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Archiv "Die psychisch Kranken tragen den Schaden: Anmerkungen zu einem „Spiegel“-Artikel" (17.04.1980)

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Telefon: (0 22 34) 70 11-1

Fernschreiber: 8 89 168 daev d Herausgeber: Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung

Der Direktor der Psychiatri- schen Klinik der Universität Düsseldorf analysiert die Titelgeschichte des „Spie- gel" über die Psychiatrie und erhebt den Vorwurf, daß die für diesen Artikel Verantwortlichen verant- wortungslos psychisch Kranke verunsichern, ja sie in schwere Gefahr bringen.

Die psychisch Kranken tragen den Schaden

Anmerkungen zu einem „Spiegel"-Artikel

Kurt Heinrich

Die Zeitschrift „Der Spiegel" hat in ihrer Ausgabe Nr. 12 vom 17. März 1980 ohne Zweifel den Gipfel antipsychiatrischer Ressenti- mentäußerungen und allerdings auch gleichzeitig den Tiefpunkt einer irrationalen, einseitigen, nicht an der Fülle der differenzierten Fakten orientierten Meinungsbeeinflussung erreicht. Durch die Überschrift auf dem Titelblatt der Zeitschrift „Pillen in der Psych- iatrie — Der sanfte Mord" soll offensichtlich eine Kreuzzugsstim- mung gegen Psychiater und Psychiatrie erzeugt werden. Durch die Artikelüberschrift im Inneren der Zeitschrift „Psycho-Drogen: ins Nichts gerissen" wird mit Hilfe der sattsam bekannten Taktik griffi- ger Formulierungen als Beweisersatz durch die Wiedergabe der Äußerung einer psychisch Kranken ohne Kenntnis der krankheitsbe- dingten Hintergründe und Begleitumstände der Eindruck erweckt, daß Psychopharmaka eben nichts anderes bewirken, als die ihnen wehrlos durch skrupellose Psychiater ausgelieferten Patienten „ins Nichts zu reißen". Beim Leser sollen wohl Affekte der Angst, des Abscheus und des Mißtrauens gegenüber der Psychiatrie erzeugt werden. Dabei wird grundsätzlich die kausale Reihenfolge bei der Entstehung psychischer Schäden verkehrt: Nicht psychische Krank- heit erzeugt seelische Dauerschäden, sondern erst die medikamen- töse psychiatrische Behandlung macht aus einer „einst intelligenten Wahnkranken ein fahriges, moribundes Wrack". Die psychische Erkrankung, vor allem wird hierunter die Schizophrenie verstanden, wird so in unangemessener Weise verharmlost, die Therapie wird in ungeheuerlicher Weise als „Mord" denunziert.

Laut „Spiegel" bewirkt die Anwendung neuroleptischer Substanzen einen „Zustand stiller Ergebenheit". Dies kann tatsächlich so sein, ohne daß eine derartige Verhaltensweise vom Therapeuten als erstrebenswertes Behandlungsziel angesehen wird. Nicht erwähnt wird in dem Artikel die in sehr vielen Fällen als befreiend erlebte Wirkung der Neuroleptika, das Verschwinden von Halluzinationen und Wahnphänomenen wird vom Kranken begrüßt. Das Aussetzen quälender Verfolgungserlebnisse, die Wiederfindung einer norma- len Umweltkommunikationsweise sind tausendfach realisierte Wir- kungsaspekte der Neuroleptika, die unbedingt auch von den Journa-

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listen des „Spiegel" beschrieben werden müßten, wenn es ihnen um die objektive Erfassung der Ef- fekte der neuroleptischen Thera- pie ginge. Die „Pharma-Behand- lung" mit einer chemischen Miß- handlung, mit einer Verurteilung zu einem leidvollen seelischen und physischen Krüppeldasein gleichzusetzen, zeugt entweder von einem ungenügenden Wissen um die psychiatrischen Fakten oder von der Tendenz, alle Befun- de auszublenden, die für die mit grandioser Einseitigkeit in den An- klagezustand versetzte Psychiatrie und ihre Behandlungsmethoden sprechen könnten.

Es ist nicht zuletzt auf die moder- ne Pharmakotherapie zurückzu- führen, daß viele psychisch Kran- ke außerhalb der psychiatrischen Kliniken ambulant behandelt wer- den können, daß ihre Fähigkeit.

mit der Umwelt in nicht krank- heitsbehinderte Verbindung zu treten, verbessert oder erst wie- derhergestellt werden konnte und daß die mit Recht von den Psych- iatern geforderten sozialpsychia- trischen komplementären Einrich- tungen überhaupt arbeiten kön- nen. Die Verweildauern in den psychiatrischen Großkrankenhäu- sern konnten mit Hilfe der Psycho- pharmaka erheblich gesenkt wer- den, die Zahl der Betten wurde reduziert, aus den riesigen Klini- ken sind wesentlich besser über- schaubare kleinere Einheiten ge- worden. Dieser Prozeß ist noch immer im Gange, er wurde ge- fördert durch die Psychiatrie- Enquete, die im wesentlichen von Psychiatern durchgeführt wurde Es läßt sich an vielen weiteren Bei- spielen dartun, daß die Psychiater auch schon zu einer Zeit, als dies in den Medien, nicht zuletzt auch im „Spiegel", noch nicht fash- ionable war, die Verbesserung der Situation der psychisch Kranken gefordert haben. Mehrere Ärzteta- ge haben sich mit diesem Problem befaßt, die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheil- kunde hat sich früh zu Wort ge- meldet, ebenso der Arbeitskreis der Leiter öffentlicher psychiatri-

scher Krankenhäuser. Dem „Spie- gel" paßt dies nicht ins Konzept.

also wird dies auch in der „Mord"- Ausgabe nicht erwähnt.

Wie das Geständnis eines Ange- klagten wird die ärztliche Feststel- lung behandelt, daß die medika- mentösen Behandlungsmethoden durch Begleitwirkungen und Kom- plikationen belastet sind. Der

„Spiegel" ignoriert die in der ge- samten Medizin gültige Tatsache.

daß alle wirksamen Medikamente Begleitwirkungen haben, die lä- stig oder gefährlich sein können.

In dem blinden Eifer, die psychia- trische Pharmakotherapie zu de- nunzieren, werden ihre Erfolge als noch immer niederschmetternd kläglich bezeichnet.

Die gleichen Probleme wie bei der Therapie somatischer Krankheiten Nun ist in jeder ernstzunehmen- den wissenschaftlichen Abhand- lung über pharmakopsychiatri- sche Behandlungsmethoden bei psychotischen Erkrankungen zu lesen, daß die Behandlungsresul- tate noch verbessert werden müs- sen, daß die Begleitwirkungsrate gesenkt werden muß und daß neue, noch bessere Präparate ent- wickelt werden müssen. Die psychiatrische Kritik der medika- mentösen Behandlungsverfahren spielt sich nicht in konspirativen geheimen Zirkeln ab, sondern ist jedem Interessierten zugänglich.

Es verhält sich mit ihr wie mit den wissenschaftlichen Erörterungen in bezug auf andere medizinische Therapieverfahren, deren Wirk- samkeit ebenfalls als noch nicht ausreichend angesehen wird: Die Behandlung bösartiger Tumoren die Verhütung und Therapie rheu- matischer oder kardiovaskulärer Erkrankungen werfen grundsätz- lich die gleichen Probleme auf wie die psychiatrische Pharmakothe- rapie. Die Proportionen werden verzerrt, wenn nicht entsprechend den Grundsätzen einer sachlicher Würdigung der Tatsachen auf die

notwendigerweise noch festzu- stellende Unvollkommenheit auch anderer Behandlungsverfahren außerhalb der Psychiatrie einge- gangen wird. Eine solche einseiti- ge Kritik schädigt die Interessen der psychisch Kranken und stürzt sie und ihre Angehörigen in eine unberechtigte Hoffnungslosigkeit.

Wenn Psychopharmaka wirklich nur „ins Nichts" reißen würden, wären die Erfolge der antidepres- siven Therapie nicht zu erklären.

Die Artikelschreiber des „Spiegel"

gehen mit keinem Wort auf die Tatsache ein, daß viele depressive Menschen heute aufgrund der pharmakopsychiatrischen Fort- schritte nicht einmal mehr in die Klinik aufgenommen werden müs- sen, daß es gelingt, sie ambulant erfolgreich zu behandeln. Die durch antidepressive Pharmaka erreichte Suizidverhinderung ist dem „Spiegel" nicht einmal einen Halbsatz wert.

Die kritisierte „Drehtür-Psychia- trie" hat sicher ihre negativen Aspekte, es muß jedoch auch be- achtet werden, daß sie zur Folge hat, daß psychisch Kranke insge- samt weniger Zeit in der psychia- trischen Klinik verbringen als vor der pharmakopsychiatrischen Ära.

Kein Psychiater bestreitet, daß die Pharmakotherapie ergänzt wer- den muß durch psychotherapeuti- sche und sozialpsychiatrische Maßnahmen, die die Auswirkun- gen der „Drehtür-Psychiatrie" ver- ringern sollen. Es paßt ins Bild vom naiv-pharmagläubigen Psychiater, das der „Spiegel" für sich und an- dere entwirft, daß das „Pharma- Wunder" eine „Täuschung" sein soll. In der Psychiatrie hat es ein Pharma-Wunder nie gegeben. Me- thoden, Erfolge und Mißerfolge der medikamentösen Behand- lungsverfahren sind immer kri- tisch gewürdigt worden.

Die Fachleute waren immer davon überzeugt und haben diese Über- zeugung auch durch entsprechen- de Statistiken bewiesen, daß die neuroleptischen und thymolepti- schen Behandlungsmethoden kei- ne Panazeen darstellen. Auch

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durch Pharmakopsychiatrie und Psychopharmakologie sind die Rätsel der Entstehung der endo- genen Psychosen nicht gelöst worden, diesen irritierenden Sach- verhalt teilt die Psychiatrie mit an- deren medizinischen Disziplinen.

z. B. im Hinblick auf die Entste- hung von Karzinomen, Hyperto- nie, Gefäßerkrankungen und Erb- schäden.

Es gehört zu den in dem Artikel verwendeten Techniken, die eige- ne vorgefaßte Meinung durch wis- senschaftliche Zitate scheinbar zu erhärten, wenn die Untersu- chungsergebnisse von Angst und Dinkelkamp angeführt werden, nach denen die Langzeitprognose schizophrener Erkrankungen in der pharmakopsychiatrischen Ära gegenüber früher nicht wesentlich gebessert werden konnte. Abgese- hen von entgegengesetzten Fest- stellungen (G. Huber; auch Erfah- rungen in der Düsseldorfer Klinik) ist dieses Zitat aus dem Zusam- menhang gerissen. Die zitieren- den Artikelschreiber lassen vor al- lem auch außer acht, daß es in einem Schizophrenieverlauf von 20 oder 30 Jahren nicht ohne Be- deutung ist, ob infolge einer kon- sequenten neuroleptischen Thera- pie die Krankenhausaufenthalts- dauer insgesamt verringert wer- den konnte. Ist es dem „Spiegel' gleichgültig, ob ein Patient 20 Jah- re im psychiatrischen Landeskran- kenhaus leben muß oder insge- samt nur 2 Jahre, letzteres aller- dings um den Preis wiederholter Aufnahmen und Entlassungen?

Haben die „Spiegel"-Autoren Kranke nach ihren eigenen An- sichten über diese Zusammenhän- ge befragt? Offenbar nicht, die tat- sächliche oder gespielte anti- psychiatrische Besessenheit hat eine derartige Würdigung der Ge- gebenheiten nicht zugelassen.

Es ist auch nicht zu ersehen, wie die Verteufelung der Psychophar- maka als „Gruselmedikamente"

verantwortet werden kann. Bei der Beschreibung eines Schreckens- kabinetts der Psychopharmaka- Begleitwirkungen wird der Ein-

druck erweckt, als ob alle Patien- ten an den aufgeführten Nebenef- fekten litten („So leiden die Pa- tienten an ...") In schlimmer Wei- se falsch ist die Behauptung des

„Spiegel", daß Neuroleptika ein Krankheitsbild erzeugten, das mit dem „unheilbaren" Parkinsonis- mus identisch sei. Die Parkinson- sche Erkrankung nimmt, wie jeder Medizinstudent lernt, einen völlig anderen, eigengesetzlichen Ver- lauf; das „Parkinsonoid", das durch neuroleptische Medikamen- te erzeugt werden kann, nicht je- doch in jedem Fall hervorgerufen wird, klingt wieder ab, wenn die neuroleptische Medikation redu- ziert oder abgesetzt wird. Vollends auf das psychiatrische Glatteis be- gibt sich „Der Spiegel", wenn er die Auffassung von Choinard und Jones übernimmt, daß Neurolepti- ka Wahnkrankheiten verursach- ten. Diese Behauptung ist unbe- wiesen, sie paßt jedoch in die Leit- linie und wird deshalb gerne auf- gegriffen.

„Drehtür-Psychiatrie" — Depotpräparate

sind der Ausweg

Der „hartnäckige Widerstand vie- ler Patienten gegen den täglichen Tablettenschub" wird von den Psychiatriekennern des „Spiegel'>

auf die verheerenden Wirkungen der Neuroleptika und Thymolepti- ka zurückgeführt. Unerwähnt bleibt, daß zum Beispiel sehr viele schizophrene Kranke keine Krank- heitseinsicht haben, ihren Zustand nicht als behandlungsbedürftig ansehen und deshalb auch keine Medikamente nehmen wollen. Wer glaubt, daß ihn ein Geheimdienst verfolgt, daß er ständig durch Agenten beobachtet wird und daß überirdische Mächte seine Gedan- ken lenken, wird eine ärztliche me- dikamentöse Behandlung nicht als erfolgreich ansehen können.

Auch dies weiß jeder, der sich mit den Problemen ernsthaft und ob- jektiv befaßt, im „Spiegel" wird es verschwiegen. Nach der Remis- sion schizophrener Schübe wis-

sen es vor allem die ehemaligen Kranken selbst.

Alle ernsthaften Sachkenner be- grüßen die kritische und differen- zierte Anwendung von Depotneu- roleptika, die es ermöglicht, viele schizophrene Patienten ambulant zu behandeln. Die Erfolgsrate der Neurolepsie konnte gerade durch Depotneuroleptika erheblich er- höht werden, die tägliche Einnah- me von Tabletten entfällt in vielen Fällen, die Stetigkeit der Wirkung ist besser garantiert. Wer die .,Drehtür-Psychiatrie" kritisiert, müßte über die Möglichkeiten der Depotneurolepsie eigentlich er- freut sein, viele Untersuchungen zeigten, daß die Notwendigkeit häufiger Wiederaufnahmen durch die depotneuroleptische Behand- lung verringert wird. Der „Spie- gel" gibt vor, auch dies nicht zu wissen, jedenfalls erwähnt er es nicht. Dafür betont er jedoch ein .,hohes Risiko tödlicher Zwischen- fälle" bei der medikamentösen psychiatrischen Behandlung. Für diese Behauptung und für die wei- tere, daß offenbar häufig Todesfäl- le vorkommen, die der psychiatri- schen Pharmakotherapie zur Last zu legen sind, wird der Beweis schuldig geblieben. Es gibt ihn auch nicht. Jedem einschlägigen Lehrbuch ist zu entnehmen, daß zwar auch mit Komplikationen ge- rechnet werden muß und daß die- se Möglichkeit den Arzt zu ständi- ger Vorsicht veranlaßt, ohne daß die Feststellung gerechtfertigt wä- re, daß die neuroleptische oder thymoleptische Pharmakotherapie grundsätzlich mit einer hohen töd- lichen Komplikationsrate belastet wäre. Als Beispiel kann die gefähr- liche Agranulozytose angeführt werden, die äußerst selten ist.

Angesichts der vom „Spiegel" dia- gnostizierten „desolaten Verfas- sung der Schulpsychiatrie" nimmt es nicht wunder, daß „die Dokto- ren" keine wirksame Alternative zur Drogentherapie gefunden ha- ben. Die erheblichen psychothera- peutischen und soziotherapeuti- schen Anstrengungen werden hierbei außer acht gelassen. In

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dieser hämischen Anklage wird die Psychiatrie dafür haftbar ge- macht, daß sie trotz weltweiter be- ständiger Anstrengungen das Rätsel der sogenannten endoge- nen Psychosen noch nicht lösen konnte. Daß die Ätiologie anderer.

noch wesentlich häufigerer und gefährlicherer Erkrankungen wie Krebs und Herzinfarkt ebenfalls noch nicht aufgeklärt werden konnte, bleibt offenbar absichtlich unerwähnt. Das Rezept ist relativ einfach: Man erhebt einen absolu- ten Anspruch, dem die anderen trotz aller Bemühungen nicht ge- recht werden können, daraus kon- struiert man dann die Berechtigt- heit der moralischen Verurteilung.

Im Arsenal der Vorwürfe können selbstverständlich auch die Ankla- gen gegen „das kompromittierend enge Bündnis von Psychiatrie und Ordnungsmächten" nicht fehlen.

Von jeher findet sich die Psychia- trie zwei gleichsam klassischen Standardvorwürfen ausgesetzt:

Entweder beschuldigt man sie, den ihr übertragenen Schutz der Öffentlichkeit vor gefährlichen Geisteskranken zu vernachlässi- gen, oder sie wird kritisiert, weil sie angeblich Gesunde fahrlässig oder gar absichtlich in psychiatri- schen Kliniken gegen ihren Willen festhält und eine verdächtige Nei- gung bekundet, den verlängerten Arm der Polizei und Justiz zu spielen.

Die Antipsychiatrie hat sich immer schon viel darauf zugute gehalten.

die Psychiatrie als ein inhumanes Herrschaftsinstrument im Dienst einer freiheitzerstörenden Gesell- schaft entlarvt zu haben. Der ernsthaft das Dilemma seines Faches bedenkende kritische Psychiater weiß, daß sich die Psychiatrie aus dem von vornher- ein gegebenen Verdacht auf uner- laubten Zwang angesichts binden- der gesetzlicher Vorschriften ge- genüber einer auf Erweiterung von Freiheitsräumen und totale Emanzipation eingeschworenen veröffentlichten Meinung kaum befreien kann. Von allen medizini- schen Disziplinen ist nur die

Psychiatrie mit gesetzlich veran- kerten Freiheitsentzugsmöglich- keiten ausgestattet, nur sie steht unter dem Auftrag, bewußtseins- klare Menschen auch gegen ihren erklärten Willen und ohne an ihre Einsicht in die Krankhaftigkeit ih- res Zustandes appellieren zu kön- nen, einer Krankenhausaufnahme zuführen zu müssen oder zu dür- fen. Die Artikelschreiber des .,Spiegel" tun so, als ob sie nicht wüßten, daß gerade in der letzten Zeit eine ganze Reihe von staats- anwaltschaftlichen Ermittlungs- verfahren gegen Klinikpsychiater in Gang gesetzt wurden, die der

„Gefangenenbefreiung" im Rah- men einer zu liberalen Therapie- gestaltung bei gerichtlich einge- wiesenen psychisch Kranken be- zichtigt werden. Da diese Tatsa- che nicht in das Bild vom psychia- trischen Gefängniswärter paßt.

bleibt sie unerwähnt.

„Elektroschock" — bei strenger Indikation lebensrettend

Neben der Psychopharmakothera- pie wird auch die elektrische Heil- krampftherapie, der „Spiegel"

nennt sie beharrlich „Elektro- schock"-Behandlung, in einer Weise kritisiert, die als Beispiel für die ideologisch motivierte falsche Interpretation wesentlicher Teil- aspekte medizinischer Wissen- schaft und Praxis lehrreich ist. Ge- rade die psychiatrische Pharma- kotherapie hat die elektrische Heilkrampfbehandlung in den Hin- tergrund treten lassen. Hauptindi- kationsgebiete der Krampfbe- handlung sind heute therapieresi- stente endogene Depressionen, vor allem solche mit erheblicher Suizidgefahr, sowie die selten ge- wordenen Fälle von perniziöser Katatonie mit heftigster psycho- motorischer Erregung oder völli- gem Stupor und maximalen febri- len Temperaturerhöhungen. In diesen Fällen von Katatonie ist die Anwendung der elektrischen Heil- krampftherapie in Blockform le- bensrettend und allen anderen Be- handlungsformen weit überlegen.

Die unerwünschten psychopatho- logischen Wirkungen der Krampf- therapie (Merkfähigkeitsstörun- gen von maximal wochenlanger Dauer, seltene kurzdauernde Ver- wi rrtheitszustände) müssen ernst- genommen werden.

Die bleibende schädliche Einwir- kung auf die zerebralen Ganglien- zellen ist umstritten, die Gefahr ei- ner bleibenden Hirnschädigung ist jedoch nicht völlig von der Hand zu weisen. Eine gewissenhafte In- dikationsstellung ist deshalb not- wendig. Steht der Therapeut aller- dings vor der Alternative, bei einer perniziösen Katatonie nur unge- nügende medikamentöse Maß- nahmen anzuwenden oder die er- fahrungsgemäß sehr gut wirksa- me, lebensrettende elektrische Heilkrampftherapie in Blockform zu applizieren, so wird er sich als verantwortungsbewußter Arzt aus vitaler Indikation für diese Thera- pieform zu entscheiden haben. Ei- ne chronische, pharmakotherapie- resistente endogene Depression beeinträchtigt die Lebensführung des Kranken auf das intensivste, auch hier ist der Versuch nicht nur erlaubt, sondern geboten, das Lei- den des Kranken durch die elektri- sche Krampftherapie zu lindern oder zum Verschwinden zu bringen.

Der Arzt hat zu bedenken, daß die Suizidalität bei endogenen De- pressionen eine sehr große Gefahr darstellt und daß bei dem Versa- gen anderer Behandlungsmetho- den ebenfalls eine vitale Indikation für eine elektrische Heilkrampfthe- rapie bestehen kann. In der von jeher pragmatischen englischen Psychiatrie wird entsprechend verfahren.

Das britische Royal College of Psychiatrists hat 1977 festgestellt, daß im Interesse der Patienten die Abschaffung der elektrischen Heil- krampftherapie nicht möglich ist.

Auch mit der psychiatrischen Epi- demiologie tut sich der „Spiegel"

schwer. Er zitiert einen Anstieg der Zahl der Insassen psychiatri-

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scher Anstalten von 1877 bis 1913 von 40 000 auf 240 000, der zeit- geistgemäßen Mode entspre- chend wird dieser Befund auf

„krankmachenden Streß" zurück- geführt. Dies ist falsch, die psych- iatrischen Krankenhäuser mußten vergrößert werden, weil die an progressiver Paralyse Leidenden, die mit wachsender Lebenserwar- tung an Zahl zunehmenden Pa- tienten mit präseniler und seniler Hirnatrophie und die in der Gesell- schaft nicht mehr geduldeten Schizophrenen aufgenommen werden mußten. Dabei war die Zahl der an Schizophrenie Er- krankten gleichgeblieben.

Basaglia

ein mißverstandenes

„Vorbild"

Wo so viel Schatten ist, gibt es auch besonders viel Licht. Der

„Spiegel" findet dieses „im Aus- land", wie er nicht ohne den Mut zur vage umfassenden Feststel- lung dartut. Kronzeuge der zu lo- benden Reformanstrengungen, gegen die sich die „kläglichen An- sätze" hiärzulande natürlich jäm- merlich ausnehmen müssen, ist der unvermeidbare Basaglia. „Der Spiegel" durchschaut nicht oder sieht absichtlich an der Tatsache vorbei, daß Basaglia die Reform ausdrücklich negiert, er will nicht eine Besserung der Verhältnisse, sondern die Umstürzung der ge- samten Gesellschaft. Er ist der Auffassung, daß in der Familie, in der Schule und auch in der psych- iatrischen Klinik ungerechte Ge- walt ausgeübt wird, therapeuti- sche Maßnahmen erweisen sich nach ihm als eine revidierte und verbesserte Neuauflage der Diskri- minierung durch eine psychiatri- sche Wissenschaft, die zu ihrem Selbstschutz die Norm geschaffen hat, für deren Überschreitung je- weils eine von ihr selbst festge- setzte Strafe droht.

Therapie an psychisch Kranken ist nach Basaglia Ausdruck einer un- erlaubten Konformität mit dem herrschenden System, der eigent-

lich befreiende Akt ist die Nicht- Therapie, der die Institutionen und damit die diese tragende unge- rechte Gesellschaft negiert. Der revolutionäre Wahn Basaglias und seiner Anhänger bringt es mit sich, daß der psychisch Kranke in- strumentalisiert wird, daß er als Mittel zur revolutionären Verände- rung der Gesellschaft dienen soll.

Es muß als eine unmenschliche, mitleidlose Vergewaltigung der psychisch Kranken betrachtet werden, wenn sie zum Vortrupp des revolutionären Angriffs ge- macht werden sollen. Die Psychia- trierevolutionäre wissen auch nicht zu sagen, was nach der Re- volution werden soll; apodiktisch wird festgestellt, daß die Aufhe- bung der gesellschaftlichen Wi- dersprüche notwendigerweise von dem Verschwinden der psychi- schen Beeinträchtigungen gefolgt werde.

Die als große Befreiungstat gefei- erte Schließung der psychiatri- schen Krankenhäuser aufgrund des Gesetzes Nr. 180 der Republik Italien vom 13. Mai 1978 hat be- reits zu den vorhergesagten schlimmen Folgen geführt. Die aus den psychiatrischen Kranken- häusern vertriebenen Kranken be- völkern jetzt in großen Zahlen Slums und Bahnhöfe, in schwei- zerischen und westdeutschen psychiatrischen Krankenhäusern hat die Zahl italienischer Patienten zugenommen, die von ihren Ange- hörigen nach dem Entzug der ärzt- lichen und pflegerischen Betreu- ung zur Aufnahme gebracht wur- den.

Das Vorgehen Basaglias und seine Folgen erinnern an die bittere Sa- tire von Till Eulenspiegel, der dem Rat der Stadt Nürnberg versprach, die viel Geld kostenden lästigen Kranken aus dem Spital zu vertrei- ben. Er erreichte dies, indem er jedem einzelnen Kranken mitteilte, er solle schleunigst das Kranken- haus verlassen, den letzten, den er antreffe, müsse er verbrennen und aus ihm ein heilendes Pulver her- stellen, das er allen anderen ge-

ben werde. Innerhalb eines Tages waren alle Kranken aus dem Spital ausgezogen, und Eulenspiegel konnte hoch gerühmt und belohnt die Stadt verlassen. Schon nach drei Tagen stellten sich die weiter- hin behandlungsbedürftigen Kran- ken jedoch wieder im Spital ein.

An dieser Schelmgeschichte ist nichts Lustiges, so wenig wie an der Psychiatrierevolution im Sinne Basaglias etwas Humanitäres ist.

Es muß befürchtet werden, daß durch die Vertreibung der psy- chisch Kranken aus den italieni- schen psychiatrischen Kranken- häusern, ein Eulenspiegel-Syn- drom schlimmer Art, in der Öffent- lichkeit erhebliche Widerstände gegen die Reintegration der Pa- tienten in ihre soziale Umwelt ge- weckt werden.

Die Arbeit der Psychiater in unerträglicher Weise erschwert

Die viel gescholtenen und als ge- sellschaftliche Sündenböcke miß- brauchten Psychiater sind es nachgerade gewöhnt, attackiert zu werden. Insofern kann es gelas- sen hingenommen werden, daß ih- nen der „Spiegel" ein aufgebläh- tes ärztliches Ich, einen Popanz von übermächtiger, einsamer Grö- ße attestiert.

Es geht nicht vordergründig um die Psychiater und deren Sozial- prestige, sondern um das Schick- sal der Menschen, die jetzt und auch in Zukunft Hilfe in psychiatri- schen Institutionen suchen müs- sen. Der „Spiegel" und seine Ge- sinnungsgenossen werden diese Hilfe nicht bieten können. Es ist auch nicht von besonderer Wich- tigkeit, ob die Psychiater etwas mehr oder weniger Unordnung hinnehmen können, die Dimensio- nen des Psychisch-Krankseins und Geistig-Behindertseins wer- den in unerträglicher Weise ver- kürzt, wenn sie in pseudoliberaler Weise unter dem antinomischen Begriffspaar rigide Ordnung — frei- heitliche Unordnung subsumiert werden. Die grausame Kälte des

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 16 vom 17. April 1980 1013

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Existierenmüssens in einem schi- zophrenen Wahn, die Qual des Verlustes der Ich-Identität in schi- zophrenen Beeinflussungserleb- nissen, das Trommelfeuer be- schimpfender Stimmen bei schi- zophrenen Halluzinationen und die vernichtende Gott- und Welt- verlassenheit in der endogenen Depression sind Erschütterungen der menschlichen Existenz, die den Arzt gebieterisch zum Han- deln veranlassen müssen.

Soll der Psychiater künftig keine neuroleptischen und thymolepti- schen Psychopharmaka mehr an- wenden dürfen, nachdem der

„Spiegel" ex cathedra festgestellt hat, daß „Pillen in der Psychiatrie sanften Mord" bedeuten? Es muß befürchtet werden, daß psychisch Kranke und ihre Angehörigen durch den "Spiegel - -Artikel in höchst gefährlicher Weise verun- sichert worden sind.

Die in dem Artikel aufgerührten antipsychiatrischen Affekte wer- den, so muß erwartet werden, die psychiatrische Hilfe weiter er- schweren. Wie die Verfasser mit dieser Verantwortung leben wol- len, ist nicht ersichtlich; es besteht überreichlicher Anlaß zu der trost- losen Vermutung, daß sie diese Verantwortung nicht einmal gese- hen haben.

Der Psychiater weiß um die Er- kenntnis- und Praxismängel sei- nes Faches, er bemüht sich, wie andere Ärzte auch, um Verbesse- rungen. Denunziationen nach Art des „Mord-Artikels" im „Spiegel"

sind dabei nicht hilfreich.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Kurt Heinrich Direktor

der Psychiatrischen Klinik der Universität Düsseldorf Mitglied des

Bundesärztekammer- Ausschusses

Psychiatrie, Psychotherapie, Psychohygiene

Bergische Landstraße 2 4000 Düsseldorf 12

Ersatzkassen:

Inanspruchnahme von Früherkennungs-

Untersuchungen sank

Nach der zunächst stetig gestiege- nen Inanspruchnahme der gesetz- lichen Früherkennungsmaßnah- men durch die Ersatzkassen-Ver- sicherten während der Jahre bis 1977 verzeichneten die sieben An- gestellten-Ersatzkassen 1978 erst- mals einen leichten Rückgang.

Nach den jetzt vorliegenden Zah- len lag die Quote der anspruchs- berechtigten Frauen, die von den Vorsorgemöglichkeiten Gebrauch machten, bei 50,8 Prozent; ein Jahr zuvor waren es noch 52,2 Prozent gewesen. Von den an- spruchsberechtigten Männern gingen im Berichtsjahr 26,6 Pro- zent zur Krankheitsfrüherken- nungsuntersuchung (gegenüber 27,8 Prozent im Jahr 1977). Bei den Arbeiter-Ersatzkassen betru- gen die entsprechenden Quoten:

Frauen 59,6 Prozent (1977: 61,4 Prozent), Männer 24 Prozent (24,8 Prozent).

Wie der Verband der Angestellten- Krankenkassen und Arbeiter-Er- satzkassen, Siegburg, mitteilte, liegen die Inanspruchnahmequo- ten dennoch deutlich über dem Durchschnitt der gesamten ge- setzlichen Krankenversicherung.

Hier wurde für die Frauen eine Quote von 35 Prozent (35,7 Pro- zent) und für Männer von 17,3 Pro- zent (18 Prozent) ermittelt. EB

Der Alkoholkonsum durch Frauen und Jugendliche nimmt zu

Etwa 1,5 Millionen Bundesbürger (ab 14 Jahren), das sind drei Pro- zent der Gesamtbevölkerung, trin- ken mehr Alkohol, als sie physisch und psychisch verkraften können.

Alkoholkrank sind 330 000 Men- schen in der Bundesrepublik. Das ergab eine Untersuchung, die im Auftrag der Hersteller alkoholi- scher Getränke von Wissenschaft-

lern im „Arbeitskreis Alkohol"

durchgeführt wurde.

Insbesondere der Alkoholmiß- brauch bei Jugendlichen gibt An- laß zur Sorge. Von 2,6 Millionen heranwachsenden Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 17 Jah- ren trinken 216 000 zuviel Alkohol.

7 Prozent der 18- bis 21 jährigen, das sind 250 000 junge Menschen.

betreiben Alkoholmißbrauch. Von Jugendalkoholismus könne man, so meinen die Verantwortlichen der Untersuchung, dennoch nicht sprechen, da damit „eine gan- ze Generation negativ etikettiert würde".

Frauen trinken zwar immer noch weniger Alkohol als Männer, ihr Anteil am gesamten Alkoholkon- sum ist jedoch gestiegen. Bereits 11 Prozent aller „Starktrinker"

und 9 Prozent der Alkoholkranken sind Frauen. Den zunehmenden Alkoholmißbrauch bei Frauen führt der „Arbeitskreis Alkohol - auf die steigende „Rollenverunsi- cherung" der Frau zurück. 33 Pro- zent der Hausfrauen, die über- durchschnittlich viel Alkohol kon- sumieren, sind unzufrieden mit ih- rer Situation. „Chronische subde- pressive Verstimmungen, die sich im Gefühl der Sinnlosigkeit der ei- genen sozialen Funktion und Si- tuation manifestieren", begünsti- gen laut Untersuchung die Hin- wendung zum dauernden Alkohol- konsum bei Frauen. Dennoch sei Frauenalkoholismus, erklären die verantwortlidhen Wissenschaftler im „Arbeitskreis Alkohol", auch hier wiederum noch kein gesell- schaftlich relevantes Problem.

Die Schuld für den Alkoholismus geben 65 Prozent der vom „Ar- beitskreis Alkohol" befragten Bundesbürger der Umgebung des Trinkers. Die Willensschwäche des einzelnen betrachten 92 Pro- zent der Befragten als Ursache für den Alkoholismus. Daß ein Abbau der Werbung für alkoholische Ge- tränke den Alkoholmißbrauch stoppen könnte, glaubt die Mehr- zahl der Befragten (72 Prozent) nicht. Hä

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