GESETZLICHKEIT UND MYSTIK IM ISLAM
Von Waither Braune, Berlin
Ein Kollege der politischen Wissenschaften versetzte mir gelegenthch einen freund¬
schaftlichen Hieb. Islamwissenschaft? Was ist denn das? Das interessiere doch,
meinte er, nicht einmal mehr die führenden Leute im Orient. Alle Völker gehen der
Säkularisierung entgegen, und interessant für uns sei doch nur, wie der Prozeß funk¬
tioniert. So redet man, wenn man bei aller geschichtlichen Bildung ungeschichtlich
denkt und sich nicht selbst erkennt. Wir bhcken auf eine mehr oder weniger zu re¬
spektierende Welt des Fanum, des Heiligtums, und auf die Welt, die pro, das heißt
vor dem Fanum liegt, die profane Welt. Aber das können nicht alle Völker. Wir
bringen es mit aus geschichthchen, unter vielen Konflikten umkämpften Vorausset¬
zungen.
Die Säkularisierung wird wie überall in der Welt auch im Islam viel Unheil anrich¬
ten. Aber an der ihm geschichtlich mitgegebenen Struktur nichts verändern. In ihm
gibt es keine Trennung von Fanum und Profanum. Der Islam bestimmt das mora-
hsche Verhalten des Individuumsund der Gemeinschaft, das Recht, die Wissenschaft, die Literatur, die Kunst, kurz die Kultur, er erhebt Anspruch auf Fühlen, Denken, Handeln des ganzen Menschen. Das ist schwer zu entwirren.
Nun ist es im Erkennen offensichtlich immer so, daß das zu erkennende Objekt
in dem Maße verwirrend bleibt, in dem sich das erkennende Subjekt nicht selbst
erkennt. Erkennen wir uns so, daß wir in der Lage sind, den anderen, hier also den
Islam, zu erkennen? Ich muß einige Minuten um Ihre Geduld bitten, denn ich muß
zu meinem Thema einen Umweg machen.
Seitdem Droysen 1846 über „das wüste Schwanken der Geisteswissenschaften"
geklagt hatte, haben die Wissenschaften enorme Kumuh des Wissens eingebracht.
Sie haben in der Erforschung des Einzelnen Leben erhalten. Das weiß jeder. Zu¬
gleich aber liaben sie etwas verloren, und das weiß nicht jeder. „Geist ist das Leben, das selber in^"Leben schneidet: an der eigenen Qual mehrt sich das eigene Wissen", sagt Nietzsche, und provozierend fügt er hinzu: „Wußtet ihr das schon?" Nein, im Vermehren des Wissens, das Leben zu erhalten verspricht, ist das Wissen vergessen,
das menschliches, und das heißt immer zielgerichtetes, sinnerfüUtes Leben ver¬
spricht.
Einige hatten es lange erkannt, besonders Künstler und Dichter, ich denke an
Cezanne oder Rilke, und ab und zu auch ein Wissenschaftler wie Troeltsch, zu
schweigen von den gelehrten Außenseitern wie Graf Yorck oder weit machtvoUer
Nietzsche. Als 1919 in erster Welle, wenn auch noch nicht so erbittert wie jüngst in
der dritten, der Zorn gegen das „tote Wissen" durchbracii, erklärte Max Weber vor Studenten, die Frage nach sinnerfülltem Leben gehöre nicht zum „Beruf der Wissen¬
schaft", sie möge man bei Straßenpropheten und Demagogen suchen. Und so ist die
Geschichte weitergerollt, mit den Demagogen und der Wissenschaft. Nach dem
, .wüsten Schwanken der Geisteswissenschaften" stehen wir in unbeschreiblicher Konfusion.
Ich lese irgendein wissenschaftliches Buch, etwa ein viel gelesenes Handbuch eines Biologen. Was Bios, Leben ist, sagt er, mögen sich Künstler und spekulierende
Philosophen ausdenken. Einen Biologen gehe das nichts an, er habe zu forschen,
denn Leben könne man nicht definieren. So etwa sieht es in allen Wissenschaften
aus. Wir haben unüberschaubare Kumuh von Einzelfakten mit der Aufschrift Ge¬
schichte oder Kunst oder Kultur, doch was drin liegt, weiß man nicht genau. Man
weiß nur soviel, daß, von ein paar ,, Spekulierenden" abgesehen, keiner mehr die
„Qual des Geistes" auf sich nimmt und fragt, was denn Kultur, Kunst oder Ge¬
schichte ist. Sehr merkwürdig, wo doch jeder weiß, daß schon der nächste Fach-
koUege etwas anderes darunter versteht.
Edward Carr, einer der wenigen Historiker, die noch fragen, was Geschichte ist,
und der seine Gedanken meisterhaft mit britischer Ironie zu würzen versteht, ver¬
gleicht die Historiker mit Nudisten, die vor dem Ernst der Lage fliehend in Uirem
umzäumten Garten Eden Unschuld spielen. Das gilt natüriieh nicht nur für Histo¬
riker.
Der Unschuld spielende Eskapismus hat es dahin gebracht, daß wir nur noch
schwimmende Vokabeln um uns haben. Wer das für eine Übertreibung hält, kann es
von Wissenschaftlern bestätigt bekommen. Denn die Sprachkonfusion hat ja die
neupositivistische Sprachphilosophie an die Front gerufen. Die haben erkannt, daß
hier etwas ist, womit man sich beschäftigen kann, und sie haben sich schleunigst
einen Garten Eden eingerichtet und dann mit Eifer die Logik der Sprache unter¬
sucht. Und so eifrig haben sie das betrieben, daß sie sich in weit auseinandergehen¬
den Schulrichtungen untereinander nicht mehr verstanden haben und ein verglei¬
chendes Wörterbuch ihrer Terminologien schaffen mußten. So sind sie angetreten
zur Klärung der Sprache.
Ich denke oft an lonescos „Kahle Sängerin". Eine Party bei Mr. und Mrs. Smith:
endloses Getratsch, kein Wort über das Thema, nämlich die kahle Sängerin, und
schheßlich, man weiß gar nicht warum, Erregung, Krawall, Streit. Wer das für eine
übertreibende Burleske hält, sollte lesen, wie sich der Dichter in seinen Selbstbe¬
trachtungen über die Verzweiflung an seinen Bemühungen äußert. Wie kann das Un-
beschreibhche, weil es überall zerstreut kaum bemerkt wird, aufgedeckt werden? Im
Hohlspiegel ist die Reahtät erfaßt: endloses Getratsch in lautstarken Windworten.
Warum sage ich das hier? Nun, weil Sie mir sonst nicht glauben würden, in wel¬
cher peinlichen Lage ich bin. Ich will über den Islam reden. Islam ist eine Religion.
Aber was ist denn Rehgion? In unzähhgen wissenschaftlichen Büchern wird unter
Religion das verstanden, was die Leute auf dem Markt darunter verstehen. Der Re¬
ligionshistoriker einer unserer theologischen Fakultäten schreibt, Religion könne man nicht definieren, es sei auch vöhig unfruchtbar, er dürfe sich nicht terminolo¬
gisch festlegen und müsse die Begriffe locker gebrauchen, und dann macht er sich
behend daran, in einem dicken Band Kumuli von Fakten der Weltreligionen auf-
zulesen. Ja, verzeihen Sie meinen Umweg, so wissenschaftlich bm ich nicht. Wir kommen aus dem Unheil nicht heraus, wenn wir nicht das tun, was die Scholastiker taten und selbst ihr erbittertster Feind, der Aufklärer Condorcet, an ihnen rühmte:
hn Dialog von Pro und Contra Begriffe klären.
Was machen wir mit dem Windwort „Rehgion"? Man kann empirisch vorgehen.
Der Mensch wih nicht nur leben — das wih jedes Tier —, sondem er will, daß Leben einen Sinn hat. Er erfährt ganz anders als das Tier, daß ahes ins Nichts geht, und er fragt im Stillen immer, was er hat, um sich zu bejalien und zu behaupten. Es klingt poetisch, weil es Shakespeare gesagt hat, doch es ist ein empirisch festzusteUenes
Faktum: Im Verborgenen sagt immer etwas in uns: „Sein oder Nichtsein, das ist die
Frage."
Ob sie uns bewußt ist oder nicht, ob wir sie als unbehaglich beiseiteschieben, sie bohrt in uns ständig. Das ist eine große Sache, denn in dieser Frage ist bereits ein
Glaube. Auch in quälendster Ungewißheit ist jedem dies gewiß: Ich bin und meine
Welt ist. Wir könnten hier nicht Zusammensein, wenn nicht jeder — so sage ich,
wenn es auch manchem unbehaglich ist — den Glauben mitbringen würde, daß
etwas ist, was dem Nichtsein widersteht. Dieser Glaube ist das Erste der Rehgion.
Er geht, wenn nicht zeitlich, so doch logisch jeder formulierten Rehgion voraus. Wie sich dann der Glaube artikuhert, das kann ich wegschieben. Nicht wegschieben kann
ich, daß ich es bin, der abstoßen kann, was mir Gewißheit versagt, und daß ich es
bin, der fragt, was mir Mut gibt zu sein. Rehgion ist sozusagen älter als die Rehgionen.
Und nun noch ein Schritt auf meinem Umweg. Der latente Glaube steht in einer
Spannung. Auf der einen Seite wohen wir dicht daransein an dem, was uns Sein und
Sinn gibt. Vieheicht an der Natur wie der junge Goethe in einer Naturmystik. Auf
der anderen Seite sagt immer etwas: Weder Natur noch Heimat noch Volk geschweige denn Position oder Bankkonto sichern letzte Zukunft. Ein auf Zukunft gerichtetes
prophetisches Nein sagt: Wir sind getrennt von dem, was über Sein und Nichtsein
bestimmt.
In dieser Spannung kann eine Seite sichtbar vorherrschen. Im Fernen Osten do¬
miniert das Veriangen sich zu einen mit dem, was über alles Konkrete hinausführt.
Doch die große Zahl der mannigfachen Richtungen und Schulen zeigt an, daß hn¬
mer etwas sagt: Was wir haben, ist noch nicht, was wir suchen, denn das Konkrete hängt an uns. In vielen Fruchtländern rund um die Erde hält der Boden der Heimat
den Menschen fest, die Mutter Erde, die unmer neues Leben gebiert und deren
Fruchtbarkeit er sich - die alten Propheten sehen es mit Zom — in buhlerischem Kult „unter jedem grünen Baum" hingibt. Sie können die Wüste nicht vergessen.
Denn einzigartig bricht in den „Fruchtbaren Halbmond" aus der Wüste Arabiens
eine Erfahrung ein, die machtvoU bis heute die Geschichte bewegt. In der Wüste
kann sich keiner in mystischer Meditation über das hart zu erkämpfende Konkrete erheben. Denn auch das, was er hat, ist immer unsicher. Nicht einmal die Blutsge¬
meinschaft, der Stamm, geschweige denn die karge Natur ist geschützt gegen einen
plötzhchen ahes vernichtenden Einbmch. In knappen Versen, großartig in ihrer
Ausdruckskraft, beschreibt ein früher Dichter der Wüste, was einer Antüope in einer
einzigen Nacht widerfährt: Sie muß widerstehen im kalten Regen, Schutz suchen
gegen einen glühenden Sandsturm, und als der Morgen graut, spüren sie zwei Jagd¬
hunde auf und wieder muß sie sich retten, vor nie aufhörenden Bedrohungen. Das ist
das Leben, will der Dichter sagen, und so lebt der Mensch. Jeder Tag ist ein Kampf
um Selbstbehauptung unter ständigen, nicht vorauszusehenden Bedrohungen. Die
Wüste Arabiens hat den Menschen eine einzigartige Erfahrung mitgegeben. Sie war,
wie aus dem Bau der semitischen Sprachen abzulesen ist, lange schon da, ehe der
prophetische Geist Israels sich wieder und wieder der Wüste erinnerte.
Das große Denkmal des Menschen der Wüste, seines Mutes, seiner Tragik, seiner
fragenden Erwartung ist die arabische Dichtung des Jahrhunderts vor Muhammad.
Widerstehen trotz allem, was plötzhch vemichtend einbrechen kann — es gab Jahre,
in denen ich meinte, das unmittelbar verstehen zu können. In der islamischen Zeit
konnte man nicht mehr verstehen, was diese Dichtung bewegt hatte. Die Formen
des dichterischen Ausdrucks blieben noch bis in unser Jahrhundert hinein das klas¬
sische Vorbild jeder Dichtung. Und in der Wissenschaft war sie immer ein Gegen¬
stand philologischer Forschung, aber was sie existentieU einmal aussagen woUte, war
nicht mehr zugänghch. Wie die arabischen Philologen haben auch unsrere Forscher
nicht fassen können, was dieses große Denkmal sagt, und selbst große Meister der
europäischen Forschung haben über die sauere Pflicht geklagt, sich mit einem so
rohen, langweihgen Stoff beschäftigen zu müssen. Es mag befremdhch klingen, doch
es ist keine Übertreibung: Gottfried Müller hat zum erstenmal in einer denmächst
erscheinenden Untersuchung auf Grund einer Vielzahl überlieferter Zeugnisse in
überlegener Denkarbeit analysiert und interpretiert, was den Menschen der Wüste
vor dem prophetischen Durchbruch des arabischen Propheten bewegt hat.
Was hat sich ereignet in diesem bis heute geschichtsmächtigen Durchbruch?
Unter der Tragik des um Selbst und Welt hart kämpfenden Menschen war die Zeit
reif geworden, die Antwort zu vernehmen, die mit dem Anspruch, Gottes Prophet
zu sein, Muhammad gegeben hat. Sie sagt: Du und deine Welt haben ihr Sein aus der
Macht des einen Gottes, der seinen WiUen offenbart hat in einem Gesetz und der
dem Gehorsamen eine über seinen Tod hinausgehende Erfüllungim Jenseits verheißt.
Darüber brauche ich mich in diesem Auditorium nicht zu verbreiten. Ich muß nur
aufmerksam machen, was es bedeutet, ein Gesetz zu haben, wenn alles versinkt in
dem, was wir heute Relativismus und Pluralismus nennen.
Wenn auch der mutigste Trotz nicht vernimmt, was Mut zuspricht, ist ein Gesetz
eine Befreiung. Der Gläubige hat wie der Dichter des ersten Psalms seine Lust am
Gesetz des Herrn, und der Fromme sinnt darüber nach Tag und Nacht. Das trägt die
Geschichte des Islam bis heute. WoUte ich beschreiben, wie viele Wissenschaften
sich mit dem Gesetz beschäftigen, so würde ich in diesem Kreis wiederum nur Dat¬
teln nach Basra tragen. Jeder Kenner des Islam weiß von den Buchmassen der weit
verzweigten Wissenschaften, die direkt und indirekt das Gesetz zum Gegenstand
ihrer Untersuchungen machen.
Zum Gegenstand - hier hegt das punctum sahens! Ein Gegenstand berührt die
Existenz ahenfalls durch intellektueUe Aneignung, er trifft nicht unmittelbar die
Existenz. Das aber suchen die Frommen, und wenn ich eben sagte, daß das Gesetz
die Geschichte des Islam bestimmt, dann muß ich zugleich hinzufügen, es kann nur
die Geschichte tragen, weil es empfangen wird im leidenschaftlichen Verlangen nach einer erlösenden Antwort.
Was das ,Jlerz" des frommen Mushm bewegt, war immer mein Interesse. Ich habe angefangen mit den Legenden der „Heiligen", besser, da sie nicht von einer kirch-
liehen Autorität bestätigt sind, der „Gottesfreunde". Ich bin dann hineingestiegen in die klassischen Werke des Sflftsmus, der scirließhch alles durchsäuernden Mystik,
ich mußte weiter zu üuen Gegnern gehen, den extrem orthodoxen Hanbahten wie
Ibn al-GauzT, Ibn Taimiyya, Ihn Ragab und anderen bis zu den Wahhabiten Ara¬
biens. Doch ich habe meine Arbeit nicht veröffentlicht. SoUte ich Zettelkasten aus¬
schütten? Je mehr ich aufliäufte, um so mehr zerfloß mh alles. Denn man hat ja
nicht wohldurchdachte Lehren vor sich, sondern unmer hingeworfene einzelne
Meinungen, etwa über Ekstase oder Liebe oder Armut, jedesmal anders gesagt, doch
dem Sinn nach kaum zu unterscheiden, weil die Worte vage schweben. Selbst ein
denkgeschulter Gelehrter wie Gazzäir beherrscht nicht die Dialektik, die sich be¬
müht in scharfsinniger Klärung des Pro und Contra ein Neues zu finden.
Die Erforschung des Süfismus, sagt Nicholson als einer der führenden Forscher,
ist eine langweihge, aber uneriäßhche Aufgabe, und er hat Recht, denn hier pocht
das Leben des Islam. Doch wer sind die SüfT? Ganz einfach, wenn auch diesem Wort
mannigfache erbauliche Bedeutungen gegeben werden, die WoUkuttenträger. Und das
sind — denn es gibt keine kirchhch festlegende Instanz - die ziellos wandernden
Armen, die in klösterlicher Gemeinschaft an einen Meister gebundenen Orden der
Derwische, die schlichten Frommen, die sich zu abendlichen Sitzungen versammeln,
und großen phUosophierenden Denker. Sie ahe stehen zu dem göttlichen Gesetz,
aber sie suchen etwas anderes als die Träger der Gesetzliclikeit. Sie suchen, was das
„Herz" bewegt, das unendliche Mysterium Gottes.
Für diese Frommen liegt in dem göttlichen Wort ein nie auszuschöpfendes Ge¬
heimnis. DäränT bricht nach fünf Nächten sein Meditieren über einen einzigen Vers
ab. GazzälT empfiehlt zwei tägliche Lesungen: neben der gewöhnlichen Andachtsle¬
sung, in der das heilige Buch ein Mal nach dem anderen rezitiert wird, eine zweite der vertieften Meditation. Von einem wird sogar erzälilt, daß er täglich fünf ver¬
schiedene Lesungen vornahm. Auch solche absurden Beispiele zeigen, um was es
geht. Die Gelehrten, sagt BistämT, nehmen ihr Wissen tot von den Toten. Das „tote"
Wissen, so sagt man, wenn einen die Öde der Existenz ankommt. Es geht wie ein
Grundakkord durch die sufische Literatur.
Sarräg beginnt sein „Buch der Lichter" mit einer DarsteUung der verschiedenen
Wissenschaften der Rehgion. Es klingt sehr anerkennend, doch wenn man genauer
hest, bemerkt man, daß er sie an den Pranger des Lobes stellt. Was verstehen sie
denn von dem, was den Menschen angeht? Die SüfT aUein haben das „Wissen des
Herzens". Das führt sie auf Wege, die die Eiferer für das Gesetz als teuflischen Trug verdammen.
Der Hanbalit Ibn 'Aqil wirft den SüfT vor, daß sie alle Wörter verdrehen. Etwas Richtiges bemerkt er, er kann es nur nicht verstehen. Richtig ist, daß ein Wort der
gewöhnlichen Sprache etwas ganz anderes meint, wenn es Symbol ist für das, was
das ,,Herz" trifft. Die Taube der christhchen Symbohk ist nicht die Taube, von der
Konrad Lorenz sagt, daß sie ein rabiater Aggressor ist, und wenn Goethe sagt, die
Seele des Menschen gleicht dem Wasser, meint er nicht den Gegenstand des Psycho¬
logen und Wasser ist nicht H2O. Das ist keine Verdrehung von Wörtem, sondern der
unausweichliche Gebrauch der Sprache für das, was als ein Unaussprechhches erfah¬
ren wird. Wenn das nicht unterschieden wird, geht — wie wir bei uns selbst täglich erkennen könnten — alles durcheinander.
Die muslimischen Denker können es nicht entwirren. Welcher Mushm kennt nicht das Wort tauhid? „Eins-Machen", ja soviel weiß auch der einfachste Gläu¬
bige: Er bekennt, daß Gott der eine Gott ist. Doch es ist qualitativ etwas anderes,
wenn ein Süfi über die gängige Wortbedeutung hinaus meint: Ich bin von Gott hin¬
eingenommen in die Einheit mit ihm, denn er ist, so sagt der Koran, mir näher als
meine Halsader, er ist der Erste und Letzte, der Innerste und Äusserste.
Es gibt kaum einen Begriff der sufischen Sprache, der nicht im Koran vorgegeben ist. Aber die Auslegung der Begriffe schwankt. Ich denke wieder an einen unserer
Theologen, der die Begriffe der Rehgion nicht festlegen will und hurtig ahein aus
dem historischen Material - denn über die Rehgion sich Gedanken zu machen sei
nutzlos und unfruchtbar — einen dicken Band über die Formwelt des Rehgiösen
zusammenbaut. Daß ein muslimischer Wissenschaftler so etwas gesagt hat, entsinne ich mich nicht. Aber daß sie ebenso arbeiten, ist überall festzustellen. Sie bhcken auf den Koran und das Hadlt, das heißt das übedieferte „historische Material" der
Lebenspraxis Muhammads, und darauf bauen sie auf. Es schwebt alles im Vagen. Ibn
al-öauzl ist ein enorm gelehrter Vielwisser, und er klagt einen Süfi an, daß er sich
auf falsche Hadite beruft. Aber was tut denn er?, fragt später der Historiker Ibn
al-Atlr, auch seine Werke sind voll von falschen Haditen. Und das kann niemand
entwirren, denn die dürftige Differenzierung der in Bänden und Bänden zusam¬
mengeschriebenen Hadite zeigt nur, daß es kein Kriterium gibt für echt und falsch.
In seinem Buch „Die Jagd auf die Triebe" zeigt sich Ibn al-GauzI als ein scharfer
Psychologe. Aber mehr als kurze Gedankensplitter kann er nicht geben. In seinem
umfangreichen Buch „Die Betörung des Teufels" kämpft er mit Leidenschaft gegen die Süfi. Nicht gegen die philosophierenden Mystiker, die unter vielem anderen der
Eiferer Ibn Taimiyya angreift. Er sieht das Verderben in dem zu einer Massenbe¬
wegung anwachsenden Süfismus des Volkes.
Er hat den Islam grundlegend verändert. Rund 200 Jahre vor Ibn al-GauzT, um
die Jahrtausendwende, weiß man von den Wollkuttenträgern nichts Genaues. Der
Geograph Muqaddasi wollte schon lange etwas von ihnen erfahren. Da wird er in
Persien, weil er zufällig einen Wollmantel trägt, für ihresgleichen gehalten und in
ihre Versammlung mitgenommen. Er erzählt amüsant, wie er alles brav mitmacht
und sich dann heimlich verdrückt. Um die gleiche Zeit erzählt auch der Reisende
Mas^'üdr als Neuigkeit, was er in einer solchen Versammlung eriebte. Es ist das,
was zu Ibn al-GauzIs Zeit kein Geheimnis mehr ist: Lange Koranrezitation, sich
immer wiederholende Anrufungen Gottes, Lieder von Flöten und Trommeln be¬
gleitet, andächtige Schau auf schöne Jugendliche, Tanz in blinder Verzückung bis
zum Rasen .
Das ist ihr Kult, ein rauschhafter Kult. Mit Grauen sieht es Ibn al-GauzI. Denn
Rausch löscht die Vernunft aus, die zu nüchternem Gehorsam gegen das Gesetz
anhält. Schon die hämmemde Reimprosa ist ihm, weil sie über den nüchternen Wort¬
sinn hinwegführt, verderblich.
Aber so lebt man in einer solchen Zeit: Der Reisende Ibn Gubair hört seine Pre¬
digt in Bagdad. Was tut der die Nüchternheit rühmende Eiferer? Er hämmert mit
gewaltiger Redemacht und feinsten Mitteln der Kunstprosa auf seine Hörer ein, und
- brillant beschrieben - sie rasen „wie die Falter um eine Keize". So lebt man in
jener Zeit: die schwankenden Worte und das in Widersprüchen schwankende Handeln
gehören zusammen wie rechts und links.
Wenn ich nicht Fakten kumuheren wiU, möchte ich dies sagen: Die Gesetzhch- keit der Gelehrten und die Mystik der Safi stehen gegeneinander, aber ihr Gezänk
ist überschattet von Resignation. Man muß den anderen akzeptieren. Denn, von
wenigen abgesehen, gibt es keinen Süfi, der nicht aufrichtig das götthche Gesetz
anerkennt. Die Frage ist: Wie? Und es gibt anderseits keinen gesetzestreuen Han¬
bahten, der nicht weiß, daß die wahrhaft Frommen in Einheit mit Gott die Gottes¬
freunde sind. Wie? muß man wieder fragen.
Ibn Tauniyya schreibt ein Buch über den Unterschied zwischen den wahren und
den vom Satan betörten Gottesfreunden. Ein Söfi kann vielem zustimmen, er meint
nur bei jedem Wort etwas anderes. Er könnte dem Kritiker sagen: Du kannst uns
nicht verstehen, denn dazu müßtest du selbst einmal erieben, was uns ergreift. Sol¬
cherart Redeweise khngt nur aus meiner Studienzeit in den Ohren. Damals habe ich
erkannt, daß etwas richtig daran ist. Man kann den anderen nicht verstehen , wenn man nicht partizipiert. Wer nicht den Mut hat zu erkennen, daß durch den anderen
ein Stück (pars) Wahrheit in sein eigenes Leben schneidet, versteht ihn nicht. Er
rettet sich vor der Qual, die sein eigenes Wissen mehren könnte, aber das Pro und
Contra veriäppert sich in wortreichem Gezänk. Die gesetzestreuen Gelehrten und
die mystischen Gottesfreunde teüen das Schicksal aller Antibewegungen. Sie leben
voneinander, und nur das Gezänk hält sie aufrecht.
Abkürzend kann man sagen: Die Gesetzhchkeit ist anfangs eine gewaltig um¬
formende Macht. Sie gjbt der arabischen Selbstbehauptung Richtung und Form.
Man muß es würdigen: Diese Beduinen aus den Zelten Arabiens faUen nicht wie
wilde Horden über Länder her. Sie erobern sie, und sie rauben sie auch aus. Aber
was bedeutet es, daß '^Umar als einer der frühesten Eroberer byzantinische Fachleute
heranzieht zum Bau der '^Umarmoschee in Jerusalem? Die Zeugnisse zeigen es al¬
lerorts: Die Eroberer sind eine ordnende Macht, sie erhalten das Vorhandene und
geben die Basis, es weiter zu entwickehi. Sie haben ein Gesetz.
Dann aber finden die rasanten Siegeszüge ein Ende. Die Lebensbedingungen sind
relativ gesichert, relativ, die Gelehrten erfreuen sich in Beschäftigungstherapie an
Wettkämpfen um die größten Kumuh des Wissensstoffes — Dahabi gibt absurde
Beispiele — und sie schreiben und schreiben Bände über Bände, wie die von denen
Goethe einmal sagt, man soUe gar nicht aus ihnen etwas lemen, sondern sehen,
was die Verfasser wissen. Was für das Volk an Gesetzhchkeit ausreicht, zeigt sich
daran, daß der gelehrte Begriff faqih, nämhch Rechtsgelehrter, im Volk absinkt zur Bezeichnung des Elementarlehrers in rehgiösen Dingen.
In dieser stagnierenden Zeit sind die Süfi die zweite Welt erobernde Macht. Sie
geben dem Herzen, was das Leben versagt. Da sind die melodischen Rezitationen.
Sind sie nur, wie Ibn al-GauzI sagt, eine Abendunterhaltung der Frauen auf dem
Lande? Sie haben unzähÜge Menschen, auch die, die kein Wort Arabisch verstanden,
für den Islam gewonnen. Und da sind die Süfi, die - Ibn al-Gauzi ist moralisch
entrüstet - für teures Geld gute WoUkutten kaufen, dann zerreissen und mit anders¬
farbigen Fhcken benähen. Er ahnt nicht, was sie ahein durch ihre Erscheinung für
Missionare sind. Wenn nichts Wirkhches mehr anschaubar macht, was einen wirklich
angeht, dann geben sie Mut, das Leben zu bestehen. Sie machen anschaubar, daß
Zynismus mit dem Leben fertig wird. Das zeigt die geflickte Kutte, arabisch hirqa - nicht Blue Jeans.
Die Sehnsucht, das Wirkhche zu entwirkhchen — das hat mich lange an Häfiz gefesselt. Es ist eine Streifrage, ob er ein Mystiker ist. Er rühmt die Derwische, er spricht in der Sprache der Süfi, und dann kippt er plötzlich um in Worte, die jeden Frommen verletzen. Dennoch wird er gerühmt als der „Dragoman des Mysteriums".
Er singt vom Wein und den schönen Schenkknaben, von den Gärten, von der Rose
und der Nachtigall, und immer kreisend singt er wieder von dem Becher, der die
Rose ist, und der schlanken Zypresse, dem Geüebten.
Daß du nie enden Icannst, Da.s maciit dieh groß.
Und daß du nie beginnst, das ist dein Los.
Dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe, Anfang und Ende immerfort dasselbe,
sagt Goethe. Er hat mehr von Häfiz verstanden als die PhUologen nach üim.
Was besingen die sich drehenden Lieder? Wenn man — wie Georg Jacob vor langen
Jahrzehnten - versucht, sich ein Büd von einer Weinstube zu machen, hat man nichts Greifbares. Wie sah es da aus? Und wie in einem Garten? Wenn wir es nicht aus Minia¬
turen wüßten, von Häfiz können wir es nicht erfahren. Und was fih ein Büd woUen
wir uns machen von der Zypresse, dem schönen Schenkknaben, dessen Taille fein
wie die einer Ameise ist und dessen Bartflaum wie Ameisen auf der jugendhchen
Wange den hebenden Zecher verrückt macht? Auch der Versuch von Edward Browne,
aus ein paar Versen geschichtliche Ereignisse zu rekonstruieren - nun ja, man kann es nicht widerlegen, aber glaubwürdig sind sie nicht.
Denn das gerade wih der Dichter: Er will aUes Wirkliche entwirklichen. In wel¬
cher Absicht? Sind das dann nicht alles nur schöne Worte? Ja, aber dann muß man
es so verstehen, wie Rilke, den Ästhetizismus in sich selbst bekämpfend,einmal sagt:
,,Das Schöne ist nur des Schrecklichen Anfang." So ist es: In einer schrecklichen Zeit wächst die Sehnsucht, die konkrete Wirkhchkeit auszulöschen.
Natürhch wohen das nicht ahe. In der Geschichte der Ärzte von Ibn AbT Usaibi'^a
— auch ein Werk, dessen hochinteressanter kulturgeschichtlicher Inhalt achtlos im
Staube liegt - wird von einem gelehrten Arzt berichtet, der in der Forschung nach
Heilkräutern von einem Maler Pflanzen, ihre Wurzeln, Blätter, Blüten, Samen auf¬
nehmen läßt. Der Verfasser beschreibt es eingehend, mit Bewunderung, und es ist
bewundernswert. Dieser Arzt hat sicher nicht die Wirklichkeit entwirklichen wohen.
Und die meisten konnten es auch gar nicht. Häfiz rühmt den Schah äugä'^ als großen
Süfi. Welcher Fürst oder Sultan hat nicht Dichter und Süfi um sich, die über die
Schrecken hinweg die Wirklichkeit entwirklichten?
Ich muß kurz treten. Es ist veriockend, zu verfolgen, wie das mystische Verian¬
gen nach dem Unendhchen eine Antwort findet im Schönen, und zugleich wie das
Unendhche die endliche Schönheit durchbricht in dem, was die Romantiker — ganz
anders als wir heute — unter Ironie verstanden. Und es ist veriockend, weiter zu
verfolgen, wie Sehnsucht nach dem Schönen in hohlem Ästhetizismus unddie Ironie
der Romantiker in sterilem Zynismus enden. Dazu fordert Häfiz heraus. Doch da¬
von hier weiter nichts.
Wie ist der Niedergang der hohen Kultur des Islam zu erklären? Das ist, wie jede Geschichte, ein komplexer Prozeß. Ich gebe nicht mehr als einen Aspekt. Sagt man.
die alles entwirklichende Mystik hat die Kultur zerstört, dann muß man zugleich sa¬
gen: aber die Mystik ist hervorgebracht von der Gesetzlichkeit, und beide treiben in den Pluralismus und in die Skepsis — wie in der Spätantike und in jeder Spätzeit. In
einer Arbeit, die ich — ohne zu wissen, daß Droysen schon den Begriff gebraucht —
eine geschichtstheologische Untersuchung genannt habe, habe ich auf ein entschei¬
dendes geschichtliches Ereignis hingewiesen. Im ersten Erwachen der islamischen Kultur unter den '-Abbäsiden sucht die Mu'-tazila das Prinzip, das die Kultur rech¬
fertigt: den '-aql, die Vemunft.
Dieses Bemühen mußte scheitern, denn es gibt im Islam keine Grundlage für die
universale Vemunft, den in allem gegenwärtigen Logos. Das aber, wir haben es nur
vergessen, bringen wir mit. Man kann den anderen nicht erkennen, wenn man sich
nicht selbst erkennt. Unsere Geschichte ist noch über die Aufklärung hinaus bewegt
von dem Glauben an die göttliche Vemunft, den Geist tragenden Logos, der in
allem ist und aus dem alles ist. Deshalb sagt - ich nehme zwei weitauseinderlie- gende Beispiele — der Kirchenvater Augustin, wer nach der Wahrheit fragt, fragt nach Gott, denn Gott ist die Wahrheit. Deshalb sagt der Weltmann Bacon, im empirischen
Erforschen des Einzelnen gehen wir den Fußspuren Gottes nach. Zwei Namen für
eine ganze Epoche bis zu Hegel. Das heißt: die Arbeit an der profanen Welt ist
noch nicht Säkularisierung. Das Pro-fanum steht im Licht des Fanum. Das ist der
grundlegende Unterschied zum Islam.
Deshalb zeigen auch die Seitenbhcke, die ich vom Islam auf uns geworfen habe,
immer nur Ähnliches, nicht ein Gleiches an. Es ist Sache jedes Historikers, das
jeweils Einzigartige herauszuarbeiten. Und dann kann man — wieder erfordert es
Selbsterkenntnis - nicht vorbeisehen an der Weichenstellung, die in den Vierzigern des
vorigen Jahrhunderts erfolgt ist. Hegel wird über Bord geworfen und so rabiat und
töricht geschtnäht, wie es in unserem Jahrhundert wohl nur noch der von Wissens¬
stoff strotzende Popper fertigbekommen hat. Das von Droysen beklagte wüste
Schwanken der Geisteswissenschaften torkelt in geistleere Faktenhube rei, nicht
zum wenigsten durch die Theologen, die er Zionswächter nennt. Der Positivismus
siegt auf ganzer Front.
Jetzt wird aus der universalen Vernunft das Element herausgenommen, das auch
der frühste Mensch schon gebrauchte, das Element, das ein Werkzeug des Beherr¬
schens ist. Emotionen, Intuitionen, Visionen werden in die Gesindekammer ver¬
wiesen. Jeder lebt von ihnen, denn natürlich, sie sind das Dynamische der univer¬
salen Vemunft. Aber vom Gesinde darf man nicht sprechen im (so Max Weber)
„Beruf der Wissenschaft". Der dem Inhalt nach dürftige, geistentfremdete Rest
der Vernunft ist eine Weltmacht geworden. Und Menschen rund um die Erde lehnen
sich dagegen auf.
Meinen Kollegen von der Politologie interessierte nicht die Islamwissenschaft.
Mich interessiert an der Politologie, in welches Chaos die Konfusion ihrer Theorien führen wird. Er wollte wissen, wie die Säkularisierung funktioniert. Mir scheint, die Meinung, daß sie funktionieren kann, ist ein Mirakelglaube, einer von den vielen,
die sich die reduzierte Vemunft ausspinnt. Man braucht nicht in die weite Welt zu
blicken, nicht in den islamischen Orient, es reicht aus, in die nächste Umgebung zu sehen. Die Säkularisierung stärkt das, was sie überwinden wih. Und unsere Theolo¬
gen, die zwar nicht in den Worten, wohl aber in der Sache das vergessen, was wir
durch die Geschichte haben, sind gar nicht so weit entfemt von dem Islam, der das
nicht mitbringt, was sie vergessen haben. Es droht uns das Schhmmste. nämlich das
Zurück-zur-Religion, in dem Religion ein Windwort ist.
Wie nun die profane Welt in schöpferischer Arbeit bestehen kann zwischen dem
zerreibenden Mühlstein der leeren Säkularisierung und der konfusen Religion, das
führt auf rehgionsphilosopliische Fragen, die hier nicht zur Diskussion stehen. Ich breche ab.
BEI GILGIT
Von Oskar von Hinüber, Freiburg
Beinahe vier Jahrzehnte sind vergangen, seit bei Naupur in der Nähe von Gilgit
durch einen ZufaU ein umfangreicher Fund voUständiger Handschriften buddhisti¬
scher Texte zutage gefördert wurde. Obwohl niemand die Bedeutung dieses Fundes
verkannt oder bestritten hat, so wird man in der Literatur trotzdem vergebhch nach
einer ausführhchen oder gar umfassenden Würdigung suchen. Auch hier können nur
einige wichtige Punkte angesprochen werden. Denn einer aUgemeinen Wertung steht
sich neben der Vielfältigkeit des Gegenstandes als ein nur mühsam zu überwindendes
Hemmnis die Unzugänglichkeit der Handschriften mangels guter und zuverlässiger
Ausgaben in den Weg.
Anders als etwa die aus Turfan in Chinesisch-Turkestan geborgenen Fragmente,
die von Anfang an sorgfältig konserviert und mustergültig ediert wurden, bheben
die Gilgit-Handschriften lange Zeit, wohl bis in die frühen fünfziger Jahre und zum Teil sogar bis auf den heutigen Tag von den Händen eines kundigen Konservators
unberührt. Wenn überhaupt Textausgaben erschienen, so sind diese, von wenigen
erfreuhchen Ausnahmen abgesehen, mit zahlreichen Mängeln wie ungenauen Le¬
sungen und stillschweigenden Textänderungen behaftet, so daß man mit diesen Aus¬
gaben nur unter ständigem Vergleich mit der jetzt abgeschlossenen Faksimile-Aus¬
gabe arbeiten kann.
Dieser durchaus unbefriedigende Stand der Bearbeitung des Handschriftenfundes ist umso bedauerhcher, als es sich um die bei weitem älteste und größte geschlossene
Sammlung buddhisticher Sanskrit-Texte handelt. Denn während die Turfan-Funde
Textfragmente enthalten, und der Fund von vohständigen oder fast voUständigen
umfangreichen Manuskripten, wie etwa die „Kashgar"-Handschrift des Saddhar¬
mapundarikasütra oder die 150 Blatt starke Bairam-Ali-Handschrift' , vereinzelte Glücksfälle bleiben, sind voUständige Texte nur in Handschriften, die um Jahrhun¬
derte später geschrieben wurden, erhalten. Sie stammen in der Regel aus Nepal oder
Tibet - erinnert sei Wer etwa an die zwischen 1929 und 1938 von Rahula Sahkrt
yäyana in Tibet aufgefundenen und photographiertenTexte, die heute im Besitz des
K. P. Jayaswal Research Institute m Patna sind. Diese Handschriften sind in der
Regel um mehr als ein halbes Jahrtausend jünger als der Fund von Gilgit.
1 G. M. Bongaid-Levin, New Sanskrit and Prakrit Texts from Central Asia, in Indologica Taurinensia, 3/4, (1975-1976), 73-80, bes. 78 f. und M. I. Vorob'eva-Desjatovskaja, Naebodki Sanskritskieh Rukopisej Pis'mom Brähmi na Territorii Sovetskoj Srednej Azii, in Sanskrit i Drevneindijskaja Kul'tura (Sanskiit and Aneient Indian Culture), 1 Moskau 1979, 123-133, bes. 127 ff.