A1292 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 104⏐⏐Heft 19⏐⏐11. Mai 2007
M E D I Z I N R E P O R T
was sich aber durch häufigere und längere Pausen kompensieren ließe.
Zur Prävention somatischer Erkran- kungen würden schon heute in den betriebsärztlichen Abteilungen mehr Check-ups gemacht als bei den nie- dergelassenen Ärzten. Bei der Audi AG, so Vorstandsmitglied Dr. Werner Widuckel, nähmen 95 Prozent der Beschäftigten an den im Vierjahres- rhythmus angebotenen betriebsärzt- lichen Untersuchungen teil. Zum einen sparten sie die Praxisgebühr, zum anderen träfen sie auf einen Arzt, der Zeit für ein längeres Ge- spräch hat. Widuckel beurteilt die hohe Teilnehmerquote grundsätz- lich positiv, sieht aber die Gefahr, dass Unternehmen dadurch Defizite im Gesundheitswesen ausgleichen.
Ein wichtiger Teil der Gesundheits- förderung gehe nicht zulasten der gesetzlichen Krankenkassen, son- dern der Betriebe. Die chronischen Krankheiten sind der Grund für den höheren Krankenstand der älteren Arbeitnehmer. Allerdings sind die über 50-Jährigen nicht häufiger, son- dern länger krank (Grafik).
Reaktionsfähigkeit und Flexibili- tät nähmen mit den Jahren ab, sagte Kraus. Diese altersgemäßen Verän- derungen könnten aber durch einen anderen Zuschnitt der Arbeit kom- pensiert werden. Besonnenheit, Ur- teilskraft, Zuverlässigkeit, Sorgfalt, Qualitätsbewusstsein, betriebsspe- zifisches Wissen und Loyalität näh- men dagegen zu und würden in den Unternehmen geschätzt. Intelli- genz, zielorientiertes Denken, Sys- temdenken, Kreativität, Koopera- tionsbereitschaft und Kommunika- tionsfähigkeiten blieben auch im höheren Lebensalter erhalten. „Des- halb sollte es keine Reservate oder Schonarbeitsplätze für ältere Arbeit- nehmer geben, sondern eine alters- entsprechende Differenzierung der Arbeit“, sagte Kraus. So gelte es, äl- tere Arbeitnehmer gezielt in Projek- te einzubinden, in denen ihre Stär- ken zum Tragen kommen und ihre Schwächen kompensiert werden.
Die Arbeitsmedizin könne dazu Modellprojekte entwickeln.
Wie wichtig die individuelle Be- trachtung der Verhältnisse ist, mach- te Kraus am sogenannten Work- Ability-Index, den Arbeitsfähigkeits-
oder Arbeitsbewältigungsindex, deut- lich. Dieser Wert wird per Frage- bogen erhoben und spiegelt die per- sönliche Einschätzung des Arbeits- nehmers zu seinen Fähigkeiten, sei- ner Gesundheit und seinen mentalen Ressourcen wider. Der Work-Abili- ty-Index geht mit dem Alter zurück, allerdings bei jedem Menschen in unterschiedlichem Maße.
Haben Politik und Arbeitsmedi- zin den demografischen Wandel verschlafen?, war eine provokante Frage in der Diskussion. Eindeutig nein, antwortete für die Politik Dr.
Richard Auernheimer, Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Sozia- les, Gesundheit, Familie und Frau- en des Landes Rheinland-Pfalz.
Die Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre sei ein Schritt in die richtige Richtung. Er räumte aller- dings ein, dass etwas für die Siche- rung der langfristigen Beschäfti- gungsfähigkeit getan und mit allen Beteiligten über neue Lebensar- beitszeitmodelle nachgedacht wer- den müsse.
Demografischen Wandel verschlafen
Die Sicht der Arbeitsmediziner war anders. Klaus Scheuch meinte, die wissenschaftliche Arbeitsme- dizin habe den demografischen Wandel sehr wohl verschlafen. So beginne sie sich erst allmählich mit der dringend notwendigen Indivi- dualisierung der Arbeitszeitgestal- tung auseinanderzusetzen. Daher gebe es bislang auch keine validen Methoden, um die Arbeitsfähigkeit aus medizinischer Sicht zu beur- teilen. Ohne eine vernünftige Dia- gnostik könne aber keine sinnvol- le Altersdifferenzierung der Arbeit erfolgen.
Manchmal gibt es gar keine Ar- beitsmediziner – ein Problem vor al- lem in Klein- und Kleinstbetrieben und weniger in großen und mittleren Unternehmen. Dabei habe, wie Pan- ter betonte, jeder Arbeitnehmer das Recht auf arbeitsmedizinische Bera- tung. Eine Antwort auf die Frage, wie die Arbeitnehmer kleinerer Be- triebe künftig besser zu ihrem Recht kommen könnten, mussten die Prota- gonisten schuldig bleiben. I Dr. rer. nat. Hildegard Kaulen
PNEUMONIE
Bundesweit uneinheitliche Therapie
In der antibiotischen Behandlung von ambulant erworbenen Pneumo- nien bestehen große regionale Un- terschiede. Die Variabilität zeigte sich in einer Untersuchung des In- stituts für Sozialmedizin der Uni- versität Lübeck, an der neun klini- sche Zentren beteiligt waren. Ge- prüft wurden die Daten von 3 221 Patienten im Alter von 18 bis 102 Jahren (Durchschnittsalter 63,9 Jah- re). Die Ergebnisse aus Lübeck offenbaren darüber hinaus, dass die Antibiose keineswegs immer den gültigen Therapieleitlinien folgt.
Bedeutsam sei dabei vor allem der unkritische Einsatz von Wirkstoffen mit Breitbandspektrum. „Derart po- tente Antibiotika sollten nicht als erste Wahl eingesetzt, sondern zu- rückgehalten werden, um sich keine Chancen zu verbauen“, rät Studien- leiter Prof. Dr. med. Torsten Schäfer.
Bereits jetzt seien 40 Prozent aller Pneumokokken resistent. Problema- tisch sei zudem, dass die ursächlichen Keime nur in 30 bis 50 Prozent der Fälle entdeckt würden.
Die Gründe für die regionalen Un- terschiede in der antibiotischen Be- handlung sind nach Aussage Schä- fers nicht nur auf soziodemografi- sche oder klinische Faktoren zurück- zuführen. Die Ursachen seien auch in örtlich unterschiedlichen Behand- lungsempfehlungen und individuel- len Erfahrungen der behandelnden Ärzte zu suchen. Auch die regionalen Marketingpraktiken der pharmazeu- tischen Industrie könnten einen Ein- fluss haben.
Um die Versorgung der Patienten mit ambulant erworbenen Pneumo- nien zu verbessern, muss sich die Therapie stärker an den Empfehlun- gen der aktuellen Leitlinien orientie- ren. Dieses Ziel verfolgt ein von der Bundesärztekammer unterstütztes und vom Kompetenznetz „Erworbe- ne Pneumonien“ (CAPNETZ) durch- geführtes Projekt zur Einführung der
S3-Leitlinie. zyl