Deutsches ÄrzteblattJg. 104Heft 497. Dezember 2007 A3377
P O L I T I K
N
icht nur der Bundesgesund- heitssurvey belegt hohe Prä- valenzraten für psychische Erkran- kungen: In Deutschland erkranken 40 Prozent der Bevölkerung min- destens einmal im Leben daran; in- nerhalb eines Jahres jeder Dritte.Entsprechend angestiegen ist die Zahl der Frühberentungen. Handelt es sich dabei um eine reale Zunah- me psychisch Kranker, oder ist die Zunahme bedingt durch eine besse- re Diagnostik oder ein verändertes Inanspruchnahmeverhalten?
„Kritiker halten die hohen Präva- lenzzahlen für das Ergebnis unange- messen sensibler Diagnostikinstru- mente, sprechen sogar von erfunde- nen Krankheiten“, erläuterte Prof.
Dr. med. Mathias Berger, Freiburg, am Rande der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychia- trie, Psychotherapie und Nerven- heilkunde (DGPPN), die vom 21.
bis 24. November in Berlin statt- fand. Berger hält eine solche Kritik für den Ausdruck der noch immer stattfindenden Stigmatisierung see- lischer Erkrankungen: „Niemand hat Zweifel an 30 Prozent Hyperto- nikern in der Bevölkerung.“ Grund- sätzlich müssten die Diagnosesyste- me für psychische Erkrankungen je- doch überprüft werden, auch im Hinblick auf neue Phänomene wie beispielsweise die Computersucht.
„Die Frage ist, wie man Computer- sucht erfasst und operationalisiert“, so Berger. Neue Phänomene werde es immer geben, was nicht bedeute, dass Krankheiten erfunden würden:
„Auch Bulimie und posttraumati- sche Belastungsstörungen wurden erst nach und nach als Krankheits- bilder etabliert.“
„Psychiatrie als diagnostische Disziplin“ war ein Schwerpunktthe- ma der mit mehr als 7 000 Teilneh- mern und 530 Einzelveranstaltun-
gen inzwischen als „Kongress der Superlative“ bezeichneten Tagung.
Anlass dafür sind die Vorarbeiten internationaler Expertenkommis- sionen zur elften Revision der Inter- nationalen Krankheitsklassifikation (ICD-11) sowie zur fünften Revisi- on des „Diagnostic and Statistical Manual“ (DSM-V). Diese Systeme seien sehr zuverlässig, international gut vergleichbar und nützlich für Therapieentscheidungen, fasste Prof. Dr. med. Wolfgang Gaebel, Präsident der DGPPN, zusammen.
„Die Abstrahierung ist gut, verstärkt sollten aber auch persönliche Erfah- rungen bei der Diagnose berück- sichtigt werden“, forderte Gaebel mit Hinweis auch auf die Meinung internationaler Experten. Die grund-
sätzliche Frage sei zudem, ob die Neurowissenschaften, insbesondere die Genetik, schon derart gesicherte Erkenntnisse zur Verfügung stellen könnten, um eine darauf basieren- de neue Klassifikation psychischer Störungen zu ermöglichen.
Der DGPPN-Präsident sieht die Aufgaben der Psychiater künftig auch verstärkt in der Gesellschaft- diagnostik und damit verbunden in der „Politikberatung“. Aufgrund der Bedeutung psychischer Erkran- kungen für Gesellschaft und Volks- wirtschaft müssten politische Ent- scheidungsträger über „die Natur, Häufigkeit und Behandelbarkeit psychischer Störungen“ informiert werden. Konkrete Konzepte gibt es jedoch noch nicht. Gaebel bezeich- nete diese Aufgabe als „work in progress“.
Keine Anhaltspunkte dafür, dass psychische Erkrankungen tatsäch- lich zunehmen, hat Prof. Dr. Wielant Machleidt, Hannover, gefunden.
„Die Inanspruchnahme nimmt je- doch zu.“ Als Ursache sieht er unter anderem die verstärkte Berichter- stattung über psychische Erkran- kungen in den Medien. Die Schwel- le sei niedriger geworden. Die Frage nach der Zunahme müsse nach spe- zifischen Krankheitsbildern diffe- renziert werden, erläuterte Mach- leidt, „und auch im Hinblick auf Mi- granten“. So werde die Prävalenz der Schizophrenie weltweit als sta- bil eingeschätzt, mit einem typi- schen Stadt-Land-Gefälle. Bei Mi- granten der ersten Generation sei die Schizophrenierate etwa so hoch wie
bei Einheimischen in Städten. Bei der zweiten Generation sei sie je- doch inzwischen doppelt so hoch, am höchsten (4,6-fach) bei Migran- ten mit dunkler Hautfarbe. „Je dunk- ler die Hautfarbe, desto höher das Psychoserisiko“, berichtete Mach- leidt. Verantwortlich gemacht wer- den dafür Migrationsstress, geringe soziale Entfaltungsmöglichkeiten und Rassismus. Bei Migranten gebe es zudem viele Hinweise darauf, dass sie häufiger an Depressionen, Angsterkrankungen und somatofor- men Störungen litten. Da viele bei seelischen Konflikten eine „körper- liche Metaphorik“ wählten, stelle es für Ärzte eine besondere Herausfor- derung dar, hinter Kopf-, Bauch- oder Brustschmerzen die psychische Qualität der Störung zu erkennen.n Petra Bühring