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Was Demenz uns über die Liebe sagt

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132 DIE PTA IN DER APOTHEKE | Juni 2021 | www.diepta.de

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ieses Buch ist

hart, besonders wenn man ein an Demenz erkrank- tes Familienmitglied hat, und das werden viele sein. 1,6 Milli- onen sind es zurzeit in Deutsch- land, berichtet die Deutsche Alzheimer Gesellschaft in sei- nen aktuellen Zahlen. Und täg- lich kommen 900 neue „Fälle“

hinzu.

Aber dieses Buch gibt auch Hoffnung. Denn Nicci Gerrard gründete nach dem Tod ihres Vaters die nach ihm benannte Initiative „John’s Campaign“, die dafür sorgen soll, dass sich die Klinikkultur verändert im Hinblick auf die vielen De- menzkranken in unserer Ge- sellschaft. Nicci Gerrard hat es selbst erlebt, wie hilflos man als Angehöriger dem langsa-

men Verlöschen eines Men- schen zuschauen muss.

Interviews, Reportagen, Geschichten Sie hat viele In- terviews mit anderen Familien- angehörigen geführt, denn die Buchautorin ist auch Journalis- tin und arbeitet für große briti- sche Zeitungen. In den An- fangsstadien des „großen Niedergangs“ ihres Vaters, erin-

nert sie sich, hat sie einmal in einem Restaurant gesessen; mit ihm, der Schwierigkeiten hatte, zu bestellen, denn er war in einer Endlosschleife der Unent- schlossenheit gefangen. „Die junge Kellnerin sah uns an, grinste und rollte verschwöre- risch mit den Augen, als wäre alles ein großer Witz. Als sie den Tisch verließ, folgte ich ihr und stauchte sie zusammen. Sie war verwirrt und erschrocken.

Sie war nicht grausam, sondern wusste es nicht besser. Sie dachte, hier liefe ein anderer Film – eine Komödie, keine Tragödie.“

Was für andere lustig anzusehen ist – Geschichten, die brüllend komisch sein können – ist für Betroffene und ihre Angehöri- gen grausame Realität. Gerrard hat mit vielen gesprochen. Mit Ehepartnern von Dementen, mit ihren Kindern, mit Freun- den, mit Pflegern, Ärzten und Krankenschwestern. Sie alle versuchen, der Krankheit zu be- gegnen, die so schnell das Sta- dium drolliger Vergesslichkeit verlässt, um zu einem identi- tätsauslöschenden Moloch zu werden.

Ein dementer Mensch malt sich selbst Eins dieser Gesprä- che führte sie mit Patricia Uter-

Nicci Gerrard, die viele unter dem Pseudonym der Thrillerautorin Nicci French kennen, hat ein Buch über Demenz geschrieben. Weil nämlich ihr Vater daran erkrankte: „Demenz ist ein ausgesprochen langer Abschied vom Selbst.“

Was Demenz uns über die Liebe sagt

PRAXIS BÜCHER, VON DENEN MAN SPRICHT

© Ocskaymark / iStock / Getty Images

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DIE PTA IN DER APOTHEKE | Juni 2021 | www.diepta.de

mohlen, der Ehefrau des Künst- lers William Utermohlen, der sich selbst in den verschiedenen Phasen der Krankheit malte; ein wohl einzigartiges Zeugnis der Auslöschung eines Menschen, der sich selbst beobachtet. An- gehörige sind diejenigen, die das Joch der Demenz mit tra- gen. Sobald die Demenz in ihr letztes Stadium eintritt, vergisst der Mensch das Vergangene, vergisst auch die Scham – viel- leicht das einzig Positive an die- ser Krankheit, allerdings nur für den Betroffenen. „Sie sind in einen Zustand der Unschuld zu- rückgekehrt“, beschreibt es Nicci Gerrard. Der Partner muss damit weiterleben. Pat Utermohlen, die ihren Mann trotz der Krankheit überallhin mitgenommen hat, enthüllt ohne Scheu, dass sie selbst sehr wohl oft Scham empfunden hat, beispielsweise wenn er seinen Darm „an den unpassendsten Orten entleerte. Das war ein Albtraum und sehr peinlich.“

Die Frau des mittlerweile ver- storbenen Künstlers berichtet davon, da sie möchte, dass an- dere, gleichfalls Pflegende, wis- sen, „dass sie sich ihrer Scham- gefühle nicht zu schämen brauchen.“

Wer einen dementen Familien- angehörigen begleitet, bekommt oft selbst Angst, dass ihn das Los der Krankheit irgendwann treffen wird. Typischerweise ist das der Zeitraum zwischen 50 und 60: „Menschen Ihres Al- ters“, sagt die Ärztin der Ge- dächtnisambulanz, die Nicci Gerrard ziemlich verstört auf- sucht, „bekommen allmählich Angst vor dem Nachlassen ihres Gedächtnisses. Mit dem Alter bereitet das Denken und Erin- nern mehr Mühe. Ein Großteil der Vergesslichkeit ist altersbe- dingt und unproblematisch.

Wir alle werden vergesslicher, wenn wir älter werden, das ist normal und natürlich und ge-

hört zum Altersprozess.“ Aber:

„Demenz ist nicht natürlich, sondern eine Krankheit.“

Versuch, diese Welt zu be- treten Und dann geht die Au- torin auf die Suche, nach den Orten, an denen man Demenz- kranke dort abholt, wo sie ste-

hen. Wenn nämlich die Kraft der Angehörigen nicht mehr ausreicht, um zu betreuen und zu pflegen und wenn sie, wie Nicci Gerrard, einen Platz su- chen, an dem der demente Mensch gut aufgehoben ist. Sie besucht ein Heim im englischen Berkshire: „Jedes Bewohner- zimmer hat seine nummerierte Eingangstür mit einem kleinen Fenster daneben, in dem Ge- genstände und Bilder stehen, die sich die Bewohner selbst ausgesucht haben. (….) Es gibt kleine Wohnzimmer, ein Kino, einen echten Laden (…) Die Gebäude wurden rund geplant, sodass Sackgassen entfallen; die

Bewohner können weit laufen, ohne sich zu verirren (…) Nachts tragen die Mitarbeiter Schlafanzüge; so wissen die Be- wohner, wenn sie nachts aufwa- chen, dass es noch nicht Zeit zum Aufstehen ist.“ Und vieles mehr: „Wir versuchen, ihre Welt zu betreten“, sagt die Heimleite- rin.Am Ende des Buches beobach- tet die Autorin einen Mann, der an einer belebten Kreuzung steht, immer wieder. In der einen Hand hält er ein Besteck- teil, meist eine Gabel, und we- delt damit in der Luft herum, während der Verkehr an ihm vorbeitost. Er schwenkt die Gabel mal gemächlich, mal energisch, und die Autorin er- fährt nach seinem Tod in Nachrufen, dass er ein Psycho- analytiker und brillanter Musik-

wissenschaftler gewesen war. Er hat mit seiner Gabel vermutlich den Verkehr dirigiert „zu inner- lich gehörter Musik“. Sie wird sehr nachdenklich: „Wenn wir zur Welt kommen, haben wir

rein gar nichts; nach und nach bauen wir den weitläufigen, reich ausgestatteten Palast unse- res Selbst auf: Sprache, Wissen, Beziehungen, Besitztümer, Er- fahrungen, Erinnerungen und Liebe. Vor allem Erinnerungen und Liebe. All das fällt weg, wenn das Leben zum Zustand des Nichts zurückkehrt. Wenn wir nicht einmal mehr sagen können: „Ich bin“. Wenn wir gar nichts mehr können.

Und doch wedelt der alte Mann mit seiner Gabel in der Luft herum. Vielleicht hört er Musik.“

Dieses 320 Seiten starke Buch ist teils Reportage, teils Erfah- rungsbericht, teils philosophi- sche Betrachtung. Es hilft, der Krankheit zu begegnen, auch wenn wir auf der anderen Seite sie niemals ganz verstehen wer-

den. Das Buch ist nicht fröhlich, nicht traurig. Aber es ist not- wendig.  n

Alexandra Regner, PTA und Medizinjournalistin

Nicci Gerrard

Was Demenz uns über die Liebe sagt Übersetzt von Maria Andreas-Hoole Gebundenes Buch

C. Bertelsmann, 320 Seiten, 20 Euro ISBN: 978-3-570-10417-0

„Da stimmt was nicht“, sagte mein Vater zu mir, bevor er nicht mehr in der Lage war, etwas zu sagen.

ANMERKUNG

Die Selbstportraits des Künstlers William Uter- mohlen, die er nach Diag- nose der Krankheit malte, sind leicht bei Google zu finden, beispielsweise unter https://beau- tyofoldage.wordpress.

com/2014/09/11/art-alz- heimers-an-interview-wi- th-patricia-utermohlen/

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