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eutsch-deutsche Unterschiede und Gemeinsamkeiten werden drei Jahre nach der W iedervereinigung in der öffentlichen Diskussion ebenso wie in der sozialwissenschaftlichen Forschung kontinuierlich thematisiert. Im Vordergrund stehen dabei die objektiven Lebensbedingungen, politische Prozesse und das soziale Klim a. Fragen der kulturellen Alltagsgestaltung, des Geschmacks, der Interessen und der Freizeitaktivitäten in W est- und Ostdeutschland bleiben bislang weitgehend ausgespart. Dies liegt zum einen darin begründet, daß Daten über diese Aspekte seltener erhoben werden und zum anderen, daß sie im Vergleich zu materiellen und politischen Themenbereichen weniger problematisch erscheinen.

Ost- und W estdeutsche haben eine gemeinsame kulturelle Tradition. Dennoch haben die fast ein halbes Jahrhundert andauernden materiellen, institutioneilen und ideologischen Unterschiede Spuren im Alltagsleben hinterlassen. Die Untersu­

chung, ob und in welchem Ausmaß Unterschiede in individuellen Orientierungen und ausgewählten kulturellen Aspekten des Alltagslebens zwischen Ost- und W estdeutschen bestehen, ist die Zielsetzung dieses Beitrags. Es soll empirisch überprüft werden, ob eine kulturelle Trennungslinie zwischen Ost- und W estdeut­

schen (immer noch) sichtbar ist oder ob (bereits) Gemeinsamkeiten überwiegen.

Fragen der Alltagskultur werden dabei als Bestandteil einer sozialstrukturellen Analyse betrachtet. Bourdieu hat in „Die feinen Unterschiede“ (1987) nachhaltig auf die Bedeutung kultureller Praktiken auf die Reproduktion sozialer Ungleichheiten aufmerksam gemacht. Seiner Argumentation folgend, kommen in ästhetischen Ausdrucksformen soziale Lagen, W erte und Einstellungen und damit Nähen und Distanzen verschiedener Bevölkerungsgruppen zueinander zum Ausdruck. Indem kulturelle Praktiken gesellschaftliche Ungleichheiten auf der symbolischen Ebene legitimieren, dienen sie darüber hinaus zur Absicherung sozialer Herrschaft. Der B egriff „Distinktion“ umfaßt die doppelte Bedeutung kulturellen Geschmacks: zum einen Unterscheidung und zum anderen Rangabzeichen. Wenn Geschmacksfragen und Interessen nicht nur über Gruppenbildungen, sondern auch über soziale Aner­

kennung mitentscheiden, sind solche Informationen wichtig, um über

sozialsstruk-turelle Differenzierungen und Ost-West-Ungleichheiten auf symbolischer Ebene Auskunft zu geben.

In W estdeutschland haben die allgemeinen W ohlstandssteigerungen in den letzten Jahrzehnten - bei gleichen oder wachsenden vertikalen Ungleichheiten - die W ahrnehmung der eigenen Lage und sozialstrukturelle Ungleichheiten diffuser erscheinen lassen. Aus subjektiver Perspektive erscheinen die Alltagsorganisation, kultureller Geschmack und Gesellungsverhalten großteils selbstgewählt. Es ist auch in der sozialwissenschaftlichen Diskussion umstritten, ob soziale Zuordnungen weiterhin von Faktoren wie Beruf, Bildung oder Einkommen bestimmt werden oder ob Gruppenbildungen rein nach Lebensstilgesichtspunkten vorgenommen werden.

A uf empirischem W eg wird in diesem Beitrag geprüft, ob in W estdeutschland eine Loslösung von kulturellen Praktiken und sozialer Lage oder ob ein Zusammenhang beobachtbar ist.

In der ehemaligen DDR lag der Lebensstandard auf niedrigerem Niveau. Die offizielle Politik verfolgte das Ziel einer Angleichung der Lebensverhältnisse aller Bevölkerungsgruppen, die sich darin äußerte, daß die Gesellschaft wesentlich hom ogener als die westdeutsche war, nicht nur in der vertikalen Schichtung, auch in den Lebens- und Wohnformen, der Haushaltsausstattung usw. Die DDR-Gesell- schaft wurde von Reissig (1993: 64) treffend als „geschlossene Industriegesell­

schaft“ charakterisiert. Die relative Abgeschlossenheit bezieht sich nicht nur auf die interne Differenzierung, sondern auch auf internationale Kontakte. Seit 1989 bieten neue Freiheiten (Medienzugang, Reisefreiheiten, Expansion des W arenangebots) M öglichkeiten der Selbstentfaltung und Individualisierung, die vorher nicht gege­

ben waren. Gleichzeitig gehen die Umstrukturierungsprozesse mit weit verbreiteter Arbeitslosigkeit, Kostensteigerungen bei der Grundversorgung, Entwertung von Kompetenzen, Statusverlust und der Aufgabe lang gepflegter Gewohnheiten einher.

Die von W estdeutschland vorgegebenen Strukturen, Institutionen und Regeln erfor­

dern enorme Anpassungsleistungen. Angesichts einerbisher gegenüber dem Westen nivellierten vertikalen Gliederung und aktueller Umbrüche ist fraglich, ob in Ostdeutschland ein Zusammenhang zwischen der gegenwärtigen sozialstrukturel­

len Position und alltagskulturellem Verhalten existiert.

Es handelt sich in diesem Beitrag um eine Vorstudie zur Ermittlung von Lebensstilen in Ost- und W estdeutschland. Im Mittelpunkt von Lebensstilkonzepten stehen sichtbare Verhaltensweisen, nach denen sich Menschen erkennen, zusam­

menfinden und voneinander abgrenzen. In Anlehnung an das Modell von H.P.

M üller (1992) umfassen Lebensstile einen expressiven, interaktiven und evaluativen Kern. Bewußte oder unbewußte Stilisierung, kultureller Geschmack,

Freizeitverhal-ten und Orientierungen sind entsprechende Dimensionen ihrer Operationalisierung.

Zunächst werden an dieser Stelle die Verteilungen der Einzelmerkmale im Ost- W est-Vergleich und aus sozialstruktureller Perspektive vorgestellt. Die Präsentati­

on der komplexen Lebensstile wird später erfolgen. Die hier vorgestellten Analysen dienen auch dazu zu überprüfen, ob eine gesamtdeutsche Lebensstiltypologie vorteilhaft ist, oder aber in Ost und W est getrennte Typenbildungen sinnvoller sind.

Aus diesem Grund werden in der Ergebnisdarstellung auch die Unterschiede stärker als die deutsch-deutschen-Gemeinsamkeiten betont. Aus dem Set von Fragen wird die Alltagskultur von Ost- und Westdeutschen ausgewählt anhand von Lebenszie­

len, Einschätzungen der persönlichen Lebensausrichtung, Freizeitaktivitäten und kulturellem Geschmack untersucht.

Lebensziele

Lebensziele geben Auskunft über persönliche Bezugspunkte in der Lebens­

führung und die individuelle Bedeutung einzelner Lebensbereiche. Ebenso wie Orientierungen, Einstellungen und W erthaltungen gehören Lebensziele zur „evaluativen“ Dimension der Alltagsorganisation (M üller 1992: 378); sie differenzieren verschiedene Strategien in der Lebensführung. Sie wurden durch Vorgaben wie „Nach Sicherheit und Geborgenheit streben“, „Eine na­

turverbundene Lebensweise“ oder „Eine Familie, Kinder haben“ operationa- lisiert.

Einschätzung der persönlichen Lebensweise

Die Wahrnehmung und das Erleben des individuellen Alltags sind Gegen­

stand dieses Abschnitts. Die subjektive Bedeutung verschiedener Lebensbe­

reiche und die Realisierung möglicher Lebensziele werden ermittelt. State­

ments lauten beispielsweise „Ich bin in der Freizeit besonders aktiv“, „Ich lebe ganz für meine Fam ilie“ oder „Ich pflege einen gehobenen Lebensstan­

dard“.

Freizeitaktivitäten

Aus den Feldern m öglicher expressiver Stilisierung - Kleidung, W ohnen und Freizeitverhalten - ist die Freizeitgestaltung von besonderer Bedeutung.

Freizeitaktivitäten erfassen Verhaltensweisen in einem relativ frei gestaltba­

ren und zunehmend bedeutender werdenden Lebensbereich. Gestiegene Handlungs- und W ahlmöglichkeiten finden im Freizeitverhalten einen sicht­

baren Ausdruck. Bei aller Freiwilligkeit kommen in der Auswahl der ausgeübten Tätigkeiten materielle und kulturelle Ressourcen zum Tragen.

Aus dem Freizeitverhalten ergeben sich wichtige Hinweise auf den sozialen Verkehrskreis.

Kultureller Geschmack

Alltagsästhetik gibt über das „kulturelle Kapital“ (Bourdieu 1983) und in­

haltliche Ausrichtungen der Freizeitgestaltung differenziert Auskunft. „Der Geschmack ist die Grundlage alles dessen, was man hat - Personen und Sa­

chen -, wie dessen, was man für die anderen ist, dessen, womit man sich selbst einordnet und von den anderen eingeordnet wird.“ (Bourdieu 1987:

104). Interesse an Fernsehsendungen, Lektüregewohnheiten sowie M usikge­

schmack werden vorgestellt. Die verwendeten Indikatoren alltagsästheti­

scher Vorlieben bieten für diese Fragestellung den entscheidenden Vorteil, wegen der Verbreitung audiovisueller Medien, für fast alle Bevölkerungs­

gruppen gleichermaßen zugänglich zu sein: Fernsehprogramme, Musikrich­

tungen oder Lesestoffe unterscheiden sich in ihren Inhalten, aber kaum noch im Preis.

Die Fragen beruhen auf einem von G. Schulze (1988) entwickelten alltags­

kulturellen Schema, das für diese Umfrage modifiziert wurde. Geschmacks­

indikatoren eignen sich in besonderer Weise, weil sie direkt auf die symboli­

sche Ebene von Zugehörigkeiten Bezug nehmen. Schulze hat ermittelt, daß sich Einzelangaben zu Musik-, Femseh- und Lektüreinteressen drei alltags­

ästhetischen M ustern zuordnen lassen, dem „Hochkultur“-, dem „Trivialkul­

tur“- und dem „Spannungsschema“. Das Hochkulturschema enthält die all­

tagsästhetischen Handlungsformen der bürgerlichen Kulturtradition, im Kern die „schönen Künste“ und sonstige als „anspruchsvoll“ oder „kulturell wertvoll“ definierte ästhetische Angebote. Das Trivialschema schließt solche Alternativen ein, deren übergreifendes inhaltliches Element eine heile, har­

m onische W elt ist und für deren Verwirklichung keine besonderen ästheti­

schen Kompetenzen erforderlich sind (umgangssprachlich: Kitsch). Im Spannungsschema werden solche ästhetischen Vorlieben gebündelt, die in besonderem Maße durch Bewegung, Abwechslung, Spannung und starke Sinneseindrücke gekennzeichnet sind.

In der hier vorgelegten empirischen Analyse werden nicht nur Ost- und W estdeut­

sche im Hinblick auf ihre Lebensweise miteinander verglichen, sondern auch verschiedene Bevölkerungsgruppen in den beiden Landesteilen. Auf diese Weise wird überprüft, ob Differenzen in Verhaltens- und Denkweisen zwischen Ost- und W estdeutschen auf eine unterschiedliche sozialstrukturelle Zusammensetzung der Bevölkerung zurückzuführen sind. Es werden zentrale sozio-demographische Merk­

male betrachtet: die berufliche Stellung, Bildung, Alter bzw. Stellung im Lebenslauf und Geschlecht. Stimmen die Interessen und Verhaltensweisen beispielsweise von

Frauen, Jüngeren oder Bessergebildeten aus Ost und W est überein oder differieren sie? Unterschiede in den jeweiligen Gruppen können als Hinweise für den prägenden Einfluß unterschiedlicher Lebensbedingungen im bürokratischen Sozialismus bzw.

im fortgeschrittenen Kapitalismus interpretiert werden. Es wird überprüft, welches Gewicht Ost-W estdifferenzen zukommt, und welche Bedeutung sozialstrukturelle Einflüsse haben.

Datenbasis

Die Datenbasis für die empirische Untersuchung von alltagskulturellen Verhaltens­

weisen und Orientierungen bildet der Wohlfahrtssurvey 1993, eine repräsentative Umfrage zur Wohlfahrtsentwicklung im vereinten Deutschland (vgl. Zapf, Habich 1994). W ohlfahrtssurveys wurden in der früheren Bundesrepublik seit 1978 viermal durchgeführt. Bereits 1990 konnte eine repräsentative Pilotstudie in Ostdeutschland erhoben werden. Diese Erhebungen bilden eine wesentliche Grundlage der deut­

schen Sozialberichterstattung, die zum Ziel hat, die Lebensqualität in der Bevölke­

rung zu messen und zu beobachten. Um den alltagskulturellen Aspekten und den sozialstrukturellen W andlungen stärker als bisher gerecht zu werden, enthielt die 1993 durchgeführte Umfrage einen Zusatzfragebogen zur Ermittlung von Lebens­

stilen, die damit erstmals aus dieser Perspektive und zudem für Gesamtdeutschland erhoben worden sind (zum Konzept vgl. Spellerberg 1993). Aus erhebungstechni­

schen Gründen beschränkt sich die Zusatzerhebung auf erwachsene Personen bis zu 61 Jahren, dies sind in Ostdeutschland 775 und im W esten 1551 Befragte.