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Archiv "Mythos vom gewalttätigen psychisch Kranken entkräftet" (20.08.1999)

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sychisch krank und somatisch krank ist für den gesunden Normalbürger noch immer zweierlei. Aber auch beim Hausarzt werden psychische Störungen häufig ignoriert oder bagatellisiert. Dabei sind die Neurowissenschaften die me- dizinischen Fächer mit dem größten Wissenszuwachs in den letzten Jah- ren; ihre Behandlungserfolge bei psy- chischen Störungen können sich sehr wohl mit denen bei somatischen Er- krankungen messen.

Doch es klafft eine Lücke zwi- schen dem potentiell Machbaren und der Realität. Das war der einstimmige Tenor der Experten beim Workshop

„Psychiatrie auf der Schwelle zum nächsten Jahrtausend“, zu dem Prof.

Dr. med. Dieter Naber in die psychia- trische Universitätsklinik Hamburg- Eppendorf eingeladen hatte.

Hohe Schwellenangst

Zur Realität im klinischen Alltag liegen eine Reihe von Daten vor. Bei DEPRES (Depression Patient Re- search in European Society) handelt es sich um eine vor Jahren durchge-

führte repräsentative Erhebung an rund 80 000 Bürgern verschiedener europäischer Länder. Unter anderem kam heraus, daß in Deutschland nur weniger als ein Fünftel der depressi- ven Patienten unter einer Medikation mit einem Antidepressivum standen.

In einer anderen Untersuchung bei Hausärzten lagen die Verordnungsra- ten für Antidepressiva nur bei elf Prozent und für eine systematische Psychotherapie unter fünf Prozent.

Die Gründe für diese massive Unterversorgung liegen wahrschein- lich in dem ungünstigen Zusammen- treffen von Unkenntnis und Vorur- teilen bei der Allgemeinbevölkerung und Versäumnissen in der nicht- psychiatrischen Praxis. Psychische Störungen werden von den Betroffe- nen häufig gar nicht mit Krankheit as- soziiert, lange verdrängt oder scham- haft verschwiegen. Denn auch das ergab DEPRES: Europaweit hatten nur knapp 70 Prozent der behand- lungsbedürftigen Personen ärztliche Hilfe gesucht – obwohl in etwa der Hälfte der Fälle die richtungweisen- den Symptome bereits länger als zwei Jahre bestanden hatten.

Höher noch als die Schwelle, sich ihrem Hausarzt zu offenbaren, ist die Barriere, einen Psychiater zu kontak- tieren, der häufig immer noch als „Ir- renarzt“ eingeschätzt wird. Aber auch Hausärzte meiden den Kontakt mit dem Psychiater. Eine Überweisungs- notwendigkeit werde von Allgemein-

A-2070 (22) Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 33, 20. August 1999

P O L I T I K MEDIZINREPORT

Psychisch Kranke

Von Gesunden stigmatisiert –

von Ärzten zum Teil vernachlässigt

Workshop „Psychiatrie auf der Schwelle zum nächsten Jahrtausend“ in Hamburg beklagt Mängel bei der Betreuung psychisch kranker Patienten.

P

Die Stigmatisierung und Diskriminierung psychisch Kranker in der Allgemeinbevölkerung hängt auch mit der Vorstellung zusammen, daß diese Menschen unberechenbar und gewalttätig sind. Genährt werden diese Vorurteile unter anderem durch tendenziöse Berichte in den Medien. Beispie- le aus der Vergangenheit sind die Attentate auf die Politiker Lafontaine und Schäuble. Eine Dokumentation und Analyse aller Gewalttaten psychisch Kranker zwischen den Jahren 1956 und 1965 durch Prof. Dr. med. Heinz Häfner (Mann- heim) und Mitarbeiter ergab keinen wesentlichen Unter-

schied zur geschlechts- und alterskorrelierten Allgemeinbe- völkerung. Innerhalb der Gruppe psychisch Kranker war das Gewaltpotential bei paranoiden Schizophrenen am höch- sten und bei den affektiv Erkrankten am niedrigsten. Opfer waren in rund 80 Prozent der Fälle Familienmitglieder und Intimpartner und in zweiter Linie Personen mit hohem öf- fentlichen Ansehen wie Politiker, aber auch Ärzte und Rich- ter. Begünstigende Faktoren waren aggressives Verhalten vor Krankheitsausbruch, Alkoholmißbrauch während der Krank- heit, Abbruch oder Fehlen einer Behandlung. bl-ki

„Das andere Ich“ malten mehrere Patienten der Ta- gesklinik für Sozialpsychiatrie am Universitätsklini- kum Benjamin Franklin in Berlin.

Mythos vom gewalttätigen psychisch Kranken entkräftet

© Tagesklinik der Abteilung für Sozialpsychiatrie, Nov. 1998

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ärzten in Deutschland nur in einem Prozent der Fälle gesehen, zitierte Prof. Dr. med. Josef B. Aldenhoff (Kiel) Daten aus der von der WHO initiierten „Allgemeinarztstudie“.

Aldenhoff nimmt an, daß in der Hausarztpraxis psychische Störun- gen vielfach gar nicht erkannt wer- den. Diagnostische und therapeuti- sche Kompetenz der Allgemeinärzte würde aber dringend gebraucht, er- gänzte Prof. Dr. med. Mathias Berger (Freiburg), um als „Filter“ zum einen den Teil von Patienten mit leichten Depressionen oder Angststörungen, der nicht einer spezifischen ner- venärztlichen und psychotherapeuti- schen Behandlung bedarf, selbst ad- äquat zu betreuen und zum anderen innerhalb eines Netzwerks die schwe- rergradig Erkrankten zum Facharzt zu überweisen.

Doch nicht nur Hausärzte sind nicht auf dem neuesten Wissensstand, sondern auch ein Teil der Fachärzte, hieß es auf dem Workshop. Anhand der Verordungszahlen lasse sich deut- lich erkennen, daß an alten Verord- nungsgewohnheiten festgehalten wird und moderne, zwar nicht besser wirk- same, aber besser verträgliche Thera- peutika sich nur schleppend im kli- nischen Alltag durchsetzen, machte Prof. Dr. med. Jürgen Fritze (Pul- heim) auf das Manko aufmerksam.

Verzögerter Fortschritt

Dabei sei inzwischen durch zahlreiche Studien eindeutig wissen- schaftlich belegt, daß beispielsweise die selektiven Serotonin-Wiederauf- nahmehemmer oder die sogenannten atypischen Neuroleptika die langfri- stige Prognose der Patienten deutlich verbesserten. Darüber hinaus könn- ten Folgekosten eingespart werden, so daß es sich auch volkswirtschaftlich rechne.

Eine wesentliche Aufgabe in der Grundversorgung besteht auch darin, betroffenen Patienten und ihren An- gehörigen, aber auch den (noch) psychisch Gesunden ein realistisches Bild zu den Behandlungsmöglichkei- ten zu vermitteln. In einer von Prof.

Dr. med. Otto Benkert (Mainz) initi- ierten repräsentativen Befragung re- duzierte sich die Einschätzung psychi-

scher Erkrankungen auf die beiden Extremgruppen „Wahnsinn“ und „Be- findlichkeitsstörung“. Dementspre- chend wurden auch Psychopharmaka – meist mit Beruhigungsmitteln gleich- gesetzt – vorrangig akzeptiert bei Wahnsymptomen und als Schutz der Allgemeinheit. Für seelische Erkran- kungen werden sie als „süchtigma- chend“ und „wesensverändernd“ weit- gehend abgelehnt. Für sinnvoller wer- den Psychotherapie, Entspannungs- übungen, Naturheilverfahren oder al- ternative Methoden angesehen.

Die Präferenz des Normalbür- gers für die Psychotherapie entspricht einer tiefsitzenden dualistischen Vor- stellung. Seele und Leib werden noch immer als etwas Getrenntes angese- hen. Das habe sich auch in der Berufs- politik widergespiegelt – biologische Psychiater und analytische Psychiater hätten sich lange Zeit nicht besonders gemocht, konstatierte Berger. Dies sei heute vorbei und dokumentiere sich auch darin, daß es seit 1992 nur Ärzte für Psychiatrie und Psychotherapie gebe.

Daß die beiden klassischen Be- handlungsmethoden Psychopharma- ka und Psychotherapie eng miteinan- der verzahnt sind, ist wissenschaftlich schon lange belegt. Besonders bei schweren Störungen reiche es keines-

falls aus, nur die neurobiologische Im- balance zu korrigieren oder nur die zwischenmenschlichen/sozialen Kor- relate, sondern man müsse multimo- dal vorgehen, betonte Berger. Wenn ein Patient Medikamente nicht akzep- tiert, sollte man ihn auch darauf hin- weisen, welche Chance er vergibt: Die Medikamentenwirkung tritt bereits nach vier bis sechs Wochen ein, der Effekt einer Psychotherapie dagegen erst nach etwa vier Monaten.

Spezialisierung anstreben

Für unerläßlich hält Berger eine Spezialisierung der Psychotherapeu- ten. Damit meinte er nicht hinsichtlich der Methode (Psychotherapie-Schu- len hält er für relativ unsinnig), son- dern in Hinblick auf die psychische Störung. Ein Arzt für Psychotherapie sollte seiner Meinung nach die Kom- petenz erwerben, eines oder verschie- dene der Hauptstörungsbilder wie Angst, Depression, Schizophrenie, Eßstörung, posttraumatisches Streß- syndrom, Abhängigkeitserkrankun- gen spezifisch behandeln zu können, und dabei die notwendigen Bausteine der anerkannten Verfahren – Verhal- tenstherapie und Tiefenpsychologie – nutzen. Gabriele Blaeser-Kiel A-2071

P O L I T I K

Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 33, 20. August 1999 (23) MEDIZINREPORT

Suizidgefährdete fallen durch das Gesundheitsnetz

Ein noch immer unterschätztes Problem in der Gesundheitsversorgung ist die Suizidalität. Es sterben wahrscheinlich mehr Menschen durch eigene Hand als bei einem Verkehrsunfall. Nach WHO-Schätzungen liegt die Zahl der jährlichen Suizide weltweit bei einer Million. Dazu kommen noch etwa zehn bis 20 Millionen Suizidversuche. Das Risiko ist über alle Altersstufen verteilt. Eine Umfrage bei rund 10 000 Jugendlichen in der Schweiz ergab, daß bei etwa einem Viertel Sui- zidgedanken und bei 15 Prozent konkrete Pläne bestanden. Drei Prozent hatten bereits einen konkreten Versuch gemacht. Das Risiko steigt mit dem Alter. Aus- löser sind neben Lebenskrisen und Alkoholmißbrauch vor allem – nicht oder un- zureichend behandelte – psychische Erkrankungen.

Man muß nach Ansicht von Prof. Dr. med. Josef B. Aldenhoff (Kiel) davon ausgehen, daß die diagnostischen und therapeutischen Fortschritte in der Psychia- trie suizidgefährdete Personen nur zum Teil erreichen. Darüber täuscht auch der seit etwa 20 Jahren in den alten und neuen Bundesländern gleichermaßen zu be- obachtende Abwärtstrend der Suizidzahlen in Deutschland nicht hinweg. Als ein interessantes Phänomen bezeichnete es Prof. Dr. med. Heinz Häfner (Mann- heim), daß heute in Deutschland steigende Arbeitslosigkeit im Gegensatz zur Zeit zwischen den beiden Weltkriegen nicht mehr mit einer Zunahme des Suizidrisikos assoziiert ist wie beispielsweise in Ländern, in denen der Verlust des Arbeitsplat- zes existentielle Not für die Familien bedeutet. Ein funktionierendes Sozialsystem stellt demnach einen ganz wesentlichen Präventionsfaktor dar. bl-ki

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