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Unterschiede und Gemeinsamkeiten O - W A P 94-101

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Unterschiede und Gemeinsamkeiten Annette Spellerberg

Arbeitsgruppe Soziaiberichterstattung W issenschaftszentrum Berlin

für Sozialforschung (WZB) Berlin • Februar 1994

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Zusammenfassung

Ausgehend von der These, daß die Formen der Alltagsgestaltung sozial geprägt sind, werden in diesem Beitrag kultureller Geschmack, Vorlieben und Orientierungen in W est- und Ostdeutschland untersucht. In West- und Ostdeutschland herrschten über 40 Jahre unterschiedliche gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die materiellen Lebensbedingungen differieren nach wie vor stark, und die W iedervereinigung geht m it verschiedenartigen Belastungen einher. Die empirische Analyse, ob und in welchem Ausmaß Unterschiede im Freizeitverhalten und kulturellen Geschmack bestehen, die Ermittlung von Lebenszielen und -ausrichtungen, ist die Zielsetzung dieses Beitrags. Gruppenspezifische Verhaltens- und Denkweisen in den jeweiligen Landesteilen bilden einen zweiten Schwerpunkt.

Die Auswertungen basieren auf dem „Wohlfahrtssurvey 1993“, der einen Zusatz­

fragebogen zu Lebensstilen enthält. Sie erbrachten, daß W estdeutsche im Vergleich zu Ostdeutschen häufiger an „hochkulturellen“ Produkten interessiert sind, freizeit- und genußorientierter leben und in der Freizeit häufiger außer Haus aktiv sind.

Ostdeutsche sind sowohl stärker auf die Familie als auch auf die Arbeit bezogen und bevorzugen die Populärkultur und den Spannungsbereich. In Ost- wie W estdeutsch­

land ist eine starke Kopplung von sozialstruktureller Lage und alltagskulturellen Verhaltensweisen feststellbar. Geschlechtsspezifische Interessen ergeben sich bei­

spielsweise in fast allen Bereichen, wobei sich ost- und westdeutsche M uster unterscheiden. Unterschiedliche Lebensbedingungen setzen sich in den Bereich der Alltagskultur fort und verfestigen ungleiche Statuslagen.

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Gliederung

1. E inleitung... 3

2. Alltagskultur in D eutschland... ...8

2.1 L e b e n szie le ... 8

2.2 Einschätzung der persönlichen Lebensw eise... 19

2.3 Freizeitaktivitäten... 25

2.4 Kultureller G esch m a ck... 33

2.4.1 Fernsehinteressen... 33

2.4.2 M usikgeschm ack... 39

2.4.3 Interesse an B ü c h e rn ... 43

3. Zusam m enfassung...47

Anmerkungen ...50

Literatur ...51

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1. Einleitung

D

eutsch-deutsche Unterschiede und Gemeinsamkeiten werden drei Jahre nach der W iedervereinigung in der öffentlichen Diskussion ebenso wie in der sozialwissenschaftlichen Forschung kontinuierlich thematisiert. Im Vordergrund stehen dabei die objektiven Lebensbedingungen, politische Prozesse und das soziale Klim a. Fragen der kulturellen Alltagsgestaltung, des Geschmacks, der Interessen und der Freizeitaktivitäten in W est- und Ostdeutschland bleiben bislang weitgehend ausgespart. Dies liegt zum einen darin begründet, daß Daten über diese Aspekte seltener erhoben werden und zum anderen, daß sie im Vergleich zu materiellen und politischen Themenbereichen weniger problematisch erscheinen.

Ost- und W estdeutsche haben eine gemeinsame kulturelle Tradition. Dennoch haben die fast ein halbes Jahrhundert andauernden materiellen, institutioneilen und ideologischen Unterschiede Spuren im Alltagsleben hinterlassen. Die Untersu­

chung, ob und in welchem Ausmaß Unterschiede in individuellen Orientierungen und ausgewählten kulturellen Aspekten des Alltagslebens zwischen Ost- und W estdeutschen bestehen, ist die Zielsetzung dieses Beitrags. Es soll empirisch überprüft werden, ob eine kulturelle Trennungslinie zwischen Ost- und W estdeut­

schen (immer noch) sichtbar ist oder ob (bereits) Gemeinsamkeiten überwiegen.

Fragen der Alltagskultur werden dabei als Bestandteil einer sozialstrukturellen Analyse betrachtet. Bourdieu hat in „Die feinen Unterschiede“ (1987) nachhaltig auf die Bedeutung kultureller Praktiken auf die Reproduktion sozialer Ungleichheiten aufmerksam gemacht. Seiner Argumentation folgend, kommen in ästhetischen Ausdrucksformen soziale Lagen, W erte und Einstellungen und damit Nähen und Distanzen verschiedener Bevölkerungsgruppen zueinander zum Ausdruck. Indem kulturelle Praktiken gesellschaftliche Ungleichheiten auf der symbolischen Ebene legitimieren, dienen sie darüber hinaus zur Absicherung sozialer Herrschaft. Der B egriff „Distinktion“ umfaßt die doppelte Bedeutung kulturellen Geschmacks: zum einen Unterscheidung und zum anderen Rangabzeichen. Wenn Geschmacksfragen und Interessen nicht nur über Gruppenbildungen, sondern auch über soziale Aner­

kennung mitentscheiden, sind solche Informationen wichtig, um über sozialsstruk-

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turelle Differenzierungen und Ost-West-Ungleichheiten auf symbolischer Ebene Auskunft zu geben.

In W estdeutschland haben die allgemeinen W ohlstandssteigerungen in den letzten Jahrzehnten - bei gleichen oder wachsenden vertikalen Ungleichheiten - die W ahrnehmung der eigenen Lage und sozialstrukturelle Ungleichheiten diffuser erscheinen lassen. Aus subjektiver Perspektive erscheinen die Alltagsorganisation, kultureller Geschmack und Gesellungsverhalten großteils selbstgewählt. Es ist auch in der sozialwissenschaftlichen Diskussion umstritten, ob soziale Zuordnungen weiterhin von Faktoren wie Beruf, Bildung oder Einkommen bestimmt werden oder ob Gruppenbildungen rein nach Lebensstilgesichtspunkten vorgenommen werden.

A uf empirischem W eg wird in diesem Beitrag geprüft, ob in W estdeutschland eine Loslösung von kulturellen Praktiken und sozialer Lage oder ob ein Zusammenhang beobachtbar ist.

In der ehemaligen DDR lag der Lebensstandard auf niedrigerem Niveau. Die offizielle Politik verfolgte das Ziel einer Angleichung der Lebensverhältnisse aller Bevölkerungsgruppen, die sich darin äußerte, daß die Gesellschaft wesentlich hom ogener als die westdeutsche war, nicht nur in der vertikalen Schichtung, auch in den Lebens- und Wohnformen, der Haushaltsausstattung usw. Die DDR-Gesell- schaft wurde von Reissig (1993: 64) treffend als „geschlossene Industriegesell­

schaft“ charakterisiert. Die relative Abgeschlossenheit bezieht sich nicht nur auf die interne Differenzierung, sondern auch auf internationale Kontakte. Seit 1989 bieten neue Freiheiten (Medienzugang, Reisefreiheiten, Expansion des W arenangebots) M öglichkeiten der Selbstentfaltung und Individualisierung, die vorher nicht gege­

ben waren. Gleichzeitig gehen die Umstrukturierungsprozesse mit weit verbreiteter Arbeitslosigkeit, Kostensteigerungen bei der Grundversorgung, Entwertung von Kompetenzen, Statusverlust und der Aufgabe lang gepflegter Gewohnheiten einher.

Die von W estdeutschland vorgegebenen Strukturen, Institutionen und Regeln erfor­

dern enorme Anpassungsleistungen. Angesichts einerbisher gegenüber dem Westen nivellierten vertikalen Gliederung und aktueller Umbrüche ist fraglich, ob in Ostdeutschland ein Zusammenhang zwischen der gegenwärtigen sozialstrukturel­

len Position und alltagskulturellem Verhalten existiert.

Es handelt sich in diesem Beitrag um eine Vorstudie zur Ermittlung von Lebensstilen in Ost- und W estdeutschland. Im Mittelpunkt von Lebensstilkonzepten stehen sichtbare Verhaltensweisen, nach denen sich Menschen erkennen, zusam­

menfinden und voneinander abgrenzen. In Anlehnung an das Modell von H.P.

M üller (1992) umfassen Lebensstile einen expressiven, interaktiven und evaluativen Kern. Bewußte oder unbewußte Stilisierung, kultureller Geschmack, Freizeitverhal-

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ten und Orientierungen sind entsprechende Dimensionen ihrer Operationalisierung.

Zunächst werden an dieser Stelle die Verteilungen der Einzelmerkmale im Ost- W est-Vergleich und aus sozialstruktureller Perspektive vorgestellt. Die Präsentati­

on der komplexen Lebensstile wird später erfolgen. Die hier vorgestellten Analysen dienen auch dazu zu überprüfen, ob eine gesamtdeutsche Lebensstiltypologie vorteilhaft ist, oder aber in Ost und W est getrennte Typenbildungen sinnvoller sind.

Aus diesem Grund werden in der Ergebnisdarstellung auch die Unterschiede stärker als die deutsch-deutschen-Gemeinsamkeiten betont. Aus dem Set von Fragen wird die Alltagskultur von Ost- und Westdeutschen ausgewählt anhand von Lebenszie­

len, Einschätzungen der persönlichen Lebensausrichtung, Freizeitaktivitäten und kulturellem Geschmack untersucht.

Lebensziele

Lebensziele geben Auskunft über persönliche Bezugspunkte in der Lebens­

führung und die individuelle Bedeutung einzelner Lebensbereiche. Ebenso wie Orientierungen, Einstellungen und W erthaltungen gehören Lebensziele zur „evaluativen“ Dimension der Alltagsorganisation (M üller 1992: 378); sie differenzieren verschiedene Strategien in der Lebensführung. Sie wurden durch Vorgaben wie „Nach Sicherheit und Geborgenheit streben“, „Eine na­

turverbundene Lebensweise“ oder „Eine Familie, Kinder haben“ operationa- lisiert.

Einschätzung der persönlichen Lebensweise

Die Wahrnehmung und das Erleben des individuellen Alltags sind Gegen­

stand dieses Abschnitts. Die subjektive Bedeutung verschiedener Lebensbe­

reiche und die Realisierung möglicher Lebensziele werden ermittelt. State­

ments lauten beispielsweise „Ich bin in der Freizeit besonders aktiv“, „Ich lebe ganz für meine Fam ilie“ oder „Ich pflege einen gehobenen Lebensstan­

dard“.

Freizeitaktivitäten

Aus den Feldern m öglicher expressiver Stilisierung - Kleidung, W ohnen und Freizeitverhalten - ist die Freizeitgestaltung von besonderer Bedeutung.

Freizeitaktivitäten erfassen Verhaltensweisen in einem relativ frei gestaltba­

ren und zunehmend bedeutender werdenden Lebensbereich. Gestiegene Handlungs- und W ahlmöglichkeiten finden im Freizeitverhalten einen sicht­

baren Ausdruck. Bei aller Freiwilligkeit kommen in der Auswahl der ausgeübten Tätigkeiten materielle und kulturelle Ressourcen zum Tragen.

Aus dem Freizeitverhalten ergeben sich wichtige Hinweise auf den sozialen Verkehrskreis.

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Kultureller Geschmack

Alltagsästhetik gibt über das „kulturelle Kapital“ (Bourdieu 1983) und in­

haltliche Ausrichtungen der Freizeitgestaltung differenziert Auskunft. „Der Geschmack ist die Grundlage alles dessen, was man hat - Personen und Sa­

chen -, wie dessen, was man für die anderen ist, dessen, womit man sich selbst einordnet und von den anderen eingeordnet wird.“ (Bourdieu 1987:

104). Interesse an Fernsehsendungen, Lektüregewohnheiten sowie M usikge­

schmack werden vorgestellt. Die verwendeten Indikatoren alltagsästheti­

scher Vorlieben bieten für diese Fragestellung den entscheidenden Vorteil, wegen der Verbreitung audiovisueller Medien, für fast alle Bevölkerungs­

gruppen gleichermaßen zugänglich zu sein: Fernsehprogramme, Musikrich­

tungen oder Lesestoffe unterscheiden sich in ihren Inhalten, aber kaum noch im Preis.

Die Fragen beruhen auf einem von G. Schulze (1988) entwickelten alltags­

kulturellen Schema, das für diese Umfrage modifiziert wurde. Geschmacks­

indikatoren eignen sich in besonderer Weise, weil sie direkt auf die symboli­

sche Ebene von Zugehörigkeiten Bezug nehmen. Schulze hat ermittelt, daß sich Einzelangaben zu Musik-, Femseh- und Lektüreinteressen drei alltags­

ästhetischen M ustern zuordnen lassen, dem „Hochkultur“-, dem „Trivialkul­

tur“- und dem „Spannungsschema“. Das Hochkulturschema enthält die all­

tagsästhetischen Handlungsformen der bürgerlichen Kulturtradition, im Kern die „schönen Künste“ und sonstige als „anspruchsvoll“ oder „kulturell wertvoll“ definierte ästhetische Angebote. Das Trivialschema schließt solche Alternativen ein, deren übergreifendes inhaltliches Element eine heile, har­

m onische W elt ist und für deren Verwirklichung keine besonderen ästheti­

schen Kompetenzen erforderlich sind (umgangssprachlich: Kitsch). Im Spannungsschema werden solche ästhetischen Vorlieben gebündelt, die in besonderem Maße durch Bewegung, Abwechslung, Spannung und starke Sinneseindrücke gekennzeichnet sind.

In der hier vorgelegten empirischen Analyse werden nicht nur Ost- und W estdeut­

sche im Hinblick auf ihre Lebensweise miteinander verglichen, sondern auch verschiedene Bevölkerungsgruppen in den beiden Landesteilen. Auf diese Weise wird überprüft, ob Differenzen in Verhaltens- und Denkweisen zwischen Ost- und W estdeutschen auf eine unterschiedliche sozialstrukturelle Zusammensetzung der Bevölkerung zurückzuführen sind. Es werden zentrale sozio-demographische Merk­

male betrachtet: die berufliche Stellung, Bildung, Alter bzw. Stellung im Lebenslauf und Geschlecht. Stimmen die Interessen und Verhaltensweisen beispielsweise von

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Frauen, Jüngeren oder Bessergebildeten aus Ost und W est überein oder differieren sie? Unterschiede in den jeweiligen Gruppen können als Hinweise für den prägenden Einfluß unterschiedlicher Lebensbedingungen im bürokratischen Sozialismus bzw.

im fortgeschrittenen Kapitalismus interpretiert werden. Es wird überprüft, welches Gewicht Ost-W estdifferenzen zukommt, und welche Bedeutung sozialstrukturelle Einflüsse haben.

Datenbasis

Die Datenbasis für die empirische Untersuchung von alltagskulturellen Verhaltens­

weisen und Orientierungen bildet der Wohlfahrtssurvey 1993, eine repräsentative Umfrage zur Wohlfahrtsentwicklung im vereinten Deutschland (vgl. Zapf, Habich 1994). W ohlfahrtssurveys wurden in der früheren Bundesrepublik seit 1978 viermal durchgeführt. Bereits 1990 konnte eine repräsentative Pilotstudie in Ostdeutschland erhoben werden. Diese Erhebungen bilden eine wesentliche Grundlage der deut­

schen Sozialberichterstattung, die zum Ziel hat, die Lebensqualität in der Bevölke­

rung zu messen und zu beobachten. Um den alltagskulturellen Aspekten und den sozialstrukturellen W andlungen stärker als bisher gerecht zu werden, enthielt die 1993 durchgeführte Umfrage einen Zusatzfragebogen zur Ermittlung von Lebens­

stilen, die damit erstmals aus dieser Perspektive und zudem für Gesamtdeutschland erhoben worden sind (zum Konzept vgl. Spellerberg 1993). Aus erhebungstechni­

schen Gründen beschränkt sich die Zusatzerhebung auf erwachsene Personen bis zu 61 Jahren, dies sind in Ostdeutschland 775 und im W esten 1551 Befragte.

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2. Alltagskultur in Deutschland

A

lltag ist ein Begriff, der auf die unspektakuläre, tägliche Routine abzielt, in aktiver Hinsicht die beständige Aneignung und W eiterentwicklung der jew ei­

ligen Lebensumwelt. Durch die praktische Auswahl und Veränderung von Genuß­

möglichkeiten, W erten und Bedeutungen entwickelt der einzelne sich als Persön­

lichkeit und auch als Träger gruppenspezifischer Lebensweisen (Herkommer 1984:

190; M aase 1984: 20 ff). Im M ittelpunkt stehen die unmittelbaren Lebenszusam­

m enhänge, die gleichzeitig immer auch kulturelle Praxis sind. Orientierungen, Freizeitverhalten und kultureller Geschmack sind zentrale Elemente des Alltagsle­

bens. Kultur bezieht sich auf den Konsum von Produkten der Unterhaltungsindu­

strie, Popmusik, Fernsehen, Kino, bis hin zur Hochkultur, den Besuch von Konzer­

ten oder Ausstellungen.

2.1 Lebensziele

Z

unächst wird der Bereich der Lebensziele untersucht. Lebensziele sind indivi­

duelle Vorstellungen, die sich darauf beziehen, wie die Menschen ihr Leben ausrichten, was sie im Leben erreichen wollen. Verschiedene Dimensionen des Alltagslebens spielen eine Rolle: Arbeit, Familie, Freunde, Urlaub, soziales Enga­

gement, Abwechslung, Kreativität, Sparsamkeit oder hoher Lebensstandard.

F ür den W esten wird in diesem Zusammenhang oft konstatiert, daß Werte und Orientierungen der Menschen einem W andel unterlagen und um sogenannte post­

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materielle W erte angereichert wurden (Herbert 1991; Meulemann 1992). M itbe­

stimmung und Teilhabe, Gleichberechtigung und Selbstentfaltung gewannen beson­

ders in den 1980er Jahren an Bedeutung, im öffentlichen wie im familialen Zusam­

menleben. Der private Alltag ist als Quelle von Lebenssinn stärker in den M ittel­

punkt gerückt. Der Freizeitbereich ist aufgewertet und Arbeit immer weniger als Pflicht begriffen worden. Meulemann führt den Werte wandel auf die Verlängerung der Bildungszeiten und die Verbreitung der Massenmedien zurück: „Sie verändern das M ischungsverhältnis zugunsten fremder Erfahrung. ... Sie vergrößern die Lebenszeit, in der man die Chance hat, sich fremde Erfahrungen anzueignen, auf Kosten der Lebenszeit, die durch eigene Aktivitäten gebunden ist, die sich in eigenen Erfahrungen widerspiegeln können.“ (Meulemann 1992: Teil 2, S. 30). Die materi­

elle Basis für die Entwicklungen in den W erten bilden das wirtschaftliche Wachstum mit allgemeiner Reichtumssteigerung und der Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Lei­

stungen.

In der ehemaligen DDR waren Massenmedien, Radios, Printmedien und Fernse­

hen (auch Westfernsehen) ebenfalls vorhanden. Beschränkungen individueller Freiheiten verhinderten gleichzeitig die Verbreitung nichttraditioneller Lebensfor­

men, der Lebenslauf war stärker reglementiert, und die Menschen unterlagen schärferen ideologischen Kontrollen. Die Gesellschaftsordnung garantierte auf der anderen Seite eine Grundversorgung der Bevölkerung und ein hohes M aß sozialer Sicherheit. Obwohl der Druck bestand, sich gesellschaftlich und in Kollektiven zu engagieren, haben individuelle Bereiche wie Familie einen hohen Stellenwert behalten. Sehr hohe Erwartungen stellten die Bürger der ehemaligen DDR an Entfaltungsmöglichkeiten im Privatbereich. Als Folge des hohen gesellschaftlichen Organisationsgrades wird eine vergleichsweise starke Autoritätsgläubigkeit und weniger Eigeninitiative der Bevölkerung konstatiert ( Gysi u.a. 1990:36; Roller u.a.

1992: 630 ff; Maaz 1990). Gensicke (1992) behauptet allerdings auch in der ehemaligen DDR einen Werte wandel zugunsten von Selbstentfaltungs werten. Auch dort sei die Bereitschaft gesunken, sich bedingungslos in die Gesellschaft einzufü­

gen und traditionelle W erte zu übernehmen. In den letzten Jahren der DDR hätten ein genußreiches und eigenständiges Leben eine höhere Bedeutung erlangt. Im Prozeß der W iedervereinigung würde auch die gleichzeitig feststellbare höhere Bedeutung von konventionellen W erthaltungen abgebaut.

Insgesamt sind im Osten konventionellere Haltungen zu erwarten und im Westen häufiger ein Streben nach hedonistischen und individuellen Dingen im Leben.

W egen der gestiegenen Freiheiten in der Lebensführung und größeren Reichtums finden sie in den alten Ländern größere Realisierungschancen.

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A uf den ersten Blick bestehen in der Rangfolge der Lebensziele Gemeinsamkei­

ten zwischen den neuen und den alten Bundesbürgern (vgl. Abb. 1). In Ost und in W est gilt eine inhaltlich befriedigende Arbeit als wichtigstes Lebensziel. Familien­

leben ist für viele erstrebenswert - mit stärkerer Ausprägung in Ostdeutschland. Die Teilhabe an beiden Bereichen kann als Ausdruck gesellschaftlicher Integration interpretiert werden. Auch Sicherheit ist in beiden Landesteilen ein wichtiges Ziel, das in den neuen Ländern noch größere Zustimmung als im Westen findet. In der Hierarchie folgen Unabhängigkeit und Freunde, Aspekte, die modernen und sozia­

len Orientierungen zugeordnet werden können. Ein geringerer Bevölkerungsanteil strebt nach Zielsetzungen, die ein vergleichsweise starkes persönliches Engagement erfordern: nach einem abwechslungsreichen Leben, politischem Engagement oder Führungspositionen.

Anhand des Kolmogorov-Smimov-Tests für zwei unabhängige Stichproben wurde geprüft, ob sich die Antwortverteilungen in Ost und W est signifikant unterscheiden (vgl. Siegel 1976). Da in den folgenden Tabellen und Abbildungen lediglich Extremwerte bzw. die zwei höchsten Ausprägungen der 4er und 5er Skalen tabellarisch ausgewiesen sind, können so auch statistisch gesicherte Aussagen über die Gesamtverteilungen der Antworten auf einzelne Fragen getroffen werden.

Die erwarteten Unterschiede zwischen Ost- und W estdeutschen zeigen sich in der Intensität der Wertschätzung einzelner Orientierungen. Sicherheitsorientierun­

gen sind in den neuen Ländern von signifikant höherer Bedeutung als im Westen:

Eine sinnvolle und befriedigende Arbeit (Anteile sehr wichtig: 44% im Westen im Vergleich zu 53% in Ostdeutschland), Eine Familie, Kinder haben (47% im Vergleich zu 59%), Nach Sicherheit und Geborgenheit streben (26% im Vergleich zu 36%) und vor allem Sparsam sein (10% im Vergleich zu 22%). Für die Befragten aus dem W esten sind postmaterielle Aspekte im Vergleich zur ostdeutschen Popu­

lation erstrebenswerter: Phantasievoll, schöpferisch sein, Viel Zeit fü r persönliche Dinge haben, Sich politisch, gesellschaftlich einsetzen oder Führungspositionen übernehmen. Lebenserfahrungen aus der ehemaligen DDR, nach denen Führungs­

positionen nicht unbedingt erstrebenswert waren, erklären einen Teil ihrer derzeiti­

gen Bedeutungslosigkeit. Das Einbringen eigener Vorstellungen und individuelle Akzentuierungen sind hingegen für Westdeutsche deutlich wichtiger. Der Wunsch nach Selbstverwirklichung und individueller Sinnstiftung kommen hier zum Aus­

druck. Insgesamt legen die neuen Bundesbürger im Vergleich zu Bürgern der alten Bundesrepublik eine traditionellere Haltung an den Tag, die stärker auf gesellschaft­

liche Einbindung orientiert ist. W egen der schlechteren Lebensbedingungen und verbreiteter Unsicherheit stehen zur Zeit für die ostdeutsche Bevölkerung materielle Lebensziele stärker als im W esten im Vordergrund.

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Abbildung 1: Lebensziele in Ost- und Westdeutschland

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A uf Basis einer Erhebung von 1990 kommt Opaschowski zu einem ähnlichen Resultat und folgert: „Diese gravierenden Abweichungen deuten auf einen M enta­

litätsgraben, der zu erheblichen Spannungen zwischen der west- und ostdeutschen Bevölkerung führen kann, wenn es nicht gelingt, die Lebensbedingungen zwischen den alten und neuen Bundesländern in absehbarer Zeit anzugleichen. Andernfalls wird die Realität der deutschen Einheit durch den Mentalitätsgraben zwischen ostdeutschem M aterialismus und westdeutschem Hedonismus ad absurdum ge­

führt.“ (Opaschowski 1993:49f; Hervorhebung im Original) Angesichts der auch im W esten sehr hohen Bedeutung von konventionellen Orientierungen wie Arbeit, Familie und Sicherheit ist die Bezeichnung „Mentalitätsgraben“ sicherlich überzo­

gen. Unterschiedliche Lebensziele können jedoch Hemmnisse bei der „inneren“

W iedervereinigung bilden, da sie unterschiedlichen W ertungen unterliegen und die wechselseitige Anerkennung erschweren können.

Orientierungen, wie sie Lebensziele darstellen, variieren nach Lebensphasen und sozialstrukturellen Lagen. Jüngere haben beispielsweise in der Regel häufiger Bedürfnisse nach Abwechslung als Ältere oder Bessergebildete schätzen gesell­

schaftliches Engagement höher als geringer Gebildete. Eine differenziertere sozial­

strukturelle Betrachtung gibt Aufschluß, in welchen Punkten sich verschiedene Bevölkerungsgruppen innerhalb eines Landesteils unterscheiden. Darüber hinaus werden die Orientierungen der jeweiligen Gruppen aus Ost- und W estdeutsch­

land m iteinander verglichen.

Unterschiede zeigen sich bei den ausgewählten Lebenszielen nicht nur zwischen Ost und West, sondern zugleich zwischen den Geschlechtern (vgl. Tab.l). Sicher­

heit und Familienleben spielen in Ost wie West für Frauen eine größere Rolle als für Männer. Führungspositionen hingegen sind in beiden Landesteilen für M änner bedeutender als für Frauen. Geschlechtsspezifische Zuständigkeiten und unter­

schiedliche Aufgabenbereiche - Familie versus Berufsleben - liegen diesen Angaben zugrunde.

Gleichzeitig unterscheiden sich Frauen aus Ost und W estdeutschland markant in der Familien - und Sicherheitsorientierung und dem Streben nach Zeit fü r persön­

liche Dinge. Familienleben und Sicherheit sind für ostdeutsche Frauen häufiger wichtig, und verfügbare Zeit ist im Westen von vergleichsweise großer Bedeutung.

Jede fünfte Frau im W esten hat ein ausgeprägtes Bedürfnis, sich um die persönliche Entwicklung zu kümmern. Eine wichtige Rolle für die Unterschiede spielt der größere Anteil freier Zeit bei westdeutschen Frauen, die auf die generell kürzere Arbeitszeit, eine höhere Teilzeitquote, den größeren Hausfrauenanteil und den geringeren Anteil an Familienhaushalten zurückgeht. Führungspositionen sind insgesamt nur für einen geringen Bevölkerungsanteil relevant, für ostdeutsche

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Tabelle 1: Ausgewählte Lebensziele in Ost- und Westdeutschland

Eine Familie/

Kinder haben

Nach Sicher­

heit und Geborgenheit

streben

Viel Zeit für persönliche Dinge haben

Führungs­

positionen übernehmen

West Ost West Ost West Ost West Ost

sehr wichtig in Prozent

Insgesamt 47 59 26 36 18 14 6 3

Geschlecht

Männer 46 51 22 30 15 14 8 5

Frauen 49 68 32 44 21 14 4 0

Alter

18-30 Jahre 34 52 28 32 26 21 8 3

31 -45 Jahre 58 70 27 37 14 11 5 2

46-61 Jahre 50 57 28 42 14 11 5 3

Bildung

Haupt./POS* 52 65 28 32 17 11 3 1

Mittlere Reife/FHS* 46 59 29 37 18 17 7 2

Abitur 40 56 21 32 20 10 11 9

Stellung im Beruf

Un-/Angelernte Arbeiter 58 58 35 51 23 16 1 5

Facharbeiter 49 59 25 23 13 16 2 1

Einfache Angestellte 29 83 21 37 13 21 0 3

Qualifizierte Angestellte 45 60 27 39 17 9 7 2

Beamte 55 / 21 / 15 / 10 /

Selbständige 63 67 31 25 16 5 8 11

Nichterwerbstätige 48 58 28 44 20 18 6 2

* POS: Polytechnische Oberschule; FHS: Fachhochschulreife

Lesehinweis: Von den Befragten aus dem Westen halten 47% und in Ostdeutschland 59%

Eine Familie/Kinder haben für sehr wichtig.

Fett: Signifikant nach dem Kolmogorov-Smirnov-Test für zwei unabhängige Stichproben Datenbasis: Wohlfahrtssurvey 1993 • Zusatzfragebogen Lebensstile

(Befragte bis zu 61 Jahren)

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Frauen jedoch überhaupt nicht. Dies ist ein Hinweis für die auch in der ehemaligen DD R untergeordneten beruflichen Positionen von Frauen. Neben den generellen Sorgen um den Erhalt des Arbeitsplatzes - Frauen sind von Arbeitslosigkeit häufiger als M änner betroffen - können Unsicherheiten über Anforderungen in marktwirt­

schaftlich organisierten Betrieben den Hintergrund bilden. M änner aus den neuen und alten Ländern differieren auch in ihren Orientierungen, jedoch nicht in dieser ausgeprägten Form. Am Beispiel der Frauen kann die Hypothese bestätigt werden, daß sich die in Ost und W est verschiedenen Lebensbedingungen auch in unterschied­

lichen Orientierungen manifestieren. Freizeitorientierung, die durch die Frauenbe­

wegung beeinflußte Neigung zur Selbstentfaltung und die mit steigenden und anerkannten Qualifikationen peu äp eu anvisierten Führungspositionen entsprechen eher der Realität westdeutscher als ostdeutscher Frauen.

In beiden Landesteilen streben Jüngere bis zu 30 Jahren stärker als mittlere Altersgruppen nach verfügbarer Freizeit. Selbstentfaltungswerte sind unter den jüngeren Befragten in Ostdeutschland im Vergleich zum Westen weniger ausge­

prägt. Ostdeutsche im Alter von 18 bis zu 30 Jahren weisen im Vergleich zur westdeutschen Gruppe eine höhere Familienorientierung auf. W ährend im Westen lediglich ein Drittel der jüngeren Familie für sehr wichtig hält, ist es im Osten die Hälfte. Ein Grund liegt in der schnelleren Abfolge der Lebensphasen im indivi­

duellen Lebensverlauf in der ehemaligen DDR, d.h. Eheschließungen und Erstge­

burten in jüngerem Alter als im W esten. M it steigendem Alter gehen die Ost-West- Unterschiede bei der Familienorientierung zurück. In der folgenden Tabelle 2 werden die Ausrichtungen auf die beiden zentralen Lebensbereiche Arbeit und Fam ilie dargestellt, die in den neuen Ländern deutlich höhere W ertschätzung erfahren.

Ostdeutsche M änner sind familienorientierter als westdeutsche. Dies gilt unab­

hängig vom Haushaltstyp, in dem sie leben, mit einer Abweichung: Bemerkenswert ist die hohe Familienorientierung bei westdeutschen Männern mit Kleinkindern im Haushalt. Der Anteil männlicher Befragter m it hoher Wertschätzung des Familien­

lebens nimmt jedoch in Haushaltstypen mit älteren Kindern wieder ab. Das Leben m it Kindern in W estdeutschland verstärkt offensichtlich die Familienorientierung nicht, sondern läßt sie bei einem Teil der Bevölkerung zurückgehen. Nicht nur ostdeutsche Männer, auch ostdeutsche Frauen zeigen sich familienorientierter als westdeutsche. Die Ausnahme besteht hier bei den jüngeren Alleinlebenden, von denen lediglich jede zehnte aus den neuen Ländern Familie für sehr wichtig erachtet.

Die Arbeitsorientierung dürfte in dieser Lebensphase dominieren.

W ährend in Ostdeutschland acht von zehn der Jüngeren mit Partnern stark auf die Fam ilie ausgerichtet sind, sind es im W esten lediglich vier von zehn. Hinter diesen Unterschieden steckt möglicherweise ein in Ostdeutschland angesichts des Um-

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Tabelle 2: Die Bedeutung von Arbeit und Familie nach Geschlecht und Haushaltstyp

Eine Familie, Kinder haben Sinnvolle, befriedigende Arbeit

Männer Frauen Männer Frauen

West O st West O st West O st West O st

se h r wichtig in Prozent

Insgesamt 45 51 49 66 48 58 41 50

bis 40 Jahre,

Alleinstehend 17 21 21 10 56 56 66 58

bis 40 Jahre, mit Partner,

ohne Kinder 40 / 38 78 39 / 48 2 5 1

mit Kindern bis

zu 6 Jahren 80 63 76 78 49 55 31 46

m it Kindern

6 - 1 8 Jahre 65 74 59 85 49 54 43 55

älter 41 Jahre, mit Partner,

evtl, erwachsene Kinder 48 61 55 67 45 66 30 50

älter 40 Jahre,

Alleinstehend 14 / 40 45 49 / 26 52

Lesebeispiel: Von den alleinlebenden Männern im Westen beurteilen 17% und in Ost­

deutschland 21% „Eine Familie/Kinder haben“ als „sehr wichtig“.

/: Fallzahl kleiner 30

Datenbasis: Wohlfahrtssurvey 1993 * Zusatzfragebogen Lebensstile (Befragte bis zu 61 Jahren)

bruchs mit all seinen Unsicherheiten aufgeschobener Kinderwunsch bei Paaren (Zapf, Mau 1993: 2). In W estdeutschland scheinen sich Frauen, auch wenn sie mit Partnern zusammen leben, häufiger auf ein Leben ohne Kinder einzustellen.

Die generell höhere Arbeitsorientierung in Ostdeutschland schließt Personen, die mit Kindern im Haushalt leben, ein. Insbesondere ostdeutsche Frauen mit Kindern ziehen ihre Erwerbswünsche nicht zurück: Etwa die Hälfte beurteilt eine sinnvolle Arbeit als sehr wichtig. Ökonomische Zwänge, die ein zweites Einkommen, vor allem bei Kindern im Haushalt, erfordern, aber vor allem die erfahrungsbedingte W ertschätzung von Arbeit, erklären diese Differenz. Für ostdeutsche Frauen war es nicht nur Notwendigkeit, sondern eine Selbstverständlichkeit, am Erwerbsleben teilzunehmen. Auch bei veränderten Rahmenbedingungen bei der Kinderbetreuung und auf dem Arbeitsmarkt möchten ostdeutsche Frauen am Berufsleben parti-

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zipieren und sich nicht ausschließlich auf die Familie beschränken. Das Bedürfnis, erwerbstätig zu sein, ist angesichts der Arbeitsmarktprobleme und fehlender Kinder­

betreuungseinrichtungen allerdings zunehmend seltener zu realisieren.

Im W esten teilen deutlich weniger Frauen mit Kindern die hohe Wertschätzung von Arbeit. Ein traditionelleres Rollenverständnis, nach dem sich Kindererziehung und Erwerbsarbeit ausschließen, ist in W estdeutschland verbreiteter als in Ost­

deutschland (Zapf, Habich 1994). Auch bei älteren Frauen mit Partnern oder älteren alleinlebenden Frauen steigt der Anteil, die Erwerbsarbeit als wichtig erachten, nicht an.

Ein W andel im Selbstverständnis der Frauen ist daran abzulesen, daß drei mal so viele der jüngeren wie der älteren alleinlebenden Frauen Arbeit für wichtig erachten.

Von den jüngeren Alleinlebenden halten vor allem Frauen aus dem W esten Arbeit für sehr bedeutsam, der Anteil liegt höher als bei Männern und ostdeutschen Frauen.

Alleinlebende sind auf Vollzeitarbeitsplätze zur Existenzsicherung angewiesen.

Trotz vergleichbarer schulischer Qualifikationen ist es für Frauen auf dem Arbeits­

markt schwerer als für M änner, Vollzeitstellen und gute berufliche Positionen zu erlangen (vgl. Quack 1993). Die bekannte problematische Situation kann die besondere W ertschätzung des Erwerbslebens von alleinlebenden Frauen im W esten erklären. Darüber hinaus ist es bekanntlich ein internationales Phänomen moderner Gesellschaften, nach dem jüngere Frauen einen Platz im Erwerbsleben beanspru­

chen und sich nicht mehr auf die Hausfrauenrolle begrenzen wollen (Braun, Bandilla 1992: 594 ff).

Die Hypothese, daß die ostdeutsche Bevölkerung häufiger an beiden Bereichen, B eruf und Familie, partizipieren möchte, wurde genauer geprüft, indem der Anteil von M ännern und Frauen aus beiden Landesteilen verglichen wurde, der sowohl Familienleben als auch Arbeit für sehr wichtig erachtet. Ausgewählt wurden Personen aus Haushalten m it kleineren Kindern, in denen die Familienorientierung besonders hervortritt. Bei den Frauen sind es im Westen 31 % und im Osten 51 %, bei den M ännern beträgt das Verhältnis 47% (West) im Vergleich zu 65% (Ost). In Ostdeutschland kom mt es weitaus häufiger vor, daß auch bei starker Familienorien­

tierung die Erwerbsarbeit eine zentrale Rolle für die Lebensgestaltung spielt.

Auch die schulische Ausbildung und Lebensziele stehen in einem engen Zusammenhang. Besser Gebildete legen mehr W ert auf M acht und Einfluß und weniger auf Familienleben als Befragte mit niedrigeren Schulabschlüssen. Personen m it niedrigeren Bildungsabschlüssen in Ost und W est stimmen hinsichtlich ihrer höheren Sicherheitsorientierung überein. Bemerkenswert ist, daß sich Ost- und W estdeutsche mit Abitur im Hinblick auf Führungspositionen übernehmen nicht

(18)

unterscheiden. Die Qualifikation ist in diesem Fall ausschlaggebender als historisch gewachsene Besonderheiten. Der gesellschaftlich-historische Kontext - Ost oder W est - erklärt die Unterschiede in den Orientierungen nicht allein, sie werden durch sozialstrukturelle Einflüsse überlagert. Im Hinblick auf Freizeit- oder Familienori- entierung ist der inhaltliche Zusammenhang nicht so unmittelbar wie zwischen Qualifikation und beruflicher Aspiration gegeben; Ost-W est-Differenzen wirken in den freier gestaltbaren Lebensbereichen stärker.

W ird die berufliche Stellung selbst betrachtet, fällt auf, daß die als signifikant ausgewiesenen Ost-W est-Unterschiede in den Hintergrund treten. Die Art der Erwerbstätigkeit hat offensichtlich hohen Einfluß auf Bezugspunkte, die im Leben angestrebt werden. Vergleicht man die Zustimmung zu den ausgewählten Lebens­

zielen, ergibt sich, daß Un- und Angelernte aus den neuen Ländern eine höhere Sicherheitsorientierung als die Vergleichsgruppe aus den alten Ländern aufweisen.

Neben den generellen Ost-W est-Unterschieden spielt die aktuelle Situation auf dem Arbeitsmarkt für unterschiedliche Orientierungen sicherlich eine Rolle. Die stärkere Sicherheitsorientierung von Un- und Angelernten wird durch das gegenwärtig höhere Risiko, arbeitslos zu werden, mit bedingt sein. Facharbeiter aus beiden Landesteilen unterscheiden sich signifikant im Hinblick auf den Aspekt Führungs­

positionen übernehmen, der insgesamt im Westen einen größeren Stellenwert hat.

Ein Grund für das zurückhaltende Antwortverhalten von Facharbeitern im Hinblick au f die Übernahme von Führungsrollen könnte die mangelnde Anerkennung bzw.

Entwertung der beruflichen Qualifikation in Ostdeutschland sein. Einfache Ange­

stellte aus Ost und W est unterscheiden sich sehr deutlich: Familie, Sicherheit und verfügbare Zeit sind in Ostdeutschland von signifikant höherer Bedeutung als im W esten. Dabei trägt der höhere Frauenanteil und das höhere Durchschnittsalter bei der Gruppe der einfachen Angestellten in den neuen Ländern zur ausgeprägteren Familien- und Sicherheitsorientierung bei. Bei qualifizierten Angestellten sind Ost- W est-Differenzen ebenfalls sehr deutlich zu erkennen: „traditionellere“ Haltungen sind in Ostdeutschland bedeutender, während „modernere“ Orientierungen in der alten Bundesrepublik signifikant häufiger genannt werden. Von allen betrachteten Gruppen zeigen die Selbständigen aus den neuen und alten Ländern das homogenste Antwortverhalten. Lediglich beim Ziel Viel freie Zeit fü r persönliche Dinge haben bestehen ausgeprägte Ost-W est-Unterschiede mit höherer Zustimmung der W est­

deutschen. In Anbetracht der ökonomischen Probleme und neuartiger Herausforde­

rungen ist es nicht überraschend, wenn sich Selbständige aus Ostdeutschland seltener den Betätigungschancen in der Freizeit widmen.

(19)

Zusammenfassung

Diesem Abschnitt lag die These zugrunde, daß ebenso wie die sozialstrukturelle Position, die gewachsenen kulturellen Besonderheiten und die immer noch unter­

schied! ichen objektiven Lebensbedingungen in beiden Landesteilen die Lebensziele der Bevölkerung beeinflussen. Es bestätigt sich die Hypothese, daß Ostdeutsche mehr W ert auf konventionellere Orientierungen wie Familie, Sicherheit und vor allem Sparsamkeit legen. Vor allem die Angaben zu sparsam sein sind ein Indiz für die m it dem Umbruch einhergehenden Verunsicherungen und für die insgesamt bedeutende Rolle der objektiven Lebens Verhältnisse für die Ausrichtungen des Lebens. Ein Hinweis für in jeweiligem gesellschaftlichen Kontext geprägte Orien­

tierungen ist die hohe Bedeutung von Arbeit und Familie. In Ostdeutschland ist die Teilnahme an beiden Bereichen häufiger ein Ziel als in W estdeutschland. In der westdeutschen Bevölkerung zeigt sich die mit dem W ertewandel einhergehende Bedeutungszunahme individueller Sinnstiftung und Entfaltung.

Gleichzeitig differenziert die sozialstrukturelle Position in der Gesellschaft ebenso wie die ost- bzw. westdeutsche Herkunft. In den unterschiedlichen Angaben von Frauen und M ännern wird deutlich, daß Frauen nach wie vor stärkeren W ert auf Familie legen und M änner häufiger anstreben, im öffentlichen Leben hervorzutre­

ten. Nicht nur die gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, auch die berufliche Stellung prägt die Einstellungen zu erstrebenswerten Dingen im Leben. M it steigender Position nehmen Selbstentfaltungs- und M itbestimmungs­

werte zu. Jüngere Befragte bis zu 30 Jahren und Befragte mit Abitur verfolgen erwartungsgemäß häufiger moderne Ziele als Ältere und geringer Gebildete.

Der Vergleich der verschiedenen Bevölkerungsgruppen ergab, daß sich zugrun­

deliegende Orientierungen in Ost und W est bei der sozialstrukturell differenzierten Betrachtung nicht aufheben. Frauen unterscheiden sich z.B. durch die höhere Arbeitsorientierung ostdeutscher Frauen. Westdeutsche Frauen fallen durch ihren Hang zur Selbstverwirklichung und -entfaltung auf. M änner aus beiden Landesteilen unterscheiden sich durch die höhere Familienorientierung im Osten, insgesamt jedoch nicht so stark wie Frauen aus Ost und W est. Auch die verschiedenen Altersgruppen weisen wenig Gemeinsamkeiten auf. So ist für die erwachsene Bevölkerung bis zu 40 Jahren aus Ostdeutschland Familienleben häufiger wichtig als für W estdeutsche dieser Altersgruppe, die freizeitorientierter ist. Die größten Gemeinsamkeiten ergeben sich in der kleinen Gruppe der Selbständigen.

(20)

2.2 Einschätzung der persönlichen Lebensweise

I

m Vergleich zu den ausgeführten Lebenszielen richtet sich dieser Abschnitt nicht auf erstrebenswerte Dinge im Leben, sondern auf wahrgenommene Schwerpunk­

te im individuellen Alltagsleben. In den Aussagen zur persönlichen Lebensweise bestätigen sich die oben auf gezeigten Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten zwischen Ost- und Westdeutschen.

Insgesamt herrschen in Gesamtdeutschland konventionelle Lebensweisen vor.

Etwa jeder Dritte aus beiden Landesteilen findet als Beschreibung für die persönli­

che Lebensführung die Aussage Ich führe ein Leben, das in gleichmäßigen, geord­

neten Bahnen verläuft voll und ganz zutreffend. V or allem bei den tiefgreifenden und umfassenden Veränderungen der Lebensverhältnisse in Ostdeutschland hätte dort ein geringerer Anteil erwartet werden können. Offensichtlich prägen die sozialen Umbrüche im Osten bzw. die in den Nachkriegsjahrzehnten gewachsenen Hand- lungs- und Entscheidungsmöglichkeiten im W esten subjektiv nicht in dem M aße den Alltag wie alltäglich wiederkehrende Verhaltensweisen. Familiale Lebensformen sind weitaus wichtiger als hedonistische oder freizeitorientierte Lebensweisen. Bei aller W ohlstandssteigerung, der verbreiteten persönlichen Einordnung in die „M it­

telschicht“ (60 % der Westdeutschen; vgl. Zapf, Habich 1994) oder der Charakteri­

sierung der Gesellschaft als Erlebnisgesellschaft (Schulze 1992) sind auch im W esten bescheidene Haltungen häufiger anzutreffen als die subjektive Einschät­

zung, einen gehobenen Lebensstandard zu pflegen.

In Ostdeutschland liegt nicht nur ein ausgeprägter Schwerpunkt des Lebens auf Familie vor, sondern gleichzeitig bescheidenere Lebensweisen. Das Statement Ich fü h re ein einfaches, bescheidenes Leben findet doppelt so häufig wie im W esten die größte Zustimmung. Einerseits finden hier die gegenwärtigen, geringeren finanziel­

len Ressourcen ihren Ausdruck, andererseits lag die W ohlfahrtsentwicklung in der ehemaligen DDR auf - verglichen m it Westdeutschland - niedrigerem Niveau. Die insgesamt höhere Bedeutung von Arbeit in der früheren DDR äußert sich in dem hohen Anteil Befragter, die betonen, sie gingen in ihrer Arbeit auf (Platz fünf in Ostdeutschland und Platz sieben in Westdeutschland).

Die Ausrichtung des Lebens auf individuelle Bedürfnisse ebenso wie eine unkonventionelle Lebensauffassung sind im W esten verbreiteter. Die m it wachsen­

dem W ohlstand und kulturellem W andel einhergehende, zunehmende Freizeit Orien­

tierung und wachsende Ausprägungen hedonistischer Züge werden in der im

(21)

Abbildung 2: Einschätzung der persönlichen Lebensweise

Persönliche Lebensweise ...

trifft voll und ganz zu trifft eher zu L e ben in g leich m äßigen

g e o rd n e te n Bahnen Leben ganz fü r Fam ilie

West Ost

E infach es, b e sch eid enes Leben

Verhalten besonders umweltbewußt Leben nach eigenen Bedürfnissen

Ich gehe in m ein e r A rb eit au f

Bin in Freizeit beson ders a k tiv

Arbeite

überdurchschnittlich viel Nicht kümmern um gesellschaftliche Normen L e ben in vo llen Zügen g enießen

A k tiv e r E in s atz fü r H ilfs b ed ü rftig e P fleg e geho ben en Leb en sstan d ard Leben nach religiösen P rin zipien

Fett: Signifikante Unterschiede nach dem Kolmogorov- Smirnov- Test für zwei unabhängige Stichproben

20 40

—T“

60

—1T“

80 100%

Datenbasis: Wohllahrtssurvey 1993

• Zusatzfragebogen Lebensstile

(Befragte bis zu 61 Jahren)

Vergleich zu Ostdeutschland häufigeren Zustimmung zu den Statements deutlich Ich bin in der Freizeit besonders aktiv, Ich genieße das Leben in vollen Zügen und Ich pflege einen gehobenen Lebensstandard. Die vergleichsweise starke religiöse Einbindung im W esten wird ebenfalls sichtbar. Auch wenn die Aussage Ich lebe nach religiösen Prinzipien an letzter Stelle steht, erhält es immer noch von jedem vierten der westdeutschen Befragten Zustimmung.

(22)

Tabelle 3: Einschätzungung der persönlichen Lebensweise nach Bevölke­

rungsgruppen

Ich führe ein einfa­

ches, be­

scheidenes Leben

Ich lebe ganz für meine Familie

Ich bin in der Freizeit besonders

aktiv

Ich genieße das Leben

in vollen Zügen

Ich gehe in meiner Arbeit auf

W est O st W est O st W est O st W est O st W est O st trifft voll und ganz zu

in Prozent

Insgesamt 19 36 31 41 16 12 9 7 14 19

Geschlecht

Männer 20 33 3 0 38 21 14 9 8 15 18

Frauen 19 38 31 4 4 12 9 10 7 13 20

Haushaltsform

bis 40 Jahre, Alleinstehend 15 25 3 3 28 21 17 12 12 18

bis 40 J., Partner, ohne Kind 16 17 17 24 17 6 12 14 11 13

mit Kindern bis zu 6 Jahren 18 25 45 53 8 11 6 9 15 15

mit Kindern 6 - 1 8 Jahre 20 32 42 51 12 6 5 4 18 23

älter 41 Jahre, Partner 2 4 47 4 5 5 5 14 13 7 3 14 23

älter 40 Jahre, Alleinstehend 33 49 2 4 3 9 17 15 11 2 20 18

Bildung

Haupt ./POS 27 60 42 57 15 14 6 6 15 18

Mittlere Reife/FHS 14 30 2 5 39 14 10 10 8 13 17

Abitur 12 16 17 25 2 2 12 14 7 16 28

Stellung im Beruf

Un-/Angelernte Arbeiter 38 46 56 44 20 4 10 7 13 14

Facharbeiter 16 35 32 41 18 19 4 11 10 18

Einfache Angestellte 14 4 4 28 46 7 4 4 9 6 8

Qualifizierte Angestellte 12 21 2 4 3 6 15 8 10 7 17 23

Beamte 12 / 26 / 23 / 10 / 17 /

Selbständige 15 16 31 31 14 5 6 4 33 49

Nichterwerbstätig

Arbeitslos 34 48 43 52 17 6 9 8 7 12

Sonst. Nichterwerbstätige 28 51 37 49 15 19 8 3 12 14

/: Zu geringe Fallzahl der Beamten in Ostdeutschland.

Fett: Signifikant nach dem Kolmogorov-Smirnov-Test für zwei unabhängige Stichproben Datenbasis: Wohlfahrtssurvey 1993 * Zusatzfragebogen Lebensstile

(Befragte bis zu 61 Jahren)

(23)

Im Westen unterscheiden sich M änner von Frauen durch das von Männern geäußerte aktivere Freizeitverhalten (vgl. Tab.3). In Ostdeutschland geben M änner seltener als Frauen an, f ü r die Familie und bescheiden zu leben. Frauen aus Ostdeutschland finden beide Statements vergleichsweise häufig zutreffend. Sie unterscheiden sich in der subjektiven Einschätzung von westdeutschen Frauen ferner in dem Aktivitätsgrad in der Freizeit und dem seltener angegebenen Lebens­

genuß. Besonders auffällig ist der hohe Anteil von ostdeutschen Frauen, die angeben, in ihrer Arbeit aufzugehen. W ie schon bei den Lebenszielen zeigt sich in diesen Angaben ihre stärkere Verwurzelung in der Arbeitswelt. Auch eine im Vergleich zu M ännern und westdeutschen Frauen starke Konzentration auf familiale und häusliche Lebensweisen ist zu erkennen. Arbeit und Familie ist für ostdeutsche Frauen kein unüberwindbarer Gegensatz, wie er im Westen traditionellerweise wahrgenommen wird.

Personen m it unterschiedlichen Bildungsressourcen unterscheiden sich eben­

falls in ihrer Lebensweise. Hedonistische und freizeitorientierte Lebensweisen werden erwartungsgemäß in beiden Landesteilen eher von Bessergebildeten ange­

geben und bescheidenere, fa m iliär eingebundene Lebensweisen von der Bevölke­

rung mit niedrigeren Bildungsgraden. M ehr als jeder vierte Befragte mit Abitur aus den neuen Ländern betont Selbstverwirklichungsaspekte der Arbeit, im Westen ist es lediglich jeder sechste dieser Gruppe. Die neuen Anforderungen werden offen­

sichtlich von einem vergleichsweise großen Teil der besser Qualifizierten positiv aufgenommen. Sie haben zum einen in der Arbeitswelt neue Entfaltungschancen, zum anderen sind sie am ehesten in der Lage, die mit dem Systemwechsel verbun­

denen Herausforderungen zu bewältigen. Bessergebildete aus W estdeutschland unterscheiden sich von den übrigen Bildungsgruppen hingegen durch häufige Einschätzungen, in der Freizeit besonders aktiv zu sein und das Leben in vollen Zügen zu genießen. Höherer Wohlstand, wohlfahrtsstaatliche Leistungen und die zeitlich länger ausgedehnte Jugendphase mit hoher Autonomie in der alten Bundes­

republik, im Vergleich zur „Jugend als Phase zeitlich fest definierter Übergänge ohne kulturelle Autonom ie“ (Georg 1993: 28), bilden den Hintergrund für dieses Antwortmuster.

Jüngere Alleinstehende aus Ost wie W est leben seltener bescheiden, betätigen sich in der Freizeit und demonstrieren zu einem überdurchschnittlichen Anteil hohen Lebensgenuß. Eine ausgeprägte Arbeitsmotivation ist (noch) nicht zu erkennen.

Auch jüngere Befragte mit Partnern ohne Kindergeben vergleichbare Lebensweisen an, in den neuen Ländern liegt der Anteil der in der Freizeit aktiven jedoch unter dem Durchschnitt und weit hinter der westdeutschen Vergleichsgruppe. Diese ostdeut­

sche Gruppe fällt durch ihr geringes Engagement auf. Der Anteil besonders lebens­

(24)

fro h er Personen in dieser Gruppe geht dabei nicht zurück. Leben Kinder im Haushalt, steht selbstverständlich das Familienleben im Vordergrund, und Freizeit­

aktivitäten nehmen eine geringere Rolle ein. Ältere, vor allem wenn sie allein leben und aus Ostdeutschland kommen, führen ein einfaches und bescheidenes Leben.

Selten gibt diese Gruppe an, das Leben zu genießen. Ältere aus Ostdeutschland (bis zu 61 Jahren) bewältigen offensichtlich seltener die Herausforderungen und Zum u­

tungen des Umbruchs, die sie aus gewohnten Lebensbahnen zwingen, zudem die Risiken, beispielsweise au f dem Arbeitsmarkt, für diese Personen besonders groß sind. Bemerkenswert ist ferner, daß die Arbeit den Älteren aus subjektiver Perspek­

tive häufiger Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung bietet als Jüngeren.

Die Differenzierung nach Berufsgruppen ergibt, daß, entsprechend der niedri­

geren sozialen Stellung, Un- und Angelernte aus Ost und West ihr Leben zu einem großen Teil als bescheiden und auch familienzentriert beschreiben. W ährend Un- und Angelernte aus Ostdeutschland nur sehr selten eine rege Freizeitgestaltung dokumentieren, sind umgekehrt W estdeutsche dieser Berufsgruppen überdurch­

schnittlich aktiv. W estdeutsche dieser Gruppe scheinen häufiger adäquate Betäti­

gungsfelder in der Freizeit zu finden, oder aber weitergehende Ansprüche an die Freizeitgestaltung als die ostdeutsche Vergleichsgruppe zur richten.

Bei einfachen Angestellten fällt auf, daß sie in beiden Landesteilen nur sehr selten Befriedigung in der Arbeit finden und sie gleichzeitig keinen besonderen Freizeit­

aktivitäten nachgehen. Ost-W est-Differenzen fallen bei einfachen Angestellten vor allem im Hinblick auf die Familienorientierung und das Lebensniveau ins Gewicht:

W ährend im Osten dokumentiert wird, bescheiden und fü r die Familie zu leben, verhält es sich bei den W estdeutschen eher umgekehrt. Dieses Ergebnis ist vor allem wegen des hohen Frauenanteils überraschend. W egen der geringen Arbeitsfreude und seltener aktiver Freizeitgestaltung scheinen einfache Angestellte eine Gruppe mit wenig Entfaltungsmöglichkeiten oder -wünschen zu sein. Dies trifft vor allem im Westen zu, wo zusätzlich selten die Familie das tägliche Leben prägt und auch selten Lebensgenuß dokumentiert wird.

Qualifizierte Angestellte führen im Vergleich zum jeweiligen Landesdurch­

schnitt einen höheren Lebensstandard und weisen eine hohe Arbeitsorientierung auf, die unter den Ostdeutschen noch signifikant höher ist als unter den W estdeut­

schen. W ährend in den alten Ländern nur ein Viertel der qualifizierten Angestellten ganz für die Familie lebt, sind es in den neuen Ländern mehr als ein Drittel, ein Viertel betont die Selbstverwirklichung in der Arbeit. Trotz einer im Vergleich zu den anderen Gruppen ähnlichen Lebensausrichtung bleiben diese Unterschiede bestehen. Sie belegen unterschiedliche Grundorientierungen in Ost- und W est­

deutschland.

(25)

Selbständige aus Ostdeutschland haben sich am weitesten dem westlichen Antwortm uster angeglichen und weichen damit stark von der ostdeutschen Bevöl­

kerung ab: Besonders auffällig ist, daß die Hälfte der Selbständigen voll und ganz zustimmt Ich gehe in meiner Arbeit auf, in W estdeutschland sind es im Vergleich nur ein Drittel. Die in Ostdeutschland von den Selbständigen erforderliche Selbstbe­

hauptung au f dem Arbeitsmarkt, eventuell auch ein gewisser Pioniergeist und bisher unbekannte Entfaltungsmöglichkeiten bieten sich als Erklärungen an.

Die Nichterwerbstätigen aus Ost- und Westdeutschland leben überdurchschnitt­

lich häufig f ü r die Familie und - wenig überraschend - häufig auf niedrigerem Lebensstandard. Im Osten betrifft dies knapp die Hälfte der Nichterwerbstätigen, deutlich m ehr als im Westen. Während Arbeitslose aus dem Westen ebenso häufig angeben, in der Freizeit aktiv zu sein wie die Gesamtbevölkerung, liegt der Anteil in Ostdeutschland deutlich unter dem Durchschnitt. Bei notwendigen Einsparungen steht der Freizeitbereich sicherlich mit an erster Stelle1. Darüber hinaus wird Arbeitslosigkeit von der ostdeutschen Bevölkerung immer noch stärker als Bedro­

hung empfunden. Die kritische Situation auf dem Arbeitsmarkt und die damit verbundene Perspektivlosigkeit können zu anomischem Verhalten führen können2.

Der geringe Prozentsatz an Arbeitslosen, die ihr Leben genießen, ist ein Hinweis auf die negativen Folgen des Arbeitsplatzverlustes, der in Ostdeutschland noch stärker auffällt als im W esten. Die Rentner, Hausfrauen und Auszubildenden, die in der Gruppe der „Sonstigen Nichterwerbstätigen“ zusammengefaßt wurden, schätzen ihr Freizeitverhalten häufiger als besonders aktiv ein.

Zusammenfassung

In beiden Landesteilen überwiegen familienzentrierte Lebensweisen und damit ein geregelter und unspektakulärer Alltag. Westdeutsche leben „auf größerem Fuß“, hedonistischer und zugleich öfter als Ostdeutsche nach religiösen W ertvorstellun­

gen. W ie schon bei den Lebenszielen zeigt sich auch in den Einschätzungen zur persönlichen Lebensweise bei der ostdeutschen Bevölkerung eine höhere Bedeu­

tung von Fam ilie und Erwerbsleben.

Die Lebensweisen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen unterscheiden sich entsprechend ihrer individuellen Ressourcen vor allem bei freizeitorientierten Lebensweisen, der Höhe des Lebensstandards und auch dem Lebensgenuß. Im Gegensatz zu Ostdeutschland, wo mit steigender Bildung der Anteil zunimmt, der sich mit den Arbeitsaufgaben zufrieden zeigt, ist in W estdeutschland mit steigender Bildung ein höherer Anteil von Hedonisten und Freizeitaktiven zu verzeichnen.

(26)

Bessergebildete aus den neuen Ländern konzentrieren sich stärker auf die Arbeits­

welt. Zwischen Männern und Frauen im W esten sind nur geringe Unterschiede feststellbar. In Ostdeutschland ist eine im Vergleich zu M ännern stärkere Ausrich­

tung der Frauen auf Familie, Erwerbsarbeit und zurückhaltendere Lebensweisen zu erkennen.

Die größten Gemeinsamkeiten in den aufgeführten Verhaltensweisen bestehen zwischen Ost- und Westdeutschen in den Fällen, in denen die objektiven Lebensbe­

dingungen das alltägliche Leben stark prägen, beispielsweise wenn Kinder zu betreuen sind oder der Beruf starken Einfluß ausübt, wie bei den Selbständigen.

2. 3 Freizeitaktivitäten

F

reizeit ist zu einem eigenständigen Lebensbereich geworden, der über Regene­

ration und Muße hinaus Raum für die persönliche Entfaltung läßt. Unter Freizeit wird hier die Zeit während eines Tages verstanden, die zur freien Verfügung steht, und die man - in den jeweiligen Grenzen - beliebig gestalten kann. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die extensive und intensive Verausgabung während der Ar­

beitszeit die Freizeitgestaltung in nicht unerheblichem M aße beeinflußt (vgl. M aase 1984; Gluchowski 1988). Die Grenzen zwischen Haus- und Erwerbsarbeit sind darüber hinaus fließend, bspw. wenn man mit Kindern spielt, Reparaturen durch­

führt oder sich weiterbildet, weil es der Karriere dient. Freizeit dient dazu, kulturelle, zwischenmenschliche, gesellschaftliche und familiäre Interessen zu verwirklichen.

Erwartungsgemäß finden häusliche, familiäre und entspannende Verhaltenswei­

sen in ganz Deutschland höheren Anklang als außerhäusliche, kostspielige oder Eigeninitiative erfordernde Tätigkeiten (vgl. Abbildung 3). Den führenden Platz

(27)

nehmen Beschäftigungen mit der Familie ein, die soziale und partnerschaftliche Bedürfnisse befriedigen. Auch geselliges Zusammensein mit Freunden oder Ver­

wandten spielt eine wichtige Rolle - hinter den eher passiven oder erholungsdienenden Beschäftigungen M usik hören undfernsehen. Geistig-kulturelle Betätigungen, die individuelle Kompetenz, Finanzkraft und M uße sowie eine entsprechende Infra­

struktur benötigen, bilden das Schlußlicht. In anderen Umfragen werden diese Ergebnisse bestätigt. Die beliebtesten Beschäftigungen waren 1993 M usik hören, Fernsehen, Zeitung lesen, Essen gehen und feiern. Kultur und Sport liegen weit abgeschlagen auf Platz 17 bzw. Platz 12 der Rangliste (Globus-Kartendienst 48. Jg., 25.10.1993). „Entspannung, freies Spiel, Muße, Hobbies, künstlerische und kultu­

relle Aktivitäten, geselliger Verkehr, Erfüllung sozialer und politischer Funktionen jenseits des Produktionsprozesses werden zu Aneignungsmöglichkeiten des lohnab­

hängigen Individuums, die sich alle um die Familie als Mittelpunkt des Lebens zentrieren“ (Herkommer u.a. 1984: 174 f). Insgesamt haben die außerhäuslichen Aktivitäten nur geringe Bedeutung.

Die Zeitverwendung während eines normalen Arbeitstages in der ehemaligen DDR und der früheren Bundesrepublik unterschied sich erheblich. In der DDR wurde länger gearbeitet und auf Besorgungen und Hausarbeit entfielen größere Zeitanteile. In W estdeutschland war im Vergleich zur DDR ein größerer Aufwand für Kinderbetreuung erforderlich, und W eiterbildung nahm einen größeren Raum ein. In Ostdeutschland lag der zeitliche Umfang für Reparaturen, Gartenarbeit und Freizeitbeschäftigungen oder Hobbies höher als im Westen. (Priller 1992: 167).

Aufgrund der im m er noch längeren Arbeitszeit, der geringeren finanziellen M ög­

lichkeiten und der Schließung kultureller Infrastruktureinrichtungen in Ostdeutsch­

land3 ist davon auszugehen, daß bei den Freizeitaktivitäten häusliche Beschäftigun­

gen häufiger als im W esten ausgeübt werden. Kostspielige Aktivitäten wie der Besuch von Restaurants, Konzerten oder Theatervorstellungen werden nur von einem vergleichsweise geringen Bevölkerungsanteil wahrgenommen.

Gleichermaßen beliebt in Ost wie W est sind fam iliäre Beschäftigungen (die teilweise auch Pflichten darstellen), M usik hören, Ausflüge machen und - seltener - Beschäftigungen mit dem Computer. In allen übrigen erfragten Punkten der Freizeit­

gestaltung unterscheiden sich W est- und Ostdeutsche.

Fernsehen, Videos schauen ist in Ostdeutschland die am häufigsten genannte Freizeitaktivität, in Ostdeutschland sehen 59% und im Westen 48% oft fern (bzw.

Videos). Die Hypothese, daß häusliche Beschäftigungen im Ostdeutschland häufi­

ger ausgeübt werden, kann bestätigt werden. Auch Gartenarbeit ist beliebter, wobei der Anteil von W ohnungen mit Garten im W esten 59% und im Ostdeutschland 46%

(28)

Abbildung 3: Freizeitakiivitäten in Ost- und Westdeutschland

Übe Freizeitaktivität... aus

Mil Familie beschäftigen Musik hören

Fernsehen, Video

Freunde, Verwandte treffen

Spazierengehen, wadem

Mit Kindern beschäftigen

Bücher lesen

Essen gehen

Basteln, handarbeiten

Im Garten arbeiten

Nichts tun, faulenzen

Sport treiben

Sportveranstaltungen besuchen

In die Kneipe gehen

Theater, Konzerte besuchen

Weiterbilden, Kurse besuchen

Mit Computer beschäftigen

Künstlerische Aktivitäten

oft manchmal

T I i

Fett: Signifikante Unterschiede 20

nach dem Kolmogorov- Smirnov- Test für zwei unabhängige Stichproben

40 60 80 100%

Datenbasis: Wohlfahrtssurvey 1993

• Zusatzfragebogen Lebensstile

(Befragte bis zu 61 Jahren)

Referenzen

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