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Einschätzung der persönlichen

2. Alltagskultur in D eutschland

2.2 Einschätzung der persönlichen

I

m Vergleich zu den ausgeführten Lebenszielen richtet sich dieser Abschnitt nicht auf erstrebenswerte Dinge im Leben, sondern auf wahrgenommene Schwerpunk­

te im individuellen Alltagsleben. In den Aussagen zur persönlichen Lebensweise bestätigen sich die oben auf gezeigten Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten zwischen Ost- und Westdeutschen.

Insgesamt herrschen in Gesamtdeutschland konventionelle Lebensweisen vor.

Etwa jeder Dritte aus beiden Landesteilen findet als Beschreibung für die persönli­

che Lebensführung die Aussage Ich führe ein Leben, das in gleichmäßigen, geord­

neten Bahnen verläuft voll und ganz zutreffend. V or allem bei den tiefgreifenden und umfassenden Veränderungen der Lebensverhältnisse in Ostdeutschland hätte dort ein geringerer Anteil erwartet werden können. Offensichtlich prägen die sozialen Umbrüche im Osten bzw. die in den Nachkriegsjahrzehnten gewachsenen Hand- lungs- und Entscheidungsmöglichkeiten im W esten subjektiv nicht in dem M aße den Alltag wie alltäglich wiederkehrende Verhaltensweisen. Familiale Lebensformen sind weitaus wichtiger als hedonistische oder freizeitorientierte Lebensweisen. Bei aller W ohlstandssteigerung, der verbreiteten persönlichen Einordnung in die „M it­

telschicht“ (60 % der Westdeutschen; vgl. Zapf, Habich 1994) oder der Charakteri­

sierung der Gesellschaft als Erlebnisgesellschaft (Schulze 1992) sind auch im W esten bescheidene Haltungen häufiger anzutreffen als die subjektive Einschät­

zung, einen gehobenen Lebensstandard zu pflegen.

In Ostdeutschland liegt nicht nur ein ausgeprägter Schwerpunkt des Lebens auf Familie vor, sondern gleichzeitig bescheidenere Lebensweisen. Das Statement Ich fü h re ein einfaches, bescheidenes Leben findet doppelt so häufig wie im W esten die größte Zustimmung. Einerseits finden hier die gegenwärtigen, geringeren finanziel­

len Ressourcen ihren Ausdruck, andererseits lag die W ohlfahrtsentwicklung in der ehemaligen DDR auf - verglichen m it Westdeutschland - niedrigerem Niveau. Die insgesamt höhere Bedeutung von Arbeit in der früheren DDR äußert sich in dem hohen Anteil Befragter, die betonen, sie gingen in ihrer Arbeit auf (Platz fünf in Ostdeutschland und Platz sieben in Westdeutschland).

Die Ausrichtung des Lebens auf individuelle Bedürfnisse ebenso wie eine unkonventionelle Lebensauffassung sind im W esten verbreiteter. Die m it wachsen­

dem W ohlstand und kulturellem W andel einhergehende, zunehmende Freizeit Orien­

tierung und wachsende Ausprägungen hedonistischer Züge werden in der im

Abbildung 2: Einschätzung der persönlichen Lebensweise Leben nach religiösen P rin zipien

Vergleich zu Ostdeutschland häufigeren Zustimmung zu den Statements deutlich Ich bin in der Freizeit besonders aktiv, Ich genieße das Leben in vollen Zügen und Ich pflege einen gehobenen Lebensstandard. Die vergleichsweise starke religiöse Einbindung im W esten wird ebenfalls sichtbar. Auch wenn die Aussage Ich lebe nach religiösen Prinzipien an letzter Stelle steht, erhält es immer noch von jedem vierten der westdeutschen Befragten Zustimmung.

Tabelle 3: Einschätzungung der persönlichen Lebensweise nach Bevölke­

Sonst. Nichterwerbstätige 28 51 37 49 15 19 8 3 12 14

/: Zu geringe Fallzahl der Beamten in Ostdeutschland.

Fett: Signifikant nach dem Kolmogorov-Smirnov-Test für zwei unabhängige Stichproben Datenbasis: Wohlfahrtssurvey 1993 * Zusatzfragebogen Lebensstile

(Befragte bis zu 61 Jahren)

Im Westen unterscheiden sich M änner von Frauen durch das von Männern geäußerte aktivere Freizeitverhalten (vgl. Tab.3). In Ostdeutschland geben M änner seltener als Frauen an, f ü r die Familie und bescheiden zu leben. Frauen aus Ostdeutschland finden beide Statements vergleichsweise häufig zutreffend. Sie unterscheiden sich in der subjektiven Einschätzung von westdeutschen Frauen ferner in dem Aktivitätsgrad in der Freizeit und dem seltener angegebenen Lebens­

genuß. Besonders auffällig ist der hohe Anteil von ostdeutschen Frauen, die angeben, in ihrer Arbeit aufzugehen. W ie schon bei den Lebenszielen zeigt sich in diesen Angaben ihre stärkere Verwurzelung in der Arbeitswelt. Auch eine im Vergleich zu M ännern und westdeutschen Frauen starke Konzentration auf familiale und häusliche Lebensweisen ist zu erkennen. Arbeit und Familie ist für ostdeutsche Frauen kein unüberwindbarer Gegensatz, wie er im Westen traditionellerweise wahrgenommen wird.

Personen m it unterschiedlichen Bildungsressourcen unterscheiden sich eben­

falls in ihrer Lebensweise. Hedonistische und freizeitorientierte Lebensweisen werden erwartungsgemäß in beiden Landesteilen eher von Bessergebildeten ange­

geben und bescheidenere, fa m iliär eingebundene Lebensweisen von der Bevölke­

rung mit niedrigeren Bildungsgraden. M ehr als jeder vierte Befragte mit Abitur aus den neuen Ländern betont Selbstverwirklichungsaspekte der Arbeit, im Westen ist es lediglich jeder sechste dieser Gruppe. Die neuen Anforderungen werden offen­

sichtlich von einem vergleichsweise großen Teil der besser Qualifizierten positiv aufgenommen. Sie haben zum einen in der Arbeitswelt neue Entfaltungschancen, zum anderen sind sie am ehesten in der Lage, die mit dem Systemwechsel verbun­

denen Herausforderungen zu bewältigen. Bessergebildete aus W estdeutschland unterscheiden sich von den übrigen Bildungsgruppen hingegen durch häufige Einschätzungen, in der Freizeit besonders aktiv zu sein und das Leben in vollen Zügen zu genießen. Höherer Wohlstand, wohlfahrtsstaatliche Leistungen und die zeitlich länger ausgedehnte Jugendphase mit hoher Autonomie in der alten Bundes­

republik, im Vergleich zur „Jugend als Phase zeitlich fest definierter Übergänge ohne kulturelle Autonom ie“ (Georg 1993: 28), bilden den Hintergrund für dieses Antwortmuster.

Jüngere Alleinstehende aus Ost wie W est leben seltener bescheiden, betätigen sich in der Freizeit und demonstrieren zu einem überdurchschnittlichen Anteil hohen Lebensgenuß. Eine ausgeprägte Arbeitsmotivation ist (noch) nicht zu erkennen.

Auch jüngere Befragte mit Partnern ohne Kindergeben vergleichbare Lebensweisen an, in den neuen Ländern liegt der Anteil der in der Freizeit aktiven jedoch unter dem Durchschnitt und weit hinter der westdeutschen Vergleichsgruppe. Diese ostdeut­

sche Gruppe fällt durch ihr geringes Engagement auf. Der Anteil besonders lebens­

fro h er Personen in dieser Gruppe geht dabei nicht zurück. Leben Kinder im Haushalt, steht selbstverständlich das Familienleben im Vordergrund, und Freizeit­

aktivitäten nehmen eine geringere Rolle ein. Ältere, vor allem wenn sie allein leben und aus Ostdeutschland kommen, führen ein einfaches und bescheidenes Leben.

Selten gibt diese Gruppe an, das Leben zu genießen. Ältere aus Ostdeutschland (bis zu 61 Jahren) bewältigen offensichtlich seltener die Herausforderungen und Zum u­

tungen des Umbruchs, die sie aus gewohnten Lebensbahnen zwingen, zudem die Risiken, beispielsweise au f dem Arbeitsmarkt, für diese Personen besonders groß sind. Bemerkenswert ist ferner, daß die Arbeit den Älteren aus subjektiver Perspek­

tive häufiger Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung bietet als Jüngeren.

Die Differenzierung nach Berufsgruppen ergibt, daß, entsprechend der niedri­

geren sozialen Stellung, Un- und Angelernte aus Ost und West ihr Leben zu einem großen Teil als bescheiden und auch familienzentriert beschreiben. W ährend Un- und Angelernte aus Ostdeutschland nur sehr selten eine rege Freizeitgestaltung dokumentieren, sind umgekehrt W estdeutsche dieser Berufsgruppen überdurch­

schnittlich aktiv. W estdeutsche dieser Gruppe scheinen häufiger adäquate Betäti­

gungsfelder in der Freizeit zu finden, oder aber weitergehende Ansprüche an die Freizeitgestaltung als die ostdeutsche Vergleichsgruppe zur richten.

Bei einfachen Angestellten fällt auf, daß sie in beiden Landesteilen nur sehr selten Befriedigung in der Arbeit finden und sie gleichzeitig keinen besonderen Freizeit­

aktivitäten nachgehen. Ost-W est-Differenzen fallen bei einfachen Angestellten vor allem im Hinblick auf die Familienorientierung und das Lebensniveau ins Gewicht:

W ährend im Osten dokumentiert wird, bescheiden und fü r die Familie zu leben, verhält es sich bei den W estdeutschen eher umgekehrt. Dieses Ergebnis ist vor allem wegen des hohen Frauenanteils überraschend. W egen der geringen Arbeitsfreude und seltener aktiver Freizeitgestaltung scheinen einfache Angestellte eine Gruppe mit wenig Entfaltungsmöglichkeiten oder -wünschen zu sein. Dies trifft vor allem im Westen zu, wo zusätzlich selten die Familie das tägliche Leben prägt und auch selten Lebensgenuß dokumentiert wird.

Qualifizierte Angestellte führen im Vergleich zum jeweiligen Landesdurch­

schnitt einen höheren Lebensstandard und weisen eine hohe Arbeitsorientierung auf, die unter den Ostdeutschen noch signifikant höher ist als unter den W estdeut­

schen. W ährend in den alten Ländern nur ein Viertel der qualifizierten Angestellten ganz für die Familie lebt, sind es in den neuen Ländern mehr als ein Drittel, ein Viertel betont die Selbstverwirklichung in der Arbeit. Trotz einer im Vergleich zu den anderen Gruppen ähnlichen Lebensausrichtung bleiben diese Unterschiede bestehen. Sie belegen unterschiedliche Grundorientierungen in Ost- und W est­

deutschland.

Selbständige aus Ostdeutschland haben sich am weitesten dem westlichen Antwortm uster angeglichen und weichen damit stark von der ostdeutschen Bevöl­

kerung ab: Besonders auffällig ist, daß die Hälfte der Selbständigen voll und ganz zustimmt Ich gehe in meiner Arbeit auf, in W estdeutschland sind es im Vergleich nur ein Drittel. Die in Ostdeutschland von den Selbständigen erforderliche Selbstbe­

hauptung au f dem Arbeitsmarkt, eventuell auch ein gewisser Pioniergeist und bisher unbekannte Entfaltungsmöglichkeiten bieten sich als Erklärungen an.

Die Nichterwerbstätigen aus Ost- und Westdeutschland leben überdurchschnitt­

lich häufig f ü r die Familie und - wenig überraschend - häufig auf niedrigerem Lebensstandard. Im Osten betrifft dies knapp die Hälfte der Nichterwerbstätigen, deutlich m ehr als im Westen. Während Arbeitslose aus dem Westen ebenso häufig angeben, in der Freizeit aktiv zu sein wie die Gesamtbevölkerung, liegt der Anteil in Ostdeutschland deutlich unter dem Durchschnitt. Bei notwendigen Einsparungen steht der Freizeitbereich sicherlich mit an erster Stelle1. Darüber hinaus wird Arbeitslosigkeit von der ostdeutschen Bevölkerung immer noch stärker als Bedro­

hung empfunden. Die kritische Situation auf dem Arbeitsmarkt und die damit verbundene Perspektivlosigkeit können zu anomischem Verhalten führen können2.

Der geringe Prozentsatz an Arbeitslosen, die ihr Leben genießen, ist ein Hinweis auf die negativen Folgen des Arbeitsplatzverlustes, der in Ostdeutschland noch stärker auffällt als im W esten. Die Rentner, Hausfrauen und Auszubildenden, die in der Gruppe der „Sonstigen Nichterwerbstätigen“ zusammengefaßt wurden, schätzen ihr Freizeitverhalten häufiger als besonders aktiv ein.

Zusammenfassung

In beiden Landesteilen überwiegen familienzentrierte Lebensweisen und damit ein geregelter und unspektakulärer Alltag. Westdeutsche leben „auf größerem Fuß“, hedonistischer und zugleich öfter als Ostdeutsche nach religiösen W ertvorstellun­

gen. W ie schon bei den Lebenszielen zeigt sich auch in den Einschätzungen zur persönlichen Lebensweise bei der ostdeutschen Bevölkerung eine höhere Bedeu­

tung von Fam ilie und Erwerbsleben.

Die Lebensweisen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen unterscheiden sich entsprechend ihrer individuellen Ressourcen vor allem bei freizeitorientierten Lebensweisen, der Höhe des Lebensstandards und auch dem Lebensgenuß. Im Gegensatz zu Ostdeutschland, wo mit steigender Bildung der Anteil zunimmt, der sich mit den Arbeitsaufgaben zufrieden zeigt, ist in W estdeutschland mit steigender Bildung ein höherer Anteil von Hedonisten und Freizeitaktiven zu verzeichnen.

Bessergebildete aus den neuen Ländern konzentrieren sich stärker auf die Arbeits­

welt. Zwischen Männern und Frauen im W esten sind nur geringe Unterschiede feststellbar. In Ostdeutschland ist eine im Vergleich zu M ännern stärkere Ausrich­

tung der Frauen auf Familie, Erwerbsarbeit und zurückhaltendere Lebensweisen zu erkennen.

Die größten Gemeinsamkeiten in den aufgeführten Verhaltensweisen bestehen zwischen Ost- und Westdeutschen in den Fällen, in denen die objektiven Lebensbe­

dingungen das alltägliche Leben stark prägen, beispielsweise wenn Kinder zu betreuen sind oder der Beruf starken Einfluß ausübt, wie bei den Selbständigen.