrad gemacht.
Wurden diese Angaben nicht exakt er- hoben oder das Attest unsorgfältig aus- gefüllt? Beides wäre ein bedenklicher
Mangel an Sorgfalt. Liegen hier ver- mehrt Gefälligkeitsatteste vor?
Bei vielen Ärzten fehlt offenbar das Verständnis für den Zusammenhang von Ursachen und Symptomen. Wenn beispielsweise eine stressinduzierte Übelkeit zur Empfehlung einer Magen- spiegelung führt – wie auf einem der Atteste vermerkt – und wenn die akute Gastritis nicht als somatischer Aus- druck einer psychischen Belastung er- kannt wird, scheint dringender Fortbil- dungsbedarf zu bestehen.
Allerdings ist auch das Verhalten der Studenten zu kritisieren. Sie sind schnell bereit, eine medizinische Dia - gnose als „Schutzschild“ gegen Prü- fungsunsicherheit einzusetzen. Den Studierenden fehlt zunehmend die Fä- higkeit, Prüfungen eigenverantwortlich anzugehen. Es wird lieber vor einem künftigen Kollegen gelogen und ein Krankheitsbild vorgetäuscht. Was für eine ethische Einstellung herrscht bei diesen jungen Menschen vor? Auch ju- ristische Mittel werden immer häufiger eingesetzt – die Studenten entziehen sich ihrer Verantwortung und geben sie in fremde Hände.
Nun ist es wenig hilfreich, die Be- troffenen an den Pranger zu stellen.
Vielmehr brauchen wir Lösungsansät- ze. Diese liegen sicherlich einerseits auf der Hochschulebene. Die Umstel- lung auf das Studium scheint für Abitu- rienten in den vergangenen Jahren schwieriger geworden zu sein. Sie füh- len sich stärker unter Stress und de- kompensieren häufiger. Die Fakultäten sollten dafür sorgen, dass präventiv Probleme erkannt und angegangen werden. Dies beinhaltet auch eine grundlegende Reform der Vorklinik.
Eine erhöhte Belastung stellt eben- falls die nur dreimalige Möglichkeit dar,
eine Klausur zu schreiben. Hier wäre es sicherlich hilfreich, wenn sich die Studenten aktiv zur Prüfung anmelden müssten und nicht automatisch bei Kursteilnahme dazu verpflichtet wür- den. Der Zwang, ein Attest vorzulegen, entfiele, die Autonomie der Studenten würde gefördert.
Andererseits müssen aber ebenfalls die Ärzte für die Problematik sensibili- siert werden. Wenn Studierende – ins- besondere zum Ende des Semesters – ein Krankheitsattest anfordern, sollten sie das Gespräch mit ihnen suchen.
Gerade bei psychosomatischen Kon- stellationen müssen die zugrundelie- genden Probleme aufgedeckt werden, um eine Chronifizierung zu verhindern.
Schnell geschriebene Atteste helfen dabei nicht weiter – ob nun aus Gefäl- ligkeit, aus Unachtsamkeit oder Unwis- sen ist dabei zweitrangig.
Schließlich sind auch die Studenten gefragt. Für einen künftigen Arzt soll- ten Wahrheit und Ehrlichkeit wichtige moralische Grundsätze sein. Wer es nicht schafft, ehrlich zu sich selbst zu sein, dem fehlt ein wesentlicher Faktor für diesen Beruf. Bedauerlicherweise klammert die Arztausbildung diesen
Aspekt bislang aus. ■
PRÜFUNGEN IM MEDIZINSTUDIUM