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Archiv "Soziale Psychiatrie: Die wilden Wendejahre sind vorbei" (21.11.2008)

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Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 105⏐⏐Heft 47⏐⏐21. November 2008 A2517

T H E M E N D E R Z E I T

M

it einem Hinweis auf die wildbewegte Jahrestagung 1993 hatte die Deutsche Gesell- schaft für soziale Psychiatrie in diesem Jahr wiederum nach Leip- zig gelockt. Tatsächlich hatte die Bürgerbewegung, die 1989/90 zur politischen Wende führte, auch die Psychiatrie erfasst. Patienten ent- ließen sich selbst, organisierten sich, wurden im Neuen Forum ak- tiv und machten die Lage der Psy- chiatrie zur öffentlichen Angele- genheit. Leipzig war nicht nur ein Zentrum der politischen friedli- chen Revolution, sondern auch die- ses Aus- und Aufbruchs der Psy- chiatrie, kulminierend in einem Tag der Sozialpsychiatrie am 18.

August 1990 auf dem Markt in Leipzig, ausgerichtet von Initiativ-

gruppen Betroffener. 1993 mün- dete der Aufbruch mit dem Säch- sischen Landespsychiatrieplan in geregelte Bahnen.

Immerhin hatten bis dahin die regionale Presse die klägliche Unter- bringung der Patienten in den psy- chiatrischen Anstalten thematisiert und das Bundesgesundheitsministe- rium 1991 einen Bericht zur Lage der Psychiatrie in der ehemaligen DDR vorgelegt. Darin wurden – durchaus im Einklang mit der Bür- gerbewegung – wohnortnahe Ver- sorgung, betreutes Wohnen und die Auflösung der Großanstalten ge- fordert.

Einige wenige Initiativen haben in Leipzig bis heute überlebt, etwa das Wohnprojekt „Das Boot“ oder der Verein „Durchblick“, der unter SOZIALE PSYCHIATRIE

Die wilden Wendejahre sind vorbei

. . . und der Alltag ist zurückgekehrt. Die Deutsche Gesellschaft für soziale Psychiatrie warb in Leipzig für ein selbstbestimmtes Leben der Patienten. Eine Ausstellung erinnert an den Aufbruch in der Psychiatrie Ostdeutschlands zwischen 1989 und 1992.

SOZIALE PSYCHIATRIE

Die Deutsche Gesellschaft für soziale Psychiatrie (Zeltinger Straße 9, 50969 Köln) entstammt der 68er-Bewegung und wurde 1970 gegründet. 1992 kam die (ostdeutsche) Ge- sellschaft für kommunale Psychiatrie hinzu.

Die Gesellschaft zählt nach eigenen Angaben 2 300 Mitglieder, darunter Ärzte/Ärztinnen (16 Prozent), Psycho- log(inn)en (10), Sozialarbeiter(innen) (17), Sozialpädago- g(inn)en (14), Krankenpflegekräfte (12). Vorsitzender ist der Psychologe Friedrich Walburg (Stuttgart); dem Vor- stand gehört, so Walburg, stets ein Psychiatrieerfahrener an. Bei der Leipziger Tagung registrierte der Veranstalter 250 Teilnehmer.

Weitere Informationen im Internet unter: www.

psychiatrie.de

Hier ist auch eine aktuelle Auseinandersetzung zu Neu- roleptika mit dem Arbeitskreis „Biologische Psychiatrie“

der Bundesdirektorenkonferenz psychiatrischer Kranken- häuser in Deutschland zu finden.

Das Plakatmotiv (Ausschnitt) entstand 1989/90 als Gemein- schaftsarbeit ehema- liger Psychiatriepati- enten in „Rosis Zir- kel“ im Kulturhaus Arthur Hoffmann. Die Künstlerin Rosi Haa- se hatte seit Mitte der 80er-Jahre unter anderem auf einer geschlossenen Stati- on in Leipzig-Dösen mit Patienten gear- beitet.

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anderem ein Psychiatriemuseum be- treibt. Das erinnert derzeit in einer Ausstellung an die wilden Wende- jahre. Einer der Initiatoren des Pro- jekts „Das Boot“, der heute als Kin- der- und Jugendlichenpsychothera- peut arbeitet, resümiert dort: „Ich glaube, die ‚Träume‘ der Wendezeit sind den Weg alles Irdischen gegan- gen, sie sind gestorben mit der zu- nehmenden Anpassung der Akteure an die Realität.“

Die Deutsche Gesellschaft für soziale Psychiatrie versucht indes, Realität und alte Ideale miteinander zu verbinden, und vertrat auf ihrer Jahrestagung vom 2. bis 4. Oktober unverdrossen und getreu dem eman- zipatorischen Ansatz der 68er-Be- wegung, der sie entstammt, das Konzept des selbstbestimmten Le- bens der Menschen mit psychiatri- scher Erfahrung. In einem Presse- gespräch wurden dazu zwei Ansätze besonders betont:

1. die kritische Einstellung zu Neuroleptika, ein Thema, das auch beim Leipziger Aufbruch 1989/90 die Gemüter bewegte. Der Psychia- ter Dr. Volkmar Aderhold (Greifs- wald) verwies auf die vielfach noch unterschätzten Nebenwirkungen (metabolisches Syndrom, Diabetes, kardiovaskuläre Schäden). Außer-

dem stört überzeugte Vertreter der Sozialpsychiatrie an Neuroleptika, dass sie die Aktivierung der Patien- ten und deren Selbstbehauptung be- einträchtigen. Zu Neuroleptika will die Gesellschaft im Februar 2009 in Frankfurt am Main einen Kongress ausrichten, auch soll voraussichtlich im Juni 2009 in Berlin eine Politi- ker-Anhörung stattfinden.

2. die Emanzipation des Patien- ten im Sinne des Recovery-Kon- zepts, in Leipzig vertreten durch die Wiener Psychiaterin Prof. Dr.

Michaela Amering. Dem Patienten

müsse die Hoffnung, gesunden zu können, vermittelt werden. Ame- ring wandte sich folglich gegen pro- gnostischen Negativismus. Sie setz- te sich für eine partnerschaftliche Begegnung zwischen Arzt und Pati- ent, ausgedrückt in Behandlungsver- einbarungen, ein. Psychisch Kranke seien immer noch stigmatisiert und würden gesellschaftlich ausgegrenzt, vermerkte Amering. Doch werde sich die Einstellung der Gesell- schaft ändern, sobald diese erkenne, dass auch Demenzkranke zu dem betroffenen Personenkreis gehörten.

Die Psychologin Prof. Dr. Beate Mitzscherlich (Leipzig) bedauerte, dass in der Psychatrie zu viel in Ge- bäude und Geräte und zu wenig in Personen investiert werde. Viele Einrichtungen seien auf Praktikan- ten angewiesen, um den Betrieb aufrechterhalten zu können. Die Kostenträger, so Mitzscherlich zu- gespitzt, gingen davon aus, dass die Einrichtungen am besten funktio- nierten, wenn die Patienten chroni- fiziert würden; richtig aber wäre es, zu belohnen, wenn die Patienten zur Gesundheit geführt würden.

Die Referentin erkannte aber auch an, dass sich Leipzig ein gut aus- gebautes Netz psychiatrischer Ver- sorgung leiste, in dem mehr als tau- send Menschen arbeiteten. Keiner falle durch das Netz, so Mitzscher- lich im Leipziger Stadtmagazin, auch nicht die schwierigsten Patien- ten, „die keiner mehr haben oder auch nur behandeln will“. n Norbert Jachertz

PSYCHIATRIE IN DER WENDE

Das Sächsische Psychiatriemuseum (Mainzer Straße 7, 04109 Leipzig), getragen von der In- itiative Psychiatrie-Betroffener „Durchblick“, zeigt bis zum 15. Januar 2009 die Ausstellung

„Psychiatrie in der Wende“. Thematisiert werden der Aufbruch 1989/90, aber auch frühe Reform- ansätze der DDR-Psychiatrie (Rodewischer The- sen 1963, „Leipziger Modell“).

Dokumentiert werden auch Vorwürfe des po- litischen Missbrauchs der Psychiatrie, so eine Artikelserie des „Stern“. Die Zeitschrift hatte 1990 das Krankenhaus für Psychiatrie in Wald- heim (nicht zu verwechseln mit dem hier nicht

betroffenen Krankenhaus der dortigen Justiz- vollzugsanstalt!) als Stasifolterklinik gekenn- zeichnet. Eine daraufhin eingesetzte Untersu- chungskommission der Sächsischen Landesre- gierung hatte zwar, bis auf einen Fall, keinen Psychiatriemissbrauch feststellen können, wohl aber Übergriffe des Personals und Verfehlungen des ärztlichen Leiters. Die Klinik wurde 1991 geschlossen.

Informationen: www.psychiatriemuseum.de Ausführlich zu Waldheim: Sonja Süß: Politisch mißbraucht? Psychiatrie und Staatssicherheit in der DDR. Berlin 1998

Der Tag der Leipzi- ger Sozialpsychia- trie fand am 18. Au- gust 1990 auf dem Leipziger Markt statt.

Erstmals konnte sich in der DDR die Psy- chiatrie in der Öffent- lichkeit vorstellen.

Fotos:Sächsisches Psychiatriemuseum

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