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Archiv "Verbindungswege zwischen psychisch Kranken und Öffentlichkeit: Darstellungsprobleme und Lösungsversuche in Massenmedien" (12.06.1985)

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Verbindungswege

zwischen psychisch Kranken und Öffentlichkeit

Darstellungsprobleme und Lösungsversuche in Massenmedien

Erfahrungen psychiatrischer Patienten bei Arbeit- und Wohnungssuche, im Kontakt mit Angehörigen und in an- deren Lebensbereichen lassen erkennen, daß ein sehr schlechtes Verhältnis zwischen psychisch Kranken und ihrer Umwelt besteht. Dabei sind nach Meinungsumfra- gen 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung angeblich psy- chisch Kranken gegenüber aufgeschlossen. Die meisten handeln offensichtlich nicht nach ihrer Einstellung (1)*).

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sychisch kranke Men- schen haben wenig Mög- lichkeit, ihre Situation selbst zur Sprache zu bringen. Daran hindern sie ein verständliches Bedürfnis nach An- onymität und manchmal krank- heitsbedingte Defizite. Das Perso- nal der Psychiatrie, vielleicht auch Freunde und Angehörige der Kranken, müssen daher die öf- fentliche Thematisierung anre- gen. Programme dazu sind immer wieder formuliert worden. Haupt- ziel ist es, notwendiges Wissen über psychische Krankheiten an die Öffentlichkeit zu vermitteln, so daß die Bevölkerung Mitverant- wortung tragen und mit den psychiatrischen Einrichtungen besser zusammenarbeiten kann.

Die Frage ist, mit welchen Mitteln dies erreicht werden kann (2). Die aktuelle Berichterstattung in den Medien thematisiert psychische Krankheit und Psychiatrie häufig im Zusammenhang mit angebli- chen Mißerfolgen und Fahrlässig- keiten: Gewalttaten und Selbst- morde psychisch kranker Men- schen sollen geschehen sein, weil diese falsch behandelt oder zu früh entlassen wurden. Anderer- seits, so heißt es, würden Hilflose mit Gewalt in Kliniken festgehal-

ten (3). Die typische Machart, mit solchen Berichten „Verständnis"

für Leidende herzustellen, be- steht darin, die Umwelt anzukla- gen, indem dokumentarisches In- formationsmaterial entsprechend emotionalisierend aufbereitet wird. So wird allerdings höchstens passives Mitleid mit den Kranken statt einer Bereitschaft zur aktiven Hilfestellung erweckt (4).

Trotz einiger Initiativen zur besse- ren Verständigung zwischen Psychiatrie und Medien (5) sind weiterhin solche Darstellungen ohne Erörterung des sachlichen Hintergrundes vorzufinden, denn die sensationelle Nachricht hat in den Medien Vorrang vor inhalts- reichen Darstellungen (6). Nicht nur in Zeitungen, auch im Fernse- hen funktioniert die aktuelle Be-

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richterstattung nach diesem Prin- zip, das wohl teilweise unum- gänglich ist (7). Da die Öffentlich- keit über die meisten gesell- schaftlich bedeutsamen Themen vermutlich besser unterrichtet ist als über psychische Krankheiten und ihre Behandlung, müßte in journalistischen Darstellungen al- lerdings zwischen Sachinforma- tion und (oft nonverbalen) Kom- mentaren des Journalisten schär- fer unterschieden werden.

Sachinformation — also Wissen — über psychische Krankheit wird in den Medien am neutralsten in Ge- sundheits- und Wissenschaftsma- gazinen vermittelt. Zur Verdeutli- chung der wissenschaftlichen In- formation sind in solchen Sendun- gen authentische Illustrationen

Zu den gelungenen filmischen Beispielen zählt „Zur Besse- rung der Person" von Heinz Bütler (die beiden Szenenbil- der links und oben) mit August Walla und dessen Mutter Fotos: Film-Kollektiv Zürich

von psychischen Störungen hilf- reich. Dokumentarischen Beiträ- gen sind allerdings enge Grenzen gesetzt. Denn beispielsweise sind Filmaufnahmen von einem Men- schen während einer akuten psy- chotischen Episode ethisch kaum vertretbar. Außerdem bleiben auch solche Aufnahmen am Äu- ßerlichen hängen, das Erleben können sie nicht beschreiben.

Fiktionale Darstellungen sind da- her unumgänglich: so werden bei- spielsweise in Gesundheitsmaga-

zinen des Fernsehens zur Illustra- tion psychopathologischer Syn- drome oft Spielfilmszenen ver- wendet. Sie erinnern allerdings manchmal an Horrorfilme. Auch wirken die in den Sendungen ge- zeigten Betroffenen oft wie De- monstrationsobjekte, so daß sol- chen Beiträgen die Vermittlung von „einfühlendem" Verständnis abgesprochen werden muß (8). Es ist daher erforderlich, daß die sachliche Berichterstattung ge- zielter durch fiktionale — also künstlerische — Darstellungswei- sen ergänzt wird. Erst auf diese Weise wird neben der erforder- lichen Wissensvermittlung bei der Öffentlichkeit auch eine anneh- mende tolerante Haltung und ein- fühlendes Verständnis für psy- chisch kranke Menschen erzielt (9).

Künste als Medien für Subjektivität

Man braucht nur an Liebesgedich- te oder -lieder, Totengesänge und dergleichen zu denken, um sich die Bedeutung von Kunst für die Vermittlung von Gefühlen zu ver- deutlichen. Auch zum Thema psy- chische Krankheit liegen bereits zahlreiche künstlerische Arbeiten vor.

Im Bereich der bildenden Künste gibt es ganz besonders eindrucks- volle Beispiele. Dazu gehören die Ausstellung der Prinzhorn-Samm- lung (10), aber auch Ausstellun- gen von Künstlern, die sich mit psychisch kranken Menschen be- schäftigt hatten (11), sowie Aus- stellungen der Bilder von Patien- ten des Nervenkrankenhauses Gugging (12). Diese Bildnereien wurden zumindest von Kulturin- teressenten mit großer Aufmerk- samkeit aufgenommen. Sie bieten unmittelbare Einblicke in die Er- lebniswelt psychisch kranker Menschen und scheinen auch bei Außenstehenden ohne viele Erklä- rungen anteilnehmendes Ver- ständnis bewirken zu können. Das Zeigen solch „schöner" Bilder ganz ohne wissenschaftlichen Kommentar birgt allerdings die Gefahr, psychische Krankheit als

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Aquarell von August Klotz aus der Prinzhorn-Sammlung (mit Genehmigung der Galerie im Lenbach-Haus, München)

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künstlerische Erlebnisform zu sti- lisieren und damit Krankheit zu romantisieren (13).

Weitverbreitet sind literarische Darstellungen und Nutzungen des Themas „Psychiatrie". Besonders interessant wegen der hier ge- stellten Forderungen nach Sach- lichkeit sind Produktionen, die von Ärzten verfaßt wurden. Be- merkenswert gut in .informative und fiktionale Passagen geglie- dert erzählt der Arzt Spazier sei- nen Roman „Der Tod des Psychia- ters". Er hat die Schwierigkeiten eines Psychiaters in seiner Bezie- hung zu einem psychisch kranken Straftäter zum Inhalt (14). Auch der Roman „Irre" von Goetz (ebenfalls Arzt) wirkt als konse- quent gestaltetes Beobachtungs- protokoll mit sprachlich faszinie- renden Formen sehr dokumenta- risch. Aber er läßt auch durch die Selektivität des Erzählers Gren- zen authentischer Literatur zum Thema Psychiatrie erkennen (15).

Besonders eindrucksvoll ist das Buch „März" von dem Arzt Kipp- hart. Als Romanform (Facetten- struktur, wechselnde Erzählerper- spektive, fiktionale und dokumen- tarische Anteile), ebenso wie als Ausdruck eines weiter gefaßten Krankheitsverständnisses, das Gesellschaft und Familie mitein- bezieht, ist dieses Buch noch im- mer einer der anregendsten Bei- träge in der Reihe künstlerischer Psychiatriedarstellungen. Es er- weckt Anteilnahme, indem es Ein- blicke in eine mögliche Lebens- welt eines psychisch kranken Menschen bietet. Der Roman setzt allerdings einige vereinfa- chende Akzente, indem etwa der Eindruck entsteht, daß „die" Fa- milie, beziehungsweise „die" Ge- sellschaft an der psychischen Er- krankung des Alexander März schuldig sind (16).

Weniger positive Beispiele lassen sich im Bereich des Films finden.

Die filmische Ausbeutung und Vermarktung des Themas psychi- sche Krankheit als Metapher ist unglaublich. Unzählige Fehlvor-

stellungen werden dadurch pro- voziert (17). Selbst engagierte Psychiatriefilme zeigen Verzer- rungen, indem Mögliches zum Ty- pischen erklärt wird. So vermitteln auch scheinbar ernsthaft psychia- triebezogene Spielfilme wie „Ei- ner flog über das Kuckucksnest"

(Regie: Forman, 1975; Prädikat:

besonders wertvoll!) dem Zu- schauer plakative „Depperl"-Bil- der von psychisch kranken Men- schen, die stottern, schreien, kei- fen, streiten, sich bizarr bewegen

— also „spinnen". Die Filmhelden sind außerdem harmlose Sonder- linge, die von der Psychiatrie als brutale, zynische, gewalttätige Unterdrückungsinstanz kaputtge- macht werden. Zwar hat gerade dieser Film Ende der 70er Jahre einige Impulse zur öffentlichen Psychiatriediskussion gegeben.

Heute gilt er jedoch als Unterhal- tungsfilm und findet (auch im Vi- deo-Verleih) eine starke Nach- frage.

Auch der Spielfilm „Mann ohne Gedächtnis" (Regie: Gloor, 1984) ist, obwohl er auf soliden Recher- chen in einer sozialpsychiatri- schen Abteilung beruhen soll, oberflächlich und erinnert an sol-

che vereinfachenden Psychiatrie- Schocker.

Eine der letzten Spielfilmproduk- tionen, die sich ernstgemeint mit dem Thema psychische Krankheit auseinandersetzt, heißt: „Die Be- rührte" (Regie: Sanders-Brahms, 1981). Erzählt wird von einer schi- zophrenen jungen Frau und ihren selbstzerstörerischen, wahnhaf- ten Verhaltensexzessen. Dieser

Film spielt verantwortungsarm mit authentischem Material, und ver- fremdet es in scheinbar tieferen Sinnebenen. Indem eine verklärte Lust an der Hingabe bis zur Selbstzerstörung exzessiv gezeigt wird, scheinen „absolute" The-

men wie Gott, Mann, Frau, Liebe, Sexualität, Gewalt, Unterdrük- kung, Erlösung usw. „verarbeitet"

zu werden. Auch diese Produktion enttäuscht. Sogar problembezo- gene Dokumentarfilme zeigen meist nur oberflächliches Enga- gement (18). Eine der wenigen Ausnahmen ist „Zur Besserung der Person" (Bütler 1981), ein Film, der ruhig von der Person, dem Leben und der Umwelt chro- nisch psychisch kranker Men- schen erzählt. Er hält sich weder an spektakulären Symptombe- schreibungen auf, noch verklärt er einseitig „die" Psychiatrie. Oh- ne Anklage macht er betroffen und weckt Interesse an den kran- ken Menschen.

Einen wesentlichen Zugang zum psychisch kranken Menschen bie- ten also nur wenige Filme. Das Publikum hat — wie Filmgesprä- che zeigen — auf jeden Fall Schwierigkeiten, zwischen „Reali- tät" und „Potentialität" zu unter- scheiden und bleibt betroffener, aber handlungsunfähiger Beob- achter. Die Welle der Filme mit psychisch Kranken als Haupt- oder Nebenfiguren, und mit Psychiatrie als Thema oder als Metapher schwappt indessen wei- ter, ohne daß psychiatrisch „be- sonders wertvolle" Produkte zu erkennen sind. Wenn bedacht wird, wie sehr vor allem Filme Vor- stellungen von der Realität prä- gen können, dann stellt sich gera-

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Eindrucksvoll (wenn auch mit einigen vereinfa- chenden Akzenten) Kippharts „März" (hier in einer Inszenierung des Bayrischen Staatsschauspiels, München, das für die vorliegende Bildveröffentli- chung auch die Nachdruckgenehmigung gab) de hier die Notwendigkeit, Krite-

rien für wertvolle Filmgestaltun- gen zu formulieren (19).

Selektion, Dokumentation und Fiktion bei

der Thematisierung von psychischer Krankheit

Psychiatrische Hauptkritik an künstlerischen oder journalisti- schen Psychiatriedarstellungen betrifft also den mangelnden

„Realismus" der in den Darstel- lungen zum Ausdruck kommen- den Krankheitsmodelle. Abgese- hen von der metaphorischen Nutzung des Themas „psychische

Krankheit" im Unterhaltungssek- tor finden sich selbst in ernstge- meinten Medienprodukten selten moderne, systemische, multifak- torielle Krankheits-Konzepte der Psychiatrie. Vereinfacht gespro- chen beziehen solche psychiatri- schen Konzepte psychische Krankheit auf ein Spannungsfeld, das sich zwischen drei Bereichen aufbaut: — dem Symptom (Erle- bens- bzw. Verhaltensstörung) —, der Person (neurobiologische Grundcharakteristika und Persön- lichkeitsstruktur) —, der Umwelt (Familie, Behandlungsinstanzen usw.) Das Beziehungsgefüge zwi- schen diesen drei „Faktoren" be- stimmt die Entwicklung einer psy-

chischen Krankheit — das Verhält- nis des erkrankten Menschen zu seinen Krankheitssymptomen (zum Beispiel Krankheitseinsicht), das Verhältnis der Umwelt zur Symptomatik (zum Beispiel ableh- nendes Verhalten) und das Ver- hältnis zwischen Umwelt und Per- son (zum Beispiel Isolierung des Kranken) (20). Psychiatrisch be- trachtet ist nur eine im Sinne die- ses Drei-Faktoren-Modells ausge- wogene Thematisierung von psy- chischer Krankheit „realistisch"

und für das „Verstehen" von psy- chisch kranken Menschen hilf- reich.

Künstlerische und journalistische Darstellungen hingegen zeigen oft nur äußerst einseitige Per- spektiven: Die psychische Krank- heit wird meist „symptomzen- triert" plakativ beschrieben oder aggraviert, so daß psychisch Kran- ke (vor allem im Unterhaltungs- sektor) zu Monstern stilisiert oder dämonisiert werden. Aber auch Bagatellisierungen der Sympto- matik sind häufig. Sie verklären psychisch Kranke zu Sonderlin- gen und Außenseitern. Durch das romantisierende Ausblenden der krankhaften Symptome wirken solche Darstellungen sympa- thisch „personzentriert". Drama- turgisch effektvoll ist es dann, sol- che Figuren in eine verständnislos agierende Familie oder Psychia- trie einzubetten. Psychische Krankheit wird dann in solchen

„umweltzentrierten" Darstellun- gen bestenfalls als Leiden an ei- ner monsterhaften Gesellschaft gezeigt.

Neben diesen Aspekten der Se- lektivität der Darstellung von psy- chischer Krankheit muß beurteilt werden, welche Teilthemen denn dokumentarisch und welche fik- tional aufgearbeitet werden soll- ten. Streng genommen wird auch dokumentarisches Material be- reits durch die Montage fiktional, das heißt, es bekommt zusätzliche Bedeutungen. Zudem werden Do- kumentationen oft mit dramatur- gischen Techniken gezielt ver- fremdet: Tragik verkündende Mu-

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sikklänge, Bilder von vergitterten Klinikfenstern in Großaufnahme, Kinderfotos der Betroffenen — sol- che Arrangements dienen bei- spielsweise bei Filmbeiträgen der Aufmerksamkeits- und Sympa- thiesteuerung des Publikums (21).

Auf diese Weise geht die Authenti- zität des Dargestellten verloren und die Meinung des Medienma- chers tritt in den Vordergrund. An- dererseits können gekonnt gestal- tete fiktionale Beiträge überzeu- gend den Eindruck von Realismus erwecken, indem sie sozusagen die Atmosphäre des Befindens des Betroffenen beschwören. Ei- nige Filmemacher wie beispiels- weise Bergmann haben dies be- reits eindrucksvoll gezeigt (22).

Solche Forderungen nach mehr wissenschaftlichem Realismus werden von Kulturfachleuten mit dem Argument zurückgewiesen, daß künstlerische Werke nicht mit

„volkserzieherischen" Absichten beurteilt werden dürften (23).

Auch Journalisten entgegnen ei- nem solchen Ansinnen oft, daß sie kritische Begleiter der Wissen- schaft und öffentliche Anwälte des Bürgers und Patienten seien.

Sie hätten neben der Berichter- stattung auch Meinungsbildung zu leisten (24). Dem kann entge- gengehalten werden, daß es eine humanitäre Herausforderung an die Kreativität von Medienma- chern ist, solche Desiderate den- noch zu erfüllen!

Probleme des Erkennens der „Realität"

psychischer Phänomene

Es gibt dennoch eine unausge- sprochene Rivalität wissenschaft- licher, künstlerischer, journalisti- scher und alltagsweltlicher „Er- kenntnisse" über psychische Phä- nomene. Jede Perspektive gibt vor, am besten darüber Bescheid zu wissen (25). Die Diskussion um unterschiedliche Erfahrens- und Vermittlungsweisen kann hier nur auf einen groben Vergleich von

„Psycho-Wissenschaften" und Künsten reduziert werden, ohne

auf philosopische Probleme ein- gehen zu können. Voraussetzung ist, daß Kunst in diesem Fall nicht so sehr als Unterhaltungsinstru- ment, sondern als Erkenntnisin- strument gesehen wird (26).

So besehen, zeigt sich dann eine relative Insuffizienz der wissen- schaftlichen Erfassung des Innen- lebens des Menschen. Beispiels- weise helfen psychopathometri- sche Skalierungen, die Beobach- tungen des Psychiaters exakter intersubjektiv zu vermitteln. Ande- rerseits werden wesentliche Para- meter der „Intuition" des erfahre- nen Psychiaters unzureichend er- faßt. Sie scheinen den Rastern der deskriptiven Psychopathologie zu entgleiten. Diese sprachlich schwer beschreibbaren Erfahrun- gen des versierten Psychiaters scheinen den Charakter von „in- neren Filmen" mit dokumentari- schen Momenten (Beobachtun- gen) und fiktionalen (phantasier- ten) Ergänzungen zu haben. Hier würden künstlerische Möglich- keiten, Subjektivität sprachlich zu erfassen und zu vermitteln, hilf- reich sein. Es liegt daher nahe, nicht nur bei der Kritik künstleri- scher und journalistischer Veröf- fentlichungen diese Methodendif- ferenz zu beachten, sondern sich beim Erspüren intuitionsgeleite- ter Empfindungsbereiche selbst auf künstlerische Arbeiten und Verfahren zu stützen (27).

Ein wesentliches Unterschei- dungsmerkmal zwischen den Wis- senschaften und den Künsten kann also in ihrem Verhältnis zur

„Realität" gesehen werden: Wis- senschaft ist bemüht, die grundle- genden Komponenten der gege- benen Realität zu erfassen und in- tersubjektiv eindeutig und mög- lichst unmißverständlich zu reprä- sentieren. Kunst hingegen ver- sucht aus der gegebenen Realität eine potentielle Realität vieldeutig zu konstruieren, um auf latente Wesenszüge der gegebenen Rea- lität zu verweisen. Ein Aspekt die- ser Differenz zeigt sich in dem Verhältnis von künstlerischer be- ziehungsweise wissenschaftlicher

Sprache zur „Realität": Wissen- schaftssprachen suchen nach ma- ximaler Eindeutigkeit der Begrif- fe hinsichtlich ihrer Interpretation in der „Realität". Künstlerische Sprachen hingegen sind tenden- ziell auf maximale Vieldeutigkeit ihrer Bedeutung ausgerichtet. Ein zweiter Aspekt dieser Differenz liegt darin, daß wissenschaftliche Sprachen um höchsten logischen Aufbau bemüht sind. Im Gegen- satz dazu streben künstlerische Sprachen nach einer Art „Alogizi- tät" (29). Wissenschaft ist damit prinzipiell der Realitätskontrolle unterworfen, Kunst hingegen nicht.

Fachwissenschaftliche Kritik an ernsthaften künstlerischen Arbei- ten zum Thema Psychiatrie, die deren Sprache zu konkret inter- pretiert, kann daher an wesent- lichen Sinnebenen des Werkes vorbeigehen. Dadurch verschlie- ßen sich möglicherweise Bedeu- tungshorizonte, die Einsichten in die Subjektivität der Kranken er- möglichen könnten, indem etwa wichtige Aspekte der subjektiven Lebenswelt psychisch kranker Menschen vermittelt werden, die für die schliche Berichterstattung (und auch für die Wissenschaft) schwer faßbar sind.

Die Berücksichtigung der Beson- derheiten künstlerischer, wissen- schaftlicher und journalistischer Sichtweisen und Kommunika- tionsweisen zum Thema „psychi- sche Krankheit" könnte zu einer gezielten Ergänzung jeder dieser Betrachtungsweisen führen. Eine solche „Multiperspektive" würde helfen, der Vielschichtigkeit des Lebens und Leidens psychiatri- scher Patienten gerechter zu wer- den.

Dr. Dr. Felix Tretter Bezirkskrankenhaus Haar 8013 Haar bei München Literatur und Anmerkungen beim Verfasser

*) Die Ziffern in ( ) beziehen sich auf die dem Sonderdruck angefügten Literaturhin- weise.

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