roß sind seit Jahren die Kla- gen von Diabetologen und Hausärzten, daß es mit der medizinischen Versorgung der Diabe- tiker hierzulande nicht zum besten steht. Zwar laufen vielerorts gut ge- meinte Modellprojekte, die eva- luieren sollen, wie eine Optimierung zustande kommen könnte – gefruch- tet haben diese Bemühungen bislang kaum. Nach wie vor mangelt es an den regelmäßigen Kontrolluntersu- chungen, präventive Bemühungen verlaufen im Sande, Verbesserungen sind bestenfalls regional erkennbar, und es ist keine Rede davon, die An- strengungen und Kräfte zu bündeln, wie bei der Jahrestagung der Deut- schen Diabetes-Gesellschaft in Frank- furt deutlich wurde. „Nur so aber wären bundesweit Verbesserungen möglich“, beklagte Prof. Rüdiger Landgraf vom Klinikum Innenstadt der Universität München.
Als größtes Dilemma benannte Landgraf die fehlende Transparenz darüber, wer für welche Bereiche zu- ständig ist, wo welches Modell läuft und wie die einzelnen Projekte jemals zu einer bundesweiten Besserung der Diabetikerversorgung beitragen kön- nen. Offensichtlich „bastele“ jede Gruppe an eigenen Konzepten; es herrsche ein ungesundes Nebeneinan- der statt eines fruchtbaren Miteinan- ders, was mit ein Grund dafür ist, daß von den schon vor mehr als zehn Jah- ren formulierten Zielen der St.-Vin- cent-Deklaration bis auf den heutigen Tag keines umgesetzt wurde.
Dabei sind laut Landgraf alle not- wendigen Strukturen geschaffen wor- den, um die Diabetikerversorgung zu optimieren. Doch sie greifen nicht,
wie die rasant steigende Inzidenz und Prävalenz des Diabetes sowie seiner Folgeerkrankungen belegt. So erhal- ten nach Landgraf bestenfalls fünf Prozent der Diabetiker in Bayern eine strukturierte Schulung. Konkret be- deutet das, daß nur jeder 20. Patient intensiv lernt, mit der Erkrankung umzugehen und durch eine Änderung der Lebensweise, kombiniert mit ei- ner effektiven Therapie, Folgeschä- den vorzubeugen und so Herzinfarkt, Schlaganfall, Erblindung, Nierenver- sagen und Amputation zu verhindern.
Obwohl gut bekannt ist, wie sol- chen Folgen vorgebeugt werden kann, geschieht in praxi aber wenig. „Die vielen Einzelaktivitäten werden nicht zu einer flächendeckenden nationalen Aktion gebündelt, sondern verküm- mern regional“, so der Diabetologe.
Statt weitere Modellprojekte zu initi- ieren, wäre es sinnvoller, wenn die Krankenkassen sich einheitlich auf ei- nen Betreuungsstandard einigen, die- sen dann aber auch adäquat honorie-
ren. „Denn wir haben alle notwendi- gen Strukturen. Würden sie in die täg- liche Praxis integriert, so hätten wir in Deutschland die beste Diabetikerver- sorgung weltweit“, betonte Landgraf.
Migranten einbeziehen
Besser in die Diabetikerversor- gung einbezogen werden müssen auch die ausländischen Mitbürger, hieß es in Frankfurt. Derzeit leben rund 7,1 Mil- lionen Ausländer in Deutschland, un- ter denen ebenfalls eine steigende Inzi- denz der diabetischen Stoffwechsellage registriert wird. Denn die ökonomische Verbesserung hat nach Dr. Yasar Bil- gin, 1. Vorsitzender der Türkisch-Deut- schen Gesundheitsstiftung in Gießen, zur Folge, daß allgemeine Risikofakto- ren auch unter Migranten zunehmen.
Kardiovaskuläre Komplikationen tre- ten aber zum Beispiel bei türkischen Mitbürgern offensichtlich rund zehn Jahre früher auf als bei Deutschen. Daß
A-1702 (26) Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 25, 25. Juni 1999
P O L I T I K MEDIZINREPORT
Deutsche Diabetes-Gesellschaft
Modellprojekte müssen
bundesweit verankert werden
Erfolgreiche Einzelaktivitäten für die Betreuung von Diabetikern
werden nicht zu einer flächendeckenden nationalen Aktion gebündelt, sondern verkümmern regional.
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Die Kostenlawine durch Folgeerkrankungen rollt
Etwa vier Millionen Deutsche leiden an Diabetes mellitus, die Mehrzahl davon am Typ 2. Nimmt man die „Vorlaufstrecke“ des metabolischen Syndroms hinzu, so steigt die Zahl der Betroffenen hierzulande auf acht Millionen an.
Doch dies ist nur die Spitze des Eisberges. Denn nicht nur in Deutschland, welt- weit wird der Diabetes zu einem immer größer werdenden Problem. „Dabei machen die Kosten für den Diabetes in den USA bereits jetzt rund 18 Prozent der Ausgaben im Gesundheitssystem aus“, erklärte Prof. Reinhard Bretzel (Universität Gießen) als Präsident der diesjährigen Jahrestagung der Deut- schen Diabetes-Gesellschaft in Frankfurt. Sollte die Diabetikerbetreuung nicht verbessert werden, sehen die Experten eine ungeahnte Kostenlawine auf das Gesundheitssystem zurollen. Denn Folgeschäden wie kardiovaskuläre Erkran- kungen, Nephropathie, Retinopathie und die arterielle Verschlußkrankheit sind nach Bretzel „das zweite Gesicht des Diabetes“. CV
der Wechsel aus eher ärmlichen Ver- hältnissen in die Wohlstandsgesell- schaft mit gesundheitlichen Problemen verbunden sein kann, ist für Prof. Peter Bottermann (München) ein Phäno- men, dem bisher kaum nachgegangen wurde: „Wir können die Entwicklung von Risikofaktoren wie in einem Zeit- raffer beobachten“, so Bottermann.
Wenngleich der „Durchbruch“ in der Diabetestherapie noch nicht zu er- zielen war, gibt es doch offensichtlich einige Neuerungen. So zeigen neuere Studien, daß Diabetiker ein ebenso großes Risiko tragen, innerhalb der kommenden fünf Jahre ein fatales kar- diovaskuläres Ereignis zu erleben wie Menschen nach einem Herzinfarkt.
„Sie müssen folglich mit Blick auf das Herz genauso konsequent behandelt werden“, forderte Prof. Wilhelm Kro- ne (Köln). Konkret bedeutet dies, daß das LDL bei einem Diabetiker ebenso wie bei einem Infarktpatienten unter die kritische Marke von 100 mg/dl ge- senkt werden sollte. „Dies ist eine neue Richtschnur, die unbedingt beachtet werden muß“, so Krone.
Noch relativ neu ist auch die Er- kenntnis, daß, bezogen auf die Ent- wicklung einer Arteriosklerose, vor al- lem postprandiale Blutzuckerspitzen gefährlich sind. Denn es mehren sich die Hinweise, daß gerade Hyperglyk- ämien nach der Nahrungsaufnahme ei- ne Erhöhung des atherogenen Risikos bedingen.
Postprandiale Messung
Das geschieht offensichtlich schon im prädiabetischen Stadium, wie Frau Dr. Theodora Kurktschiev vom Uni- versitätsklinikum Dresden bei einem Symposium von Bayer Vital darlegte.
Die Medizinerin ist an der RIAD- Studie (Risk Factors in IGT for Ather- osclerosis and Diabetes) beteiligt und erhob schon bei der Rekrutie- rung der Teilnehmer überraschende Daten: So wiesen 15 Prozent der Pro- banden eine Glukosetoleranzstörung auf, 26 Prozent einen bis dato unbe- kannten Diabetes mellitus. Bei bei- den Gruppen ließ sich mittels hoch- auflösenden Ultraschalls eine deutli- che Intima-Media-Verdickung im Be- reich der Karotiden registrieren.
Gleichzeitig zeigte sich eine enge Kor-
relation mit einer postprandialen Hy- perglykämie, ein Ergebnis, das nach Meinung von Prof. Dietmar Sailer (Bad Neustadt) Konsequenzen haben sollte. So sollte der Blutzucker nach seiner Empfehlung
nicht nur nüchtern, sondern auch ein bis zwei Stunden nach der Nah- rungsaufnahme gemessen werden.
Zeigen sich Auffäl- ligkeiten, so sollte mit Acarbose behan- delt werden, da diese die enterale Gluko- seresorption verzö- gert und über diesen Weg den postpran- dialen Blutzucker senkt.
Eine Therapie- alternative ist der neue Wirkstoff Re- paglinide, welcher als prandialer Glu- koseregulator fun- giert. „Die Substanz stimuliert kurzfristig die Insulinsekretion und führt über eine
prandiale Insulinbereitstellung zur Absenkung der postprandialen Hyper- glykämie“, berichtete Dr. Klaus Peter Ratzmann (Erkern).
Unabhängig von der offensichtlich unterschätzten postprandialen Situati- on des Diabetikers wird immer deutli- cher, daß auch Typ-2-Diabetiker einer sehr strikten und möglichst normnahen Blutzuckerkontrolle bedürfen, ähnlich wie sie beim Typ-1-Diabetes bereits seit längerem angestrebt wird. Konkret be- deutet dies aber, daß im Fall des Falles nicht zu lange mit der Insulinbehand- lung gezögert werden sollte. Anderer- seits sollten alle Möglichkeiten der ora- len Therapie ausgeschöpft werden, wo- bei nach Prof. Eberhard Standl (Mün- chen) fast immer eine Kombinati- onstherapie erforderlich ist.
Hier bahnen sich neue Therapie- optionen an, denn mit dem Wirkstoff Rosiglitazon dürfte Anfang des kom- menden Jahres auch ein Insulinsensi- tizer auf dem deutschen Markt ver- fügbar werden. Rosiglitazon mindert nach Standl die periphere Insulinresi- stenz und greift somit beim Typ-2-
Diabetes quasi an der Wurzel des Übels an. Es wurden inzwischen rund 4 500 Patienten mit dem neuen Wirk- stoff im Rahmen von Studien behan- delt. Dabei zeigte sich eine gute blutzuckersenkende Wirksamkeit, die von einem deutlichen Abfall des HbA1-Wertes begleitet war. Schwere
Nebenwirkungen traten nicht auf, insbesondere keine Leberfunktions- störungen, wie sie unter Troglitazon, das deshalb in Deutschland keine Zu- lassung erhielt, bekannt geworden waren.
Verbesserungen zeichnen sich aber nicht nur bei den oralen An- tidiabetika ab, auch bei der Insu- lintherapie kommen die Diabetologen mittlerweile näher an den physiologi- schen Stoffwechsel heran. So steht mit Insulin lispro ein Wirkstoff zur Verfü- gung, der rasch wirksam wird und des- sen Wirkung nicht so lange anhält wie beim humanen Normalinsulin. Das hat laut Prof. Helmut Schatz vom Klini- kum Bergmannsheil der Universität Bochum ganz praktische Vorteile: Die Patienten brauchen keinen Eß-Spritz- Abstand mehr einzuhalten, sind also flexibler in ihrer Essensplanung. Auch sinkt durch die verbesserte Phar- makokinetik die Gefahr von Hypo- glykämien, und die Patienten werden in ihrer Tagesplanung noch freier, da die Insulinwirkung besser zeitlich zu kalkulieren ist. Christine Vetter A-1703
P O L I T I K MEDIZINREPORT
Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 25, 25. Juni 1999 (27)
Eine ausgefallene Öffentlichkeitskampagne hat kürzlich das Diabetes-For- schungsinstitut der Universität Düsseldorf durchgeführt. Bei der Aktion
„Diabetes im Circus“, in Kooperation mit dem Circus Renz, ließen sich mehr als 1 400 Zirkusbesucher ihren Blutzucker messen; bei etwa 120 Besuchern war bereits ein Diabetes bekannt. Elf Personen (0,85 Prozent) hingegen wa- ren überrascht, daß bei ihnen mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Diabetes dia- gnostiert wurde. Der höchste Glucosewert, der gemessen wurde, lag bei 350 mg/dl – ohne daß der Patient irgendwelche Symptome bemerkt hatte.
Foto: Bernhard Martin