A-1991 Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 31–32, 9. August 1999 (7)
S P E K T R U M LESERBRIEFE
gewagte Unterstellung, bis dieser behauptete ärztliche Kunstfehler in jedem Einzel- fall bewiesen ist.
Die gleichzeitig beklagten
„Gefälligkeitsgutachten“ soll- ten dagegen für einen kompe- tenten Gutachter kein Pro- blem darstellen, denn gerade solche lassen sich gut erken- nen und disqualifizieren sich selbst. Nach übereinstimmen- der Meinung der medizini- schen Wissenschaft kann der Schmerzanteil eines Lumbal- syndroms im Einzelfall invali- disierendes Ausmaß anneh- men. Schmerzen können beim derzeitigen Stand der Wissenschaft nicht objektiv gemessen werden. Für eine angemessene, sozialmedizini- sche Beurteilung müssen also zwangsläufig andere Kriteri- en als sogenannte „objektive“
Befunde herangezogen wer- den. Die Definition von und Forderung nach „objektiven“
Befunden kann daher auch schon mal den Blick auf die medizinische Realität verstel- len und dann bei den Ent- scheidungsträgern folgen- schwere falsche Vorstellun- gen über die diagnostischen und therapeutischen Mög- lichkeiten der derzeitigen Medizin hervorrufen.
Die in langjähriger haus- oder fachärztlicher Betreu- ung erworbene Kenntnis der Person und des Sozialverhal- tens des individuell Betroffe- nen eröffnet eine gute Mög- lichkeit, eine möglichst zu- treffende Beurteilung des verbliebenen Leistungsver- mögens vorzunehmen. Ob eine derartige Einschätzung aufgrund einer einmaligen Schmerzquantifizierung bes- ser gelingt, ist nicht bewiesen.
Die Empfehlung an Thera- peuten, ohne „objektiven“
Befund keine Person zu be- handeln und zum Patienten zu machen, übersieht, daß die vorgeschlagene aufmuntern- de Beratung auch schon einen ärztlichen Eingriff darstellt.
Zur Überwindung der von ihm als bedeutsam bezeichne- ten Probleme zwischen The- rapeuten und Gutachtern sieht Hausotter Handlungs- und Korrekturbedarf nur bei
den Therapeuten. Vielleicht ist schon diese Haltung der größte Teil des angesproche- nen Problems.
Dr. med. Uwe Oppel, Laar- straße 2-4, 58636 Iserlohn
Auf den Punkt gebracht
In Ihrem Beitrag bringen Sie die Probleme des ärztli- chen Gutachters mit den nie- dergelassenen Kollegen auf den Punkt! Es ist schon er- staunlich, wie unkritisch be- ziehungsweise uninformiert sich teilweise auch Fachärzte vor den (subjektiven!) „Pati- enten-Karren“ spannen las- sen. Allerdings fehlt – wie so oft – eine auch zahlenmäßig wichtige Gruppe – nämlich die der Werks- und Betriebs- ärzte (falls noch nicht be- kannt: bis zum Jahr 2000 wer- den alle, auch Kleinstbetrie- be, betreut werden).
Einen gehörigen Teil mei- ner Arbeitszeit verbringe auch ich als Werksarzt eines größeren Werkes damit, Be- scheinigungen und Atteste zu prüfen. Hierbei sind auch wir als weisungsfreie und nur un- serem ärztlichen Gewissen verpflichtete Gutachter tätig.
Von daher sind meinen Kolle- gen und mir die geschilderten Probleme durchaus bekannt.
Eine gute Methode, die Spreu vom Weizen zu tren- nen, ist übrigens das Beste- hen auf Fakten, also verwert- bare Schreiben anstatt münd- licher Versicherungen, per- sönliche Kontaktaufnahme mit den an objektiven Ent- scheidungen interessierten Kollegen, Befunde statt Atte- sten. Auf dieser seriösen Ba- sis erreichen wir folgendes:
Die Zahl der „Forde- rungsschreiben“ von extern geht tendenziell auf die Be- rechtigten zurück.
Den tatsächlichen Hilfs- bedürftigen wird durch ar- beitsmedizinische Unterstüt- zung geholfen – was wir im Sinne der wirklich Kranken ja alle wollen!
Wilhelm Weber, Zahnradfa- brik Passau GmbH, Donau- straße 24-71, 94034 Passau
A-1994 (10) Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 31–32, 9. August 1999
de, daß nur wenige Wochen nach dem überzeugenden Plädoyer für die systemati- sche Übersichtsarbeit (Antes et al., Heft 10/1999) diese Methodik nun wiederum als bloße „Zweitverwertung von Daten“ abgestempelt wird.
Bothner und Meissner zei- gen wichtige, aber bekannte Schwächen der randomi- sierten Studie auf und em- pfehlen als Alternative die Datenbankanalyse. Letztlich kann aber das Data Mining nur zur Hypothesen-Gene- rierung, nicht aber -Testung dienen. Die Probleme rando- misierter Studien (Selekti- onsbias) lassen sich oft durch weitgefaßte Einschlußkrite- rien und multizentrisches Design lösen.
Kurz gesagt: Wir brau- chen mehr, keinesfalls weni- ger, gute Studien und Meta- Analysen als klinische Orien- tierungshilfe.
Dr. med. Stefan Sauerland, II. Chirurgischer Lehrstuhl, Universität zu Köln, Ostmer- heimer Straße 200, 51109 Köln
Evidenz schuldig geblieben
Wenn die Gründe, die für das Data Mining sprechen sollen, ähnliche Qualität ha- ben wie jene, die angeblich gegen klinische Studien spre- chen, so muß man befürchten, daß den Mineuren wegen un- zureichender Abstützung ih- rer Stollen bald einiges Unge- mach droht.
Nur drei Beispiele (womit nicht gesagt werden soll, daß die übrigen Argumente tref- fender sind):
Daß große Studien signifi- kante, aber durchaus nicht immer relevante Ergebnisse erbringen können, ist allein ein Problem der Fallzahl. Es hat mit dem Design der ran- domisierten, doppelblinden Studie rein überhaupt nichts zu tun und betrifft jede Form von Auswertung.
Daß klinische Studien den
„Durchschnittspatienten“ un- tersuchen, ist im Prinzip rich- tig. Daß Data Mining etwas anderes (Besseres?) kann, wie
hier impliziert wird, ist falsch.
Mit statistischen Verfahren können nur Gruppen von Pa- tienten und deren „Durch- schnitt“ beschrieben werden.
Wenn „wichtige Nuancen“
der Patienten einbezogen werden sollen und zu kleinen Fallzahlen führen, muß man die Gesamtfallzahl vergrö- ßern oder sich mit sehr unge- nauen Aussagen zufriedenge- ben – in jeder Form von Aus- wertung oder Studie.
Daß in klinischen Studien Ein- und Ausschlußkriterien deshalb „wissenschaftlich er- forderlich“ seien, um Unter- schiede in den Ergebnissen nicht „eventuellen Stör- größen zuschreiben“ zu müs- sen, ist schlichter Unsinn.
Dies gewährleisten Maßnah- men wie Randomisierung und Verblindung, ganz egal, ob man Einschlußkriterien formuliert oder nicht! Ein- und Ausschlußkriterien un- terstützen die Sicherung der Diagnose, die Abwehr von Risiken, Compliance und re- gulative Anforderungen. Man kann sie eher strikt oder eher locker formulieren. Letzteres wird in vielen praxisrele- vanten kontrollierten Studien getan.
Schließlich ist das Argu- ment, der kontrollierte Ver- such stamme aus der Zeit vor der Computerisierung, sei quasi eine Art Verlegenheits- lösung und könne daher bald abgelöst werden, ungefähr so treffend wie der Hinweis, das Rad sei erfunden worden, be- vor man das Telefon kannte, und daher sei es heute ent- behrlich.
Angesichts der sagenhaf- ten Möglichkeiten des Data Mining ist es sicher kleinlich, darauf hinzuweisen, daß die Autoren jede Evidenz dafür schuldig bleiben, daß diese Technik das leistet („ermög- licht die Verbesserung der Pa- tientenversorgung“), was sich die Autoren von ihr verspre- chen.
Priv.-Doz. Dr. Jürgen Winde- ler, Abteilung Medizinische Biometrie, Ruprecht-Karls- Universität Heidelberg, Im Neuenheimer Feld 305, 69120 Heidelberg
Zukunftschancen
Zu dem Beitrag „Via medici-Kongreß in Mannheim: Alternative Berufsfel- der“ von Dr. med. Kirsten Steinhausen in Heft 26/1999:
Gewerkschafts- populistische Töne
Mit der Forderung des Vorsitzenden des Marburger Bundes, Dr. Montgomery, nach einer Verkürzung der Weiterbildungszeit auf dem Via medici-Kongreß wurden nun zum wiederholten Male gewerkschaftspopulistische Töne angeschlagen, deren Gefährlichkeit nicht unkom- mentiert bleiben kann.
Die Verkürzung von Wei- terbildungszeit sowie die auch oftmals öffentlich an- gesprochene „Verschlankung der Weiterbildungsordnung“
mag für in Weiterbildung be- findliche Ärztinnen und Ärz- te eine naheliegende Forde- rung sein, verkennt aber, daß die Weiterbildung von Ärz- tinnen und Ärzten den Ärzte- kammern eine zur Durch- führung überlassene hoheitli- che Aufgabe ist, die an be- stimmte rechtliche Vorausset- zungen geknüpft ist.
So sind Weiterbildungs- bezeichnungen einzuführen oder haben zu entfallen, wenn eine wissenschaftliche Entwicklung und die Ein- führung einer Bezeichnung als Versorgungsbedürfnis für die Bevölkerung dies erfor- derlich machen. Hiermit kann es in diesem Feld keine Zweckmäßigkeitsüberlegun- gen dahingehend geben, ob eine Weiterbildung bequem zu absolvieren ist und wie viele Ärztinnen und Ärzte zweckmäßigerweise diese Be- zeichnung erlangen können.
Der Maßstab ist allein die medizinische Versorgung der Bevölkerung in Klinik und Praxis.
Es kann, ohne die Glaub- würdigkeit der Ärzteschaft zu gefährden, nicht weiter ange- hen, daß die Erfüllung dieses Staatsauftrages an die Ärzte- schaft zunehmend unter den Einfluß gewerkschaftlicher
Aktivitäten gerät. Wie sehr diese Vereinfachungstenden- zen Erreichtes gefährden könnten, mag der wöchentli- che Blick in den Anzeigenteil des Deutschen Ärzteblattes belegen. Dort sind in jeder Ausgabe Stellenausschrei- bungen zu finden, die sich auf Weiterbildungskategorien beziehen, welche durch die Weiterbildungsnovelle von 1992 neu etabliert wurden, wie beispielsweise die speziel- le Intensivmedizin in den ein- zelnen Gebieten.
Wer diese Weiterbildungs- kategorien wieder abschaffen will, muß ins Kalkül ziehen, daß er damit eine andere gewerkschaftliche Forderung gefährdet, nämlich die Schaf- fung von Lebensstellen in der Klinik unterhalb der Chefarzt- ebene.
Prof. Dr. med. Peter Knuth, Liebstöckelweg 9, 65191 Wiesbaden-Sonnenberg
Meta-Analysen
Zu dem Akut-Beitrag „Metaanalysen und ihre Grenzen“ von Rüdiger Meyer sowie dem Beitrag „Wissen aus medi- zinischen Datenbanken nutzen“ von Dr. med. Ulrich Bothner und Frank William Meissner, beides in Heft 20/1999:
Den Gold-Standard nicht verwässern
Randomisiert-kontrollier- te Studien und systematische Übersichtsarbeiten (Meta- Analysen) sind die zur Zeit wichtigsten Methoden, die uns zum möglichst unver- fälschten Vergleich von The- rapieverfahren zur Verfügung stehen. Beide Beiträge er- wecken jedoch den Eindruck, als ob diese Studientypen prinzipiell durch methodische Schwächen eingeschränkt sei- en.
Der Kommentar von Meyer schließt mit dem lapi- daren Satz: „Letztlich sind die Ergebnisse von Meta- Analysen immer anfecht- bar.“ Mit demselben Nihilis- mus kann man jede klinische Studie ablehnen. Es ist scha-
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