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Archiv "Zwangsbehandlungen bei psychisch Kranken: Fixieren statt behandeln?" (03.02.2012)

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ZWANGSBEHANDLUNGEN BEI PSYCHISCH KRANKEN

Fixieren statt behandeln?

In der klinischen Praxis besteht derzeit erhebliche Rechtsunsicherheit, ob Zwangsbehandlungen an einwilligungsunfähigen Patienten mit psychischen Erkrankungen durchgeführt werden dürfen. Die Autoren fordern dringend eine Klärung der komplexen Rechtslage.

Sabine Müller, Henrik Walter, Andreas Heinz

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erzeit besteht erhebliche Rechtsunsicherheit, ob Ärz- te Zwangsbehandlungen an einwil- ligungsunfähigen Patienten mit psychischen Erkrankungen durch- führen dürfen. Der Hintergrund die- ser Entwicklung ist erstens das Pa- tientenverfügungsgesetz im neuen Betreuungsrecht. Zweitens spielt die Ratifizierung der UN-Konventi- on über die Rechte von Menschen mit Behinderungen eine Rolle (1).

Maßgeblich sind drittens aktuelle Entscheidungen des Bundesverfas- sungsgerichts, die das Maßregel- vollzugsgesetz von Rheinland- Pfalz sowie das Unterbringungsge- setz von Baden-Württemberg in Teilen für verfassungswidrig er- klärt haben (2, 3).

Die aktuellen Gerichtsurteile, die Uneinheitlichkeit und Inkonsistenz der Maßregel- beziehungsweise Un-

terbringungsgesetze der Bundeslän- der führen in der klinischen Pra- xis zur Verunsicherung. Ärzte sehen sich häufig gezwungen, wieder ver- stärkt auf Zwangsmaßnahmen wie Isolierung und Fixierung zurückzu- greifen. Dies dient jedoch weder dem Patientenwohl noch dem Re - spekt der Patientenautonomie. Zu- dem kann eine solch defensive Pra- xis Ärzte in rechtliche Konflikte bringen, etwa wenn der Verzicht auf Behandlung die Gesundheit eines Patienten nachhaltig und schwer schädigt.

Gründe gegen und für Zwangsbehandlungen

Bei einwilligungsfähigen Patienten ist grundsätzlich jede Behand- lung ohne deren Einverständ- nis oder gegen deren Willen verboten. Gegen medizi-

nisch indizierte Behandlungen von einwilligungsunfähigen Patienten mit psychischen Erkrankungen oh- ne oder gegen deren natürlichen Willen spricht das Prinzip des Re - spekts vor der Autonomie des Pa- tienten. Medizinische Zwangsbe- handlungen sind schwerwiegende Eingriffe in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (2).

Manche Psychopharmaka können schwerwiegende Nebenwirkungen haben. Zwangsbehandlungen kön- nen das Vertrauen zu Ärzten schwer beschädigen und da- durch langfristig jede Art von Therapie erschweren.

Charité – Universitätsmedizin Berlin: Dr. phil.

Dipl.-Phys. Müller, Prof. Dr. med.

Dr. phil. Walter, Prof. Dr. med. Heinz

A 198

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Ein Patient mit einem Parkinson-Syndrom erleidet eine akute dopamininduzierte Psychose unter der dopami n - ergen Medikation. Im Rahmen der Psychose zündet er sein Bett an, um, wie er selbst äußert, „die Fischernetze am Strand zu verbrennen“. Der Patient ist nicht krank- heitseinsichtig und wehrt sich gegen die Behandlung. Ei- ne Behandlung mit Neuroleptika wäre hier direkt kausal wirksam und würde die psychosebedingte tiefgreifende Veränderung der Persönlichkeit, die durch die dopamin - erge Medikation überhaupt erst erzeugt wurde, heilen.

Denn Neuroleptika blockieren dopaminerge D2-Rezepto- ren und wirken damit dem ärztlich verabreichten Pharmakon mit dopaminerger Wirkung entgegen.

Das Problem: Das Bundesverfassungsgericht hat Zwangsbehandlungen mit Neuroleptika „als besonders schwerwiegende Grundrechtseingriffe“ bewertet. Psy- chopharmaka seien „auf die Veränderung seelischer Ab- läufe gerichtet“; ihre Verabreichung gegen den natürli- chen Willen des Betroffenen berühre daher „in besonde- rem Maße den Kern der Persönlichkeit“ (2).

Diese pauschale Einschätzung halten wir hier für unzu- treffend, da Neuroleptika helfen können, die krankheitsbe- dingt oder substanzinduziert veränderte Persönlichkeit eines Patienten wiederherzustellen. So ist in Fällen einer substanzinduzierten Psychose – gleich, ob der Patient versehentlich, absichtlich oder auf ärztlichen Rat die ent- sprechenden Stoffe konsumiert hat – die Persönlichkeit durch die Substanz vorübergehend oder dauerhaft verän- dert worden. Neuroleptika wirken bei dopamininduzierter Psychose wie ein Antidot gegen Schlangengift. So, wie wir die aktuelle Rechtslage verstehen, dürften Ärzte einen sol- chen Patienten nur bei akuter Selbstgefährdung (bei- spielsweise unter Verweis auf die gestörte Flüssigkeitszu- fuhr) gegen seinen Willen behandeln. Anderenfalls müss- ten sie ihn in der Psychose belassen. Aufgrund der Fremd- gefährdung müssten sie ihn isolieren und fixieren oder gar in Polizeigewahrsam verbringen. Beides halten wir für in- human und mit dem ärztlichen Ethos unvereinbar.

FALLBEISPIEL 1

Häufig sind Zwangsbehandlungen nicht langfristig erfolgreich im Sinne des Schutzes vor Selbst- und Fremd- gefährdung. Durch eine personen- zentrierte und möglichst offene Be- handlungsweise können Zwangs- maßnahmen oft vermieden werden (4). Wir plädieren entschieden für eine solche Vorgehensweise, die al- lerdings ausreichend Personal er- fordert (5). Im Folgenden geht es um Patienten, bei denen trotz einer solchen Vorgehensweise aufgrund ihrer Krankheit eine akute oder chronische Gefahr für Leben und Gesundheit besteht.

Für medizinisch indizierte Be- handlungen von einwilligungsun- fähigen Patienten mit psychischen Erkrankungen ohne oder gegen deren Willen spricht in Einzel - fällen das Fürsorgeprinzip. Mögli- che rechtfertigende Gründe sind der Schutz vor Selbstverletzung und Suizid, die Verhinderung ei- ner Chronifizierung psychischer Krankheiten sowie das Ziel, die krankheitsbedingt gestörte Fähig- keit zur Selbstbestimmung und das psychische Wohlbefinden wieder- herzustellen.

Zwangsbehandlungen mit Psy- chopharmaka dienen gerade auch dazu, zum Beispiel den psychoti- schen Zustand akut zu verbessern und so Fixierungen oder Bewe- gungsbeschränkungen zu vermei- den. Diese sind unseres Erachtens inhumaner, da sie eine monate- oder jahrelange Zwangsanwen- dung erfordern und zur Verschlim-

durch den Betreuer veranlasste Zwangsbehandlungen nur zulässig, wenn die freie Willensbestimmung des Betroffenen bezüglich der be- absichtigten Behandlung aufgeho- ben ist und die Behandlung dem Schutz des Lebens oder der Abwehr schwerer irreversibler Gesundheits- gefahren dient (7).

Bei Unterbringung nach Unter- bringungs- beziehungsweise Maßre- gelvollzugsgesetz sind in den meis- ten Bundesländern Zwangsbehand- lungen entweder unter der Voraus- setzung der Unaufschiebbarkeit ei- ner Behandlungsmaßnahme oder der gegenwärtigen Gefahr einer erhebli- chen Schädigung der Gesundheit oder des Lebens des Patienten er- laubt (7). Grundsätzlich können aber durch eine zu beachtende Patienten- verfügung selbst lebensnotwendige Behandlungen unterbunden werden.

Zwangsbehandlung bei Fremdge- fährdung – Das Bundesverfas- sungsgericht hat am 23. März 2011 (2) entschieden, dass bei einem im Maßregelvollzug Untergebrachten eine Zwangsbehandlung nicht er- laubt ist, um den Schutz Dritter vor künftigen Straftaten des Unterge- brachten im Fall seiner Entlassung zu gewährleisten. Dieser Schutz kön- ne auch dadurch gewährleistet wer- den, dass der Betreffende unbehan- delt im Maßregelvollzug verbleibt.

In Niedersachsen ist im Maßre- gelvollzug keine Zwangsbehandlung zum Schutz von Dritten erlaubt. So hat vor kurzem das Oberlandesge- richt Celle festgestellt, dass das Maßregelvollzugsgesetz von Nie- dersachsen keine Zwangsbehand- lung zur Abwehr von Gefahren für Leib und Gesundheit von Mitpa - tienten oder Pflegepersonal erlaubt (OLG Celle, 1. Strafsenat, 1Ws 233/11, 3. August 2011). Martin Koller, Richter am Landgericht Nie- dersachsen, hat hierzu angemerkt, dass nach diesem Beschluss ein Un- tergebrachter bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung solange fixiert be- ziehungsweise isoliert werden müs- se, bis dies in eine akute Verschlech- terung seines Gesundheitszustandes oder in akute Lebensgefahr mün- de; dann erst dürfe er interkurrent zwangsbehandelt werden (8).

merung anderer Krankheiten, zu Verletzungen und lebensbedrohli- chen Zuständen des Patienten und Dritter führen können.

Die aktuelle Rechtslage Zwangsbehandlung bei Selbstge- fährdung – Eingriffe, die bei le- bensbedrohlicher Gesundheitsge- fährdung nicht auf zuschieben sind, sind nach § 34 Strafgesetzbuch (rechtfertigender Notstand) grund- sätzlich auch ohne Aufklärung und Einwilligung legitimiert (6).

Bei Unterbringung nach bundes- rechtlichem Betreuungsrecht sind

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A 200 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 109

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Heft 5

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3. Februar 2012 Dagegen erlaubt in Rheinland-

Pfalz das Maßregelvollzugsgesetz Behandlungen ohne Einwilligung des untergebrachten Patienten, wenn Gefahr für die Gesundheit anderer Personen von ihm ausgeht (MVollzG Rheinland-Pfalz, § 6 Abs. 1 Satz 1).

Das Justizministerium von Ba- den-Württemberg hat nach dem Bun- desverfassungsgerichtsurteil, in dem das Unterbringungsgesetz des Lan- des in Teilen für nichtig erklärt wor- den war, eine vorläufige Vorgehens- weise angeordnet (9): Danach ist Zwangsmedikation, sofern diese der Bewältigung einer akuten Krisensi- tuation mit Selbst- oder Fremdge- fährdung dient, unter engen Voraus- setzungen ohne Einwilligung zuläs- sig. Allerdings hat das Amtsgericht (AG) Nürtingen festgestellt, dass psychisch Kranke, die krankheitsbe- dingt für sich oder andere gefährlich sind, nur noch untergebracht, aber nicht zwangsbehandelt werden dür- fen (AG Nürtingen, 10. November 2011, 11 XIV 80/11). Das Amtsge- richt bedauert, dass dadurch „die Un- terbringung sich in einer bloßen Ver- wahrung des Betroffenen erschöp- fen“ werde und rät dringend zur Ein- richtung einer Betreuung, um dann eine Unterbringung mit richterlicher Genehmigung herbeiführen zu kön- nen. Doch es ist fraglich, inwiefern das Betreuungsrecht Zwangsbehand-

lungen legitimieren kann – jedenfalls nicht zur Abwehr von Gefahren für Dritte (7).

Zwangsbehandlung für interkur- rente Erkrankungen – Nach An- sicht von Koller sind bei Einwilli- gungsunfähigen Behandlungen nach

§ 101 Strafvollzugsgesetz nur als Akutbehandlung zulässig, wenn der Untergebrachte krankheitsbedingt einsichtsunfähig ist, die Behandlung der Wiederherstellung der durch die interkurrente Erkrankung bedrohten Gesundheit beziehungsweise der Ge- sundheit Dritter dient und der Nutzen die Risiken deutlich überwiegt (8).

Rechtsanwalt Rolf Marschner, Min- den, hingegen sagt, dass bei Einwilli- gungsunfähigen Behandlungen sons- tiger Erkrankungen durch die Einwil- ligung des gesetzlichen Vertreters er- möglicht werden können, sofern der Patient dies nicht für den Fall rechts- verbindlich ausgeschlossen hat (7).

Dann wären auch lebensnotwendige Behandlungen untersagt, beispiels- weise eines letal verlaufenden Delirs.

Zwangsbehandlung zur Errei- chung des Unterbringungsziels – Das Bundesverfassungsgericht hat Zwangsbehandlungen zur Errei- chung des Vollzugsziels im Maßre- gelvollzug nicht grundsätzlich ver- boten: Zur Rechtfertigung solcher

Eingriffe könne das grundrecht- lich geschützte Freiheitsinteresse des Untergebrachten selbst geeignet sein, sofern dieser infolge krank- heitsbedingter Einsichtsunfähigkeit nicht in der Lage ist, dieses wahrzu- nehmen. Denn die grundrechtlich geschützte „Freiheit zur Krankheit“

könne nicht losgelöst von den tatsächlichen Möglichkeiten einer freien Willensentschließung betrach- tet werden, die krankheitsbedingt eingeschränkt sein können (2). Für die Verabreichung von Neurolepti- ka gelten besonders strenge Maß - stäbe, da sie ein Risiko schwerer, ir- reversibler und lebensbedrohlicher Nebenwirkungen enthalten und

„auf die Veränderung seelischer Abläufe gerichtet“ seien und den

„Kern der Persönlichkeit“ berühr- ten (2). Eine Zwangsbehandlung ist allerdings immer unzulässig, wenn der Untergebrachte bereits vor sei- ner Erkrankung verfügt hat, nicht behandelt zu werden (10).

Wir befürchten, dass die beschrie- benen Entwicklungen für einen er- heblichen Personenkreis letztlich zu einer „Verwahrpsychiatrie“ führen.

Das Wegschließen und gegebenen- falls Isolieren und Fixieren von Pa- tienten anstelle einer Behandlung wäre eine Rückkehr zu einer inhu- manen Behandlung, die zur Exazer- bation des psychischen Leidens und zu vermehrter Gewaltanwendung führt. Psychiatrische Kliniken sind aber Teil eines Krankenhauses und nicht einer gefängnisartigen Unter- bringung. Freiheitsentzug in der Kli- nik ohne Therapie halten wir für un- ethisch, unärztlich und letztlich ver- fassungswidrig.

Die Bundesverfassungsgerichts - urteile zum Maßregelvollzugsgesetz und zum Unterbringungsgesetz kön- nen zu einer Verschiebung von selbst- und fremdgefährdenden Patienten zum Betreuungsrecht führen mit der ungewollten und negativen Folge, dass es längerfristige Einschränkun- gen ihrer Rechte geben kann. Außer- dem könnten die aktuellen Urteile be- wirken, dass die Unterschiede zwi- schen Maßregelvollzug und Allge- meinpsychiatrie verwischt werden.

Bestimmte Formen von Zwangs- behandlungen von nicht einwilli- gungsfähigen, psychisch kranken Pa- Ein Patient mit einer akuten schizophrenen Psy-

chose greift eine Ärztin an und schlägt ihr mit den Fäusten so stark ins Gesicht, dass sie einen Na- senbeinbruch mit komplizierten Frakturen erleidet.

Der Patient gibt im Nachhinein an, dass er „böse Geister“ in andere Menschen hineinfahren sah und mit den Schlägen nicht gegen die Ärztin als Per- son, sondern als Manifestation dieser bedrohlichen Geister vorgegangen sei. Im Rahmen der neurolep- tischen Zwangsmedikation ist die Psychose kom- plett rückläufig, und der Patient bedauert die Tat.

Das Problem: In Rheinland-Pfalz und eventuell auch in Baden-Württemberg wäre eine Zwangsme- dikation erlaubt. Dagegen hätte man in Niedersach- sen diesen Patienten nicht gegen seinen Willen medikamentös behandeln dürfen, sondern hätte ihn isolieren und eventuell fixieren müssen. Wäre das Krankenhaus dazu räumlich oder personell

nicht ausreichend ausgestattet, hätte der Patient aufgrund der Fremdgefährdung in Polizeigewahr- sam verbracht werden müssen.

Wir halten es für eine Missachtung der Men- schenwürde und ihres verfassungsrechtlich ge- botenen Schutzes, eine Person mit akuter Psy- chose wegen Fremdgefährdung zu isolieren oder zu fixieren, aber nicht neuroleptisch zu behan- deln. Denn durch Neuroleptika lässt sich die durch die akute Psychose verursachte Persön- lichkeitsveränderung in der Regel erfolgreich be- handeln. Neuroleptika wirken der Überfunktion des dopaminergen Systems entgegen, die bei schizophrenen Psychosen gut belegt ist (10, 11, 12, 13). Dagegen beraubt eine Fixierung ohne kausale Therapie einen Menschen seiner Freiheit ohne Aussicht, in kurzer Zeit eine Rückbildung der psychotischen Symptomatik zu erzielen.

FALLBEISPIEL 2

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tienten sollten nach unserer Auffas- sung bei strenger Prüfung der Ver- hältnismäßigkeit erlaubt sein, zum Beispiel zur Abwehr von akuter Selbstgefährdung und bei erheblicher Fremdgefährdung im Rahmen der (psychotischen) Erkrankung, sofern diese nicht in einer zu beachtenden Patientenverfügung ausdrücklich un- tersagt worden sind. Insbesondere sollte die Verabreichung von Beruhi- gungsmitteln zur Behandlung akuter Erregungszustände erlaubt sein, un- ter Umständen auch von bestimmten Antipsychotika (bei Psychosen) oder Medikamenten gegen ein Delir (zum Beispiel Clomethiazol, Benzodiaze- pine), wenn diese auf eine (kurzfristi- ge) Herstellung der Autonomie (Ein- willigungsfähigkeit) des Betroffenen abzielen. Diese Zwangsbehandlun- gen müssen dann grundsätzlich ge- richtlich genehmigt werden (außer bei akuter Gefahr). Um Entscheidun- gen über längerfristige Behandlun- gen zu treffen, könnte ein klinisches Ethikkomitee vermittelnd wirken, um einen Konsens zu erreichen.

Zwangsmedikation darf in einer modernen Therapie nur als Ultima Ratio unter strikten Bedingungen eingesetzt werden. Das Ziel ist stets, mit dem Patienten ein therapeuti- sches Bündnis zu erreichen und ihn aktiv in die Auswahl der Psychothe- rapie und/oder Pharmakotherapie einzubeziehen. In manchen Krank- heitszuständen ist die Autonomie des Patienten aber durch die Erkrankung gefährdet und der „natürliche Wille“

(der aktuell geäußerte Wille) kann dem tatsächlichen Willen des Patien- ten, der auch auf längerfristige Ziele ausgerichtet ist, entgegengesetzt sein.

Eine geeignete Therapie kann die Autonomie wiederherstellen. Daher gebietet gerade der Respekt vor der Patientenautonomie in bestimmten Fällen eine kurzzeitige Behandlung gegen den natürlichen Willen.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2012; 109(5): A 198–202

Anschrift für die Verfasser Dr. phil. Dipl.-Phys. Sabine Müller

Charité – Universitätsmedizin Berlin, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie, Charitéplatz 1, 10117 Berlin, mueller.sabine@charite.de

@

Literatur im Internet:

www.aerzteblatt.de/lit0512

ETHIKBERATUNG IN DER HOCHLEISTUNGSMEDIZIN

Ein Beitrag zur

Patientenzufriedenheit

Das Universitätsklinikum Heidelberg hat seine Ethik beratung auf vier Säulen neu aufgestellt. Unter anderem berät ein unabhängiger externer Beirat den Klinikumsvorstand bei schwierigen Fragen.

U

m bei komplizierten Entschei- dungsfindungen im Span- nungsfeld zwischen Hochleistungs- medizin und dem Diktat der Wirt- schaftlichkeit, dem Patientenwillen und dem ärztlichen Handeln eine ethische Beratung auf allen Ebe- nen zu gewährleisten, wurden am Universitätsklinikum in Heidelberg neue Strukturen für die Ethikbera- tung geschaffen. „Die Hochleis- tungsmedizin an einem Universi- tätsklinikum braucht ein ethisches Fundament und gut funktionierende Strukturen für die Beratung im kli- nischen Alltag“, begründete Prof.

Dr. med. J. Rüdiger Siewert, Lei- tender Ärztlicher Direktor am Hei- delberger Universitätsklinikum, kurz vor seinem Wechsel in derselben Funktion an das Universitätsklini- kum in Freiburg die Neuordnung.

Anlass dazu war ein konkreter Fall, mit dem sich der Klinikumsvor- stand zu beschäftigen hatte.

Es ging Siewert zufolge um ein nicht lebensfähiges Frühgeborenes – stark untergewichtig mit einer Lun- genaplasie und weiteren schwerwie- genden Komplikationen – dessen El- tern entgegen dem Rat der behan- delnden Neonatologen darauf be- standen hatten, das Kind weiter am Leben zu erhalten. Die verzweifelten Eltern gingen bis zum Klinikums- vorstand und an die Öffentlichkeit.

In dieser schwierigen ethischen Si- tuation habe Siewert eine Gruppe von Experten vermisst, die ihm bera- tend zur Seite gestanden hätte.

Ein neu geschaffener externer Ethikbeirat für Krisenfälle Er wandte sich an den Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin, Prof. Dr. med. Wolf- gang Eckart, mit der Bitte, die Ethik- beratung am Heidelberger Uniklini- kum neu aufzustellen. Sie basiert auf vier Säulen. Ein neu geschaffener Sollen Ärzte

ein nicht le- bensfähiges Frühchen auf Wunsch der El-

tern am Leben erhalten? Ein Thema für die Ethikberatung

Foto: dpa

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A 5 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 109

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Heft 5

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3. Februar 2012

LITERATURVERZEICHNISS HEFT 5/2012, ZU:

ZWANGSBEHANDLUNG BEI PSYCHISCH KRANKEN

Fixieren statt behandeln?

In der klinischen Praxis besteht derzeit erhebliche Rechtsunsicherheit, ob Zwangsbehandlun- gen an einwilligungsunfähigen Patienten mit psychischen Erkrankungen durchgeführt werden dürfen. Die Autoren fordern dringend eine Klärung der komplexen Rechtslage.

Sabine Müller, Andreas Heinz, Henrik Walter

LITERATUR

1. Gesetz zu dem Übereinkommen der Ver- einten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behin- derungen (UN-BRK) sowie zu dem Fakul- tativprotokoll vom 13. Dezember 2006 zum Übereinkommen der Vereinten Natio- nen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, vom 21. Dezember 2008, Bundesgesetzblatt Jahrgang 2008 Teil II Nr. 35, ausgegeben zu Bonn am 31. De- zember 2008.

2. Bundesverfassungsgericht: Beschluss 2 BvR 882/09 vom 23.03.2011 (Urteil zum Maßregelvollzugsgesetz von Rhein- land-Pfalz).

3. Bundesverfassungsgericht: Beschluss 2 BvR 633/11 vom 12.10.2011 (Urteil zum Unterbringungsgesetz von Baden- Württemberg).

4. Lang UE, Hartmann S, Schulz-Hartmann S et al.: Do locked doors in psychiatric hos- pitals prevent patients from absconding?

Eur J Psychiat 2010; 24(4): 199–204.

5. Lang UE, Heinz A: Wie viel kostet eine of- fene Akutpsychiatrie? Psychiat Prax 2010;

37(8): 411–2.

6. Kropp S, Bleich S, Thiel K et al.: Rechtliche Voraussetzungen vor medizinischen Ein- griffen bei psychiatrisch behandlungsbe- dürftigen Patienten. Dtsch Med Wschr 2001; 126: 507–10.

7. Marschner R: Aktuelles zur Zwangsbe- handlung – in welchen Grenzen ist sie noch möglich? Recht & Psychiatrie 2011;

29: 160–7.

8. Koller M: Zwangsbehandlung nach dem Beschluss des BVerfG vom 23.03.2011.

Vortrag, Wunstorf, 8.11.2011.

9. Justizministerium von Baden-Württem- berg, Brief an die psychiatrischen Zentren (20.10.2011).

10. Abi-Dargham A, Rodenhiser J, Printz D et al.: Increased baseline occupancy of D2 receptors by dopamine in schizophrenia.

Proc Natl Acad Sci U S A. 2000 Jul 5;

97(14): 8104–9.

11. Agid O, Mamo D, Ginovart N et al.: Striatal vs extrastriatal dopamine D2 receptors in antipsychotic response––A double-blind PET study in schizophrenia. Neuropsycho- pharmacology 2007; 32: 1209–15.

12. Kegeles LS, Abi-Dargham A, Frankle WG et al.: Increased synaptic dopamine function in associative regions of the stria- tum in schizophrenia. Arch Gen Psychiatry Mar 2010; 67(3): 231–9.

13. Kumakura Y, Cumming P, Vernaleken I et al.: Elevated [18F] fluorodopamine turno- ver in brain of patients with schizophrenia:

an [18F] fluorodopa/positron emission to- mography study. J Neurosci 2007 Jul 25;

27(30): 8080–7.

Referenzen

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