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Innerweltlichkeit und Transzendenz. Zur Rekonstruktion amerikanischer Individualitätskonzeptionen

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Innerweltlichkeit und Transzendenz

Zur Rekonstruktion amerikanischer Individualitätskonzeptionen

Dissertation

Soziologische Abhandlung zur Erlangung des Doktorgrades der Sozialwissenschaften Universität Konstanz

vorgelegt von Christine Matter

März 2001

Tag der mündlichen Prüfung: 18. Juli 2001 1. Referent: Prof. Dr. Hans-Georg Soeffner

2. Referent: Prof. Dr. Bernhard Giesen

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung 1 1. Religion, Transzendenz und die Zeichenhaftigkeit der Welt 8

2. Moderne und Individuum 39

2.1 Individuelle Identität: theoretische Zugänge 39 2.2 Die historische Genese des Individuums 55 3. Zum methodischen Vorgehen und zur Auswahl der Gruppen 89

4. Innerweltliche Individualität und ihre transzendente Fundierung 104 4.1 Der Alltag als Ort des Transzendenten 104

4.2 ‘Journey’ 128

4.3 “Always getting, being close” – Zeit und Biographie 169

5. Schluss: Das ‘amerikanische’ Individuum und die Symbolisierung der Erfahrung

immanenter Transzendenz 193

6. Literatur 234

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Einleitung

In der Einleitung zu dem von ihnen mitherausgegebenen Band zum modernen Individualismus stellen Thomas Heller und David Wellbery fest, dass sich seit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts das bis dahin gültige Paradigma einer kohärenten Erzählstruktur in der Literatur aufzulösen be- gann.1 Darin spiegelt sich ein Umbruch von grösserer gesellschaftlicher Trag- weite. Die Gesellschaften der westlichen Hemisphäre erreichen nach dem Aufschwung der Industrialisierung und den durch sie ausgelösten tief- greifenden sozialen und kulturellen Veränderungen für die Gesellschaft ebenso wie für die einzelnen Menschen einen Zustand der “Ernüchterung”. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts werden über den engeren Kreis der Intellektuellen und der Literaten hinaus Stimmen laut, in denen sich die enttäuschten Hoffnungen auf die Versprechungen, die im Projekt der Aufklärung für die menschlichen Gemeinschaften, besonders jedoch für das einzelne Individuum ausformuliert wurden, artikulieren. An die Stelle des prognostizierten autonomen Menschen, der sein Schicksal mit Hilfe der modernen Wissenschaften selbst in die Hand nimmt und der in einer überschaubaren, sich auf eine lichtere Zukunft hin entwickelnden Welt moralische Verantwortung für sein Tun und Lassen übernimmt und dafür mit der Realisierung seiner individuellen Neigungen belohnt wird, schiebt sich mehr und mehr – zuerst als Ahnung, dann als perhorreszierte negative Vision der Zukunft – ein Bild des Menschen, das diesen als Gefangenen einer kulturverneinenden “Maschinerie” begreift, die ihm den letzten Rest an freiem Willen und an Selbstbestimmtheit raubt. Damit einher gehen die bekannte

“Entzauberung” der Welt und eine zunehmend als akut empfundene Sinnentleerung des Daseins.

Bis zu welchem Grad auch immer diese Wahrnehmung vom

“normalsterblichen” Menschen des neunzehnten Jahrhunderts geteilt wurde – sie hat auf der Ebene des intellektuellen und des literarischen Diskurses zur

1 Thomas C. Heller, David E. Wellbery, 1986, Introduction, in: Thomas C. Heller, Morton Sosna, David E. Wellbery, eds, Reconstructing Individualism. Autonomy, Individuality, and the Self in Western Thought, Stanford, California, 9.

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Folge, dass die ältere Konzeption einer Ontologie des Individuums in Frage gestellt und von neuen Vorstellungen abgelöst wird. Während dieses ältere Individuum als wesentlicher, konstitutiver Bestandteil der Welt und der Wirklichkeit begriffen wurde – sei es in psychologischer, ethischer, ziviler, künstlerischer oder ökonomischer Hinsicht –, wird es seit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts – oder, wie andere Autoren plausibel argumentieren, bereits im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert2 – vor dem Hintergrund einer veränderten gesellschaftlichen Erfahrungslage neu gedacht.

Auf der Grundlage einer deterministischeren Weltsicht verliert der einzelne seine kreativen, “weltschöpferischen” Entfaltungsspielräume, die sich erst hundert Jahre zuvor geöffnet hatten, und findet sich den Zwängen des modernen Gesellschaftssystems ausgesetzt. Diesen Zumutungen entwischt er nur, wie es scheint, indem er sich zunehmend nach innen, in sein Innenleben zurückzieht. Das nächste Jahrhundert steht für die westlichen Kulturen ganz im Zeichen des sich selbst entdeckenden und erforschenden Individuums, das über immer ausgefeiltere Methoden seiner inneren Selbstschau und über Zugang zu immer mehr Expertenwissen verfügt. Die “Gefahr”, die dem Gesellschaftszusammenhalt von diesem modernen Individuum, das zur

“Selbst-Vergötterung” neigt und sich durch eine “Unfähigkeit”, gemein- schaftliche Bindungen einzugehen, auszeichnet, angeblich droht, wurde oft auch von sozialwissenschaftlichern Beobachtern der Zustände diagnostiziert und beklagt. Heute scheint man soweit zu sein, dass man nicht nur die Negativseiten, sondern zunehmend auch die “Chancen” oder zumindest einige positive Aspekte der modernen Individualisierung zu erkennen glaubt. Wenn gemeinsam geteilte moralische Wertorientierungen, Ideen und Interessen als dem einzelnen vorausliegendes Fundament der Gemeinschaftsbildung fehlen, so lässt sich – wie Ronald Hitzler feststellt – doch gerade im diesbezüglich

“voraussetzungslosen” Handeln der individualisierten “Existenzbastler” eine solche gemeinsame Basis erzeugen.3 Die Chance für die Soziologie könnte

2 So zum Beispiel Marianne Willems, 1999, Vom ‘blossen Menschen’ zum ‘einzigartigen Menschen’. Zur Entwicklung der Individualitätssemantik in Rationalismus, Empfindsamkeit und Sturm und Drang, in: Herbert Willems, Alois Hahn, Hg., Identität und Moderne, Frankfurt/Main.

3 Ronald Hitzler, 1999a, Individualisierung des Glaubens. Zur religiösen Dimension der Bastelexistenz, in: Anne Honer, Ronald Kurt, Jo Reichertz, Hg., Diesseitsreligion. Zur Deutung der Bedeutung moderner Kultur, Konstanz, 364.

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dann darin bestehen, dass sich Gesellschaft so gleichsam im Zustand sozialer Gärungsprozesse und bevor sie zur ‘objektivierten Faktizität’ geworden ist – schon fast unter den komfortablen Bedingungen eines “Labors” –, studieren lässt und dass so gesellschaftliche Konstitutionsprozesse nicht erst mühsam

“hinter” und “unter” den aus ihnen resultierenden Objektivierungen herausziseliert werden müssen.

Wo auch immer hier die Chancen und Grenzen für die Sozialwissenschaften liegen mögen – was in gleicher Weise bedeutsam ist, ist, dass letztere bei ihrem Beobachten und Diagnostizieren einen Diskurs nachvollziehen, der sich historisch in den europäischen Gesellschaften vor allem seit der Reformation entwickelt hat. Dass die Wissenschaften selbst Produkt der Kultur sind, innerhalb derer sie praktiziert werden und dass sie diese ihrerseits prägen, ist mittlerweile natürlich keine besonders originelle Einsicht mehr. Vielleicht interessanter ist jedoch – vor allem mit Blick auf die vorliegende Untersuchung –, wie sich eine bestimmte, sich aus der europäischen Geschichte der Neuzeit entwickelnde Modernisierungserfahrung zum sozialwissenschaftlichen Paradigma herausbilden konnte und in einem modernisierungstheoretischen “Siegeszug” auch auf die Analyse historisch anders liegender Fälle angewandt wurde und wird. Die wirkmächtige Vorstellung eines autonomen, sich selbst als aussergesellschaftlich definierenden Individuums, das, wann immer es zum Gegenstand der Erörterung wird, als die “andere Seite” von Gemeinschaft und von Sozialität erscheint, selbst dann, wenn es gerade darum geht, dieses Individuum als ein im sozialen Prozess Konstituiertes zu fassen, zeigt, wie grundlegend und unhintergehbar4 diese Idee für das moderne, westliche ‘Weltbild’ geworden ist.

Die Grundpfeiler dieser Konzeption des Individuums sind die Unterscheidungen von Allgemeinem und Besonderem einerseits sowie von Innen und Aussen andererseits. Die erste Unterscheidung ist alt. Sie hat bereits die antike Philosophie ausgiebig beschäftigt und wurde auch als Frage des Verhältnisses von Teil und Ganzem oder von Stoff und Form diskutiert. Die

4 Vgl. Manfred Frank, 1986, Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlass seiner ‘postmodernen’ Toterklärung, Frankfurt/Main.

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zweite Unterscheidung ergibt sich im weitesten Sinne als eine Folge des Christentums und hier insbesondere der Reformation. Mit dem Aufkommen der christlichen Religion verschiebt sich die Unterscheidung von Allgemeinem und Besonderem und damit der Begriff des Individuums, der sich ursprünglich auf jedes geistig oder materiell unteilbare Objekt der Sinne oder des Denkens bezog5, in Richtung auf den Menschen beziehungsweise auf die Person. Das unteilbare Einzelne – das ‘in-dividuum’ – ist nun in erster Linie ein Mensch, und dieser Mensch gewinnt sein Selbstverständnis in seiner Beziehung und in seinem Verhältnis zu Gott. Die grossen Themen, die nun aufgeworfen werden, sind etwa die unsterbliche Seele und das Innenleben des Gläubigen. Jeder Mensch wird zu einem besonderen Einzelwesen, das gegenüber der übrigen Schöpfung in seiner Unvergleichlichkeit herausragt. Die Individualität des Menschen erhält als Folge der Reformation schliesslich schärfere Konturen, indem die “Glaubens-Auseinandersetzung” des einzelnen mit “seinem” Gott nun ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Von da war der Weg in Richtung auf ein innerweltliches, erfahrungszentriertes und von seinem Innenleben sowohl fasziniertes wie erschrecktes Subjekt, das den (vorläufigen) Höhepunkt seiner Selbststilisierung im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert erlebt, keineswegs ein geradliniger. So betonen Empirismus und Aufklärung das allgemeinmenschliche, nicht das besondere Subjekt und loten auf der Grundlage von Vernunft und Sinneserfahrung dessen Möglichkeiten der Welt- erkenntnis aus. Und eine andere Frage, die die Moderne begleitet, das Problem universeller Menschenrechte, setzt auch nicht an der inneren Erfahrungsdimension und an der Besonderheit des Subjekts an, sondern an der Idee der Gleichheit.

Es scheint ausser Zweifel zu stehen, dass im Zusammenspiel mit Prozessen der funktionalen Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft der Religion eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung des modernen Verständnisses von Individualität zukommt. Das ergibt sich allein schon daraus, dass es sich bei der Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz, die – für den westlichen Kulturraum – sowohl für kollektive wie für individuelle Identität konstitutiv

5 Vgl. Lucien Sève, 1990, Individuum/Individualismus, in: Hans Jörg Sandkühler, Hg., Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 2, Hamburg.

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ist, um eine Unterscheidung handelt, die dem Bereich der Religion entstammt und auch den meisten Definitionen des Religionsbegriffs zugrundeliegt.

Während im allgemeinen davon ausgegangen wird, dass die moderne Welt eine Welt des Immanenten ist, die sich mit dem Verlust ihres transzendenten Hintergrundes konfrontiert sieht, zeichnet sich diese moderne Welt auch durch ein permanentes Bemühen aus, sich Räume des Transzendenten wieder zu erschliessen. Dass die traditionellen religiösen Institutionen dieses Problem unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft heute nicht mehr für sich monopolisieren können, ist seit längerem erkennbar. Das Problem der Transzendenz und damit die Vorstellung einer über die gegebene Welt hinausreichenden “weiteren Welt” begleitet die Moderne jedoch nach wie vor und nicht weniger als die religiös eindeutiger “rückversicherte” Vormoderne.

Es ist auch schwer vorstellbar, dass sich eine Dichotomie vom philosophisch- weltanschaulichen Gewicht wie jene von Transzendenz und Immanenz, welche historisch weit zurückreicht und entsprechend für das ‘Weltbild’ der westlichen Gesellschaften grundlegend ist, innerhalb von nur wenigen Jahrhunderten auflösen sollte. Im zwanzigsten Jahrhundert hat jedoch diese Unterscheidung – so lässt sich für die europäische Entwicklung mit gutem Grund argumentieren – im autonomen, selbstgenügsamen, sich selbst zum Gott machenden Individuum eine neue inhaltliche Füllung gefunden. Dieses Individuum versucht, sich selbst zum unhintergehbaren Zentrum der Welt zu machen, indem es sich absolut setzt. Und es versucht entsprechend immer auch, sich selbst auf sich selbst hin zu überschreiten, um sich so innerweltlich für den Verlust der Transzendenz der Religion zu entschädigen. Dass das nur bedingt gut gehen kann, weil hier sogleich eine Paradoxie aufbricht, der sich nur mühsam und unter dem Einsatz verschiedenster Techniken der Identitäts- findung begegnen lässt – dieser Eindruck scheint sich zu bestätigen, wenn man das reichhaltige aktuell verfügbare Angebot an Methoden der “Selbstfindung”

und der “Selbstverwirklichung” betrachtet. Der Versuch, das radikal innerweltliche moderne Subjekt zu transzendieren lässt sich jedoch auch in die Aussenwelt verfolgen, etwa dann, wenn der Alltag als letztlich einzig möglicher Lebensbereich des radikal innerweltlichen Individuums ästhetisch überhöht und so seiner Alltäglichkeit ins gleichsam ‘Religiöse’ enthoben wird.

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Das Forschungsinteresse der vorliegenden Untersuchung richtet sich vor diesem Hintergrund auf die Frage nach den spezifisch amerikanischen Formen von Individualität. Die amerikanische Gesellschaft wird im allgemeinen mit denselben modernetheoretischen Sensoren abgetastet und gelesen, wie die übrigen westlichen Gesellschaften auch. Ein in der Regel im Vergleich mit den westeuropäischen Gesellschaften sogar als ausgeprägter wahrgenommener Individualismus wird dabei oft als Indiz dafür genommen, dass sich die

“Unverträglichkeit” von Individuum und Gesellschaft hier zu ihrem modernen Höhepunkt gesteigert hat. Dies scheint jedoch, was die Sozialwissenschaften betrifft, auch eine Folge davon zu sein, dass Unterscheidungen wie jene von

‘innen’ und ‘aussen’ – also die Vorstellung, dass subjektive innere Erfahrung kommunikativ für die Aussenwelt unzugänglich bleibt –, oder auch jene von

‘heilig’ und ‘profan’ auf den amerikanischen Kontext übertragen wurden und werden, wo sie sich in dieser Polarität jedoch nicht in gleicher Weise plausibel machen lassen – dies zumindest legen die Ergebnisse dieser Arbeit nahe.

Damit ist freilich nicht gesagt, dass diese Konzepte im Fall der amerikanischen Gesellschaft keinen Sinn machen würden. Die amerikanische Kultur hat aufgrund ihres besonderen historischen Werdeganges gerade auch an den religionsgeschichtlichen Entwicklungen Europas Anteil gehabt beziehungsweise ist – eine Binsenweisheit – von diesen stark beeinflusst worden.

Dennoch scheint sich besonders im Verhältnis von Transzendenz und Immanenz und im Umgang mit dem ‘Heiligen’ ein Unterschied gegenüber den europäischen Gesellschaften abzuzeichnen, dem in der vorliegenden Untersuchung nachgegangen werden soll. Als Folge einer bemerkenswerten Verbindung von innerweltlicher Wirklichkeit und von deren im Transzendenten verankerter Letztbegründung wird das amerikanische Individuum – so lässt sich hier eine der gewonnenen Einsichten vorwegnehmen – nicht so sehr auf sich selbst zurückgeworfen, als in der Welt, die in ihrer Diesseitigkeit immer auch Ausdruck des Transzendenten ist, aufgehoben. Das Individuum wird dabei in die Dynamik einer sich auch kollektiv entfaltenden Symbolik eingebunden, die einen Bruch zwischen Subjekt und Gesellschaft nicht wirklich entstehen lässt und die sich darüberhinaus in einem besonderen Zeitverständnis manifestiert.

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Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht eine empirische Untersuchung, die im Raum Boston durchgeführt wurde. Auf der Grundlage offener Interviews mit Mitgliedern aus drei religiösen Gruppen – Unitariern, Katholiken und Buddhisten – und einer je mehrmonatigen Phase der ‘teilnehmenden Beobachtung’, die der Erschliessung der Gruppenkontexte der Befragten diente, wurde versucht, in einem vergleichenden Zugang Konzeptionen von Individualität zu rekonstruieren. Die Darlegung der Ergebnisse dieser Rekonstruktionen bildet den Hauptteil der vorliegenden Arbeit. Voraus geht eine theoretische Einführung in den Begriff der Religion, so wie er im Rahmen dieser Arbeit auf der Grundlage einer phänomenologischen Theorie des Transzendierens und des Symbols verwendet wird (Kap. 1). In einem weiteren Schritt (Kap. 2) werden die theoretischen Grundlagen des Individualitätsbegriffs erörtert und im Rahmen eines überblicksartigen, relativ weit ausholenden historischen Abrisses auf die Veränderungen des Religionsverständnisses rückbezogen. Damit werden wichtige Schritte der Genese des ‘europäischen’ Individuums rekapituliert – dies mit der Absicht, gleichsam im kulturell-historischen ‘Kontrastverfahren’ die Besonderheiten des amerikanischen Falles besser beleuchten zu können. Auf den empirischen Hauptteil (Kap. 4), dem ein Methodenkapitel vorausgeht (Kap. 3), folgt mit Blick auf wesentliche Aspekte der amerikanischen historischen Entwicklung der Versuch einer Synthese der Ergebnisse, die sich insbesondere entlang der Rekonstruktion eines spezifischen amerikanischen Zeitverständnisses entfaltet, an dem sich die typischen Elemente amerikanischer Individualität, so wie sie am empirischen Ausschnitt aus der Wirklichkeit rekonstruiert werden konnten, erkennen lassen (Kap. 5).

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1. Religion, Transzendenz und die Zeichenhaftigkeit der Welt

Die Religion zielt auf ‘das Ganze’ der Welt. Es ist der umfassende Anspruch religiöser Wissenssysteme, dass sie sich auf alles und damit auf die letzten Dinge beziehen, die über die gegebene Welt hinausreichen und diese gerade deswegen konstituieren. Es gibt nichts, was vom Absolutheitsanspruch der Religion nicht erfasst würde. Religion zieht eine mehr oder weniger deutliche Linie in die Welt ein, an der ein Bereich des dem Menschen direkt Zugänglichen und Erfahrbaren – der Bereich des täglichen Lebens – von einem Bereich Gottes oder der Götter geschieden wird. Die Formen, die die historischen Religionen dafür gefunden haben, unterscheiden sich zum Teil beträchtlich im Ausmass einer konsequenten Trennung oder aber einer Fusionierung der beiden Bereiche. So oder so jedoch verliert der Kosmos durch die Religion seinen äussersten “Rand”: Jenseits von Gott oder vom göttlichen Prinzip ist nichts denkbar – auch ein möglicherweise dort aufscheinendes Nichts würde vom Göttlichen sogleich absorbiert.

Einem solchen Religionsverständnis entspricht die von Emile Durkheim in die Religionssoziologie eingeführte Unterscheidung von ‘heilig’ und ‘profan’6, wobei sich das Heilige dadurch auszeichnet, das es dem Profanen ein absolut Anderes ist und so mit diesem in radikaler Entgegensetzung eine einzigartige Unterscheidung bildet.7 Bei Durkheim allerdings verschiebt sich die Unterscheidung ins Diesseits, indem hier die Funktion der Religion an die gesellschaftliche Ordnung gebunden wird: Die zweiseitige Teilung, die das religiöse Phänomen ausmacht, bezieht sich bei ihm auf das bekannte und erkennbare Universum und bestimmt das Heilige als dasjenige, was Verbote

6 Emile Durkheim, 1994 (1912), Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt/Main, 62.

7 “In der Geschichte des menschlichen Denkens gibt es kein Beispiel zweier Kategorien von Dingen, die so tief verschieden und einander so radikal entgegengesetzt sind. Der traditionelle Gegensatz zwischen Gut und Böse ist nichts dagegen; denn das Gute und das Böse sind zwei entgegengesetzte Gattungen einer und derselben Art, nämlich der Moral, so wie die Gesundheit und die Krankheit nur zwei verschiedene Seiten einer gleichen Ordnung sind, nämlich des Lebens, während das Heilige und das Profane von den Menschen immer getrennt gedacht wurde, wie zwei Welten, zwischen denen es nichts Gemeinsames gibt.” Durkheim (1994), 64. Diesseits von dieser formal grundlegenden radikalen Entgegensetzung bestimmen sich die Bereiche des Heiligen und des Profanen

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schützen und isolieren, das Profane jedoch als das, “worauf sich diese Verbote beziehen und die von den heiligen Dingen Abstand halten müssen”8. Dass Durkheim im Zusammenhang mit dem Heiligen von heiligen “Dingen” spricht und nicht etwa vom “Heiligen” schlechthin, unterstreicht seinen inner- weltlichen Ausgangspunkt und sein Interesse an der Integrationsfunktion der Religion, die in der modernen Gesellschaft von der ‘Zivilreligion’ inform gesellschaftlich geteilter Normen übernommen wird. Die Gesellschaft wird selbst zum religiösen (Erfahrungs-) Gegenstand.9 Eine in irgendeiner Form mitgedachte Existenz des ‘Numinosen’ (Otto) ist hier kein Thema.

Dass Religion irgend etwas mit der Unterscheidung von ‘heilig’ und ‘profan’

zu tun haben soll, ist – darauf hat mit Nachdruck Joachim Matthes hinge- wiesen – eine “christozentrische Projektion par excellence”, die sich in den wissenschaftlichen Gebrauch des Religionsbegriffs “eingenistet” hat. Sie vollzieht ein der nachreformatorischen Weltsicht verpflichtetes Verständnis von einer diesseitigen, profanen Wirklichkeit einerseits sowie einem Heiligen andererseits nach, welches letzteres nicht real gegeben, sondern in symbolischer Repräsentation in ersterer aufscheint.10 Auch die Differenz von Immanenz und Transzendenz, die mit jener von ‘heilig’ und ‘profan’ in enger Verbindung steht, sieht sich leicht mit dem Vorwurf kultureller

jeweils historisch entlang der ihnen in verschiedenen Religionen unterschiedlich zugeschriebenen Inhalte, ebd., 64ff.

8 Durkheim (1994), 67.

9 Zu Durkheims “Soziologisierung” des Verhältnisses von ‘heilig’ und ‘profan’ siehe auch Horst Firsching, Matthias Schlegel, 1998, Religiöse Innerlichkeit und Geselligkeit. Zum Verhältnis von Erfahrung, Kommunikabilität und Sozialität – unter besonderer Berücksichtigung des Religionsverständnisses Friedrich Schleiermachers, in: Hartmann Tyrell, Volkhard Krech, Hubert Knoblauch, Hg., Religion als Kommunikation, Würzburg, 61: “Die authentische Erfahrung der äusseren Macht der ‘Gesellschaft’, die als kollektive Erfahrung gleichzeitig individuelle Erfahrung des Kollektivs wie Selbsterfahrung des Kollektivs als Kollektiv ist, wird in der Theorie in letzter Konsequenz als asymbolisch konzipiert. Diese Erfahrung muss nun innerhalb der Äusserlichkeit der kollektiven Vorstellungen aufbewahrt werden; der Erfahrungsgegenstand bedarf folglich einer Symbolisierung, welche aber zwangsläufig inadäquat sei – zumindest bis die Soziologie sie ‘entzaubert’ und vielleicht ersetzt…” Zur Nähe von religiöser und sozialer Form vgl. auch Georg Simmel, 1995 (1912), Die Religion, in: ders., Philosophie der Mode. Die Religion. Kant und Goethe. Schopenhauer und Nietzsche, Gesamtausgabe Band 10, Frankfurt/Main.

10 Joachim Matthes, 1993, Was ist anders an anderen Religionen? Anmerkungen zur zentristischen Organisation des religionssoziologischen Denkens, in: Jörg Bergmann, Alois Hahn, Thomas Luckmann, Hg., Religion und Kultur, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 33, Opladen, 22. Vgl. ähnlich kritisch Detlef Pollack, 1995, Was ist Religion? Probleme der Definition, in: ZfR 3, 169. Pollack weist auch darauf hin, dass die Abgrenzung eines ‘heiligen’ von einem ‘profanen’

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Selbstbezogenheit konfrontiert, vor allem dann, wenn sie unhinterfragt auf nicht-westliche Religionskontexte angewandt wird.11 Dennoch orientiert sich auch die vorliegende Arbeit zur Bestimmung des Religionsbegriffs an den zwei “Sphären” des Immanenten und des Transzendenten, dies zumal auch, als es hier nicht um einen transkulturellen Religionsvergleich (Westen/Nicht- Westen) gehen soll. Die Fragestellung bewegt sich vielmehr im eigenen erweiterten Kulturbereich – wenn die Ergebnisse auch zeigen werden, dass auch für den westlichen Kulturraum ein Differenzierungsbedarf besteht, wenn es um das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz geht. Gerade an der (US-) amerikanischen Variante westlicher Tradition lässt sich aufzeigen, wie problematisch eine strikt gedachte Polarität von ‘heilig’ und ‘profan’ und von

‘transzendent’ und ‘immanent’ ist.

Setzt man zuerst einmal an vormodernen Kulturen an und geht im religionstheoretischen Denken von einem ‘Heiligen’ aus, stellt sich sogleich die Frage, worum es sich denn bei diesem überhaupt handelt. Für die meisten Religionen ist der heilige Raum ein wesentliches Element des religiös- mythischen Weltbildes. Dies lässt sich selbst da noch erkennen, wo, wie im Falle der Puritaner Neuenglands, die Kirche durch ein prosaisches ‘meeting house’ ersetzt wurde, um dadurch das Sakrale gleichsam auf die ganze Stadt als der Gemeinde der Auserwählten und damit auf den ganzen Lebenszusammenhang auszuweiten – und nicht, um die Bedeutung des heiligen Raumes säkularisierend zu relativieren: die “city upon a hill” wird schliesslich auch räumlich gleichbedeutend mit einem irdischen Paradies fern der Sündhaftigkeit der Alten Welt und stellt so die gewissermassen grösstmögliche Ausdehnung des Heiligen im Diesseits dar. Hier findet sich eine extreme Form dessen, was Mircea Eliade als ‘heiligen Raum’ (‘sacred

Bereich oft praktisch nicht so eindeutig ausfällt, wie das von Religionswissenschaftlern theoretisch gemeinhin suggeriert wird.

11 Besonders brisant wird es, wenn – worauf u.a. Matthes (1993), 28f., hinweist – das westliche Religionsmodell und der westliche Religionsbegriff, für welchen sich im ausserwestlichen und im vorrömischen Kulturbereich kein entsprechendes Äquivalent finden lässt, in fremde Kulturen exportiert und dort zur Analyse religiöser Phänomene herangezogen werden. Vgl. dazu auch Friedrich H. Tenbruck, 1993, Die Religion im Maelstrom der Reflexion, in: Jörg Bergmann, Alois Hahn, Thomas Luckmann, Hg., Religion und Kultur, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 33, Opladen, 55ff. Zur Kultur- und Sprachgebundenheit des Religionsbegriffs vgl. auch Art. ‘Religion’, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Hg., 1992, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Darmstadt, 632f.

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space’) identifiziert hat: die Ausgrenzung eines besonderen Territoriums vom Rest der Welt, das so zu einem qualitativ ‘anderen’ Raum wird. Im Zuge der Weihung eines solchen Territoriums entsteht aus dem Chaos ein göttlicher Kosmos. Der göttliche Kosmos wird im Diesseits “wiederholt” und die Welt so erst eigentlich begründet und geordnet.12

Die Religion bestimmt sich jedoch nicht allein durch eine besondere Symbolik des Raumes, sondern auch durch ein besonderes Verhältnis zur Zeit.13 Dieses gestaltet sich je nach religiöser Tradition verschieden, immer jedoch mit der Absicht, die Zwänge der irdischen Zeit mit ihrer Unerbittlichkeit des Irreversiblen und des Vergänglichen mit der Vorstellung einer – sieht man von der christlich-jüdischen Religionstradition mit ihrem linearisierten Zeitbegriff ab – unendlichen “Wiederkehr des Gleichen” und einer ewigen Präsenz der mythischen Kraft und des Göttlichen zu durchbrechen. Beide Konzepte, das eines heiligen Raumes und das einer heiligen Zeit, legen ein Religions- verständnis nahe, das an “radikale” Transzendenz gebunden ist. Das Heilige ist das ganz Andere, das unbegrenzt Mächtige, das Unheimliche, das Geheime und Geheimnisvolle, das Nicht-Irdische und Nicht-Menschliche, wenn es auch in dieser oder jener Form innerhalb der Welt aufscheint und hier im Irdischen

“Hinweise” auf sich selbst erzeugt.14

12 Mircea Eliade, 1987, The Sacred and the Profane. The Nature of Religion, San Diego, 26ff.

13 Eliade (1987), 68ff. Vgl. z.B. auch zum besonderen Zeitverständnis Altägyptens Jan Assmann, 1992, Das Doppelgesicht der Zeit im altägyptischen Denken, in: Heinz Gumin, Heinrich Meier, Hg., Veröffentlichungen der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Band 2: Die Zeit. Dauer und Augenblick, München, Zürich.

14 Vgl. Rudolf Otto, 1991, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München. Otto unterscheidet begrifflich zwischen

‘Numinosem’ und ‘Heiligem’. Während das ‘Heilige’ sowohl aus rationalen wie auch aus irrationalen Bestandteilen zusammengesetzt ist, bezieht sich das ‘Numinose’ auf das Irrationale allein, indem hier von den Momenten des Sittlichen und des Rationalen abgesehen wird: “Da unser Sprachgefühl heute zweifellos immer das Sittliche unter Heilig einbezieht so wird es dienlich sein bei Aufsuchung jenes eigentümlichen Sonder- bestandteiles, wenigstens für den vorübergehenden Gebrauch unserer Untersuchung selbst, einen besonderen Namen dafür zu erfinden der dann bezeichnen soll das Heilige minus seines sittlichen Momentes und, wie wir nun gleich hinzufügen, minus seines rationalen Momentes überhaupt.” A.a.O., 6. Entsprechend ist das Numinose auch nicht

“lehrbar”, sondern nur “anregbar” und “erweckbar”. Es setzt sich aus dem Element des

“Schauervollen” genauso wie aus jenem des anziehenden Faszinosums und des Wundervollen zusammen, a.a.O., 43ff. Hier schliesst auch Peter L. Bergers an Schleiermacher und Otto orientierte Religionssoziologie an, wenn er in der Domestizierung der religiösen Erfahrung “eine der fundamentalsten sozialen wie auch psychologischen Funktionen religiöser Institutionen” sieht, siehe Peter L. Berger, 1980, Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Frankfurt/Main, 63.

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Mit dem Übergang der mittelalterlichen in die frühmodernen europäischen Gesellschaften entlang der bekannten sozialstrukturellen und kulturellen Ausdifferenzierungsprozesse verändern sich auch die gesellschaftlichen Bedingungen der Religion. Mittlerweile ist klar geworden, dass der im europäischen Mittelalter begründete umfassende Welterklärungsanspruch des Christentums zwar einen beträchtlichen Stoss in seinen inhaltlichen Grundfesten erfahren hat, so dass er zunehmend ins Glied konkurrierender weltanschaulicher Konzepte hat zurücktreten müssen. Gleichzeitig hat die Moderne der Religion und der kollektiven wie individuellen religiösen Erfahrung das Licht jedoch keineswegs ausgeblasen – im Gegenteil, wie nur schon ein Blick auf die rege religionsphilosophische Tätigkeit an der Wende zum neunzehnten Jahrhundert (Schleiermacher und andere) deutlich macht.

Ebenso aufschlussreich ist in soziologischer Perspektive, dass insbesondere auch “unterhalb” der intellektuellen Eliten das religiöse Interesse mit der Moderne in Europa nicht verblasst ist. Kirchen- und konfessionssoziologische Zugänge zum Phänomen der Religion in der modernen Gesellschaft haben hier eher in die Irre geleitet und eine vielschichtigere Sicht des Problems verbaut, wie bereits vor langer Zeit festgestellt wurde.15 Nicht erst wieder seit der – unter anderem – religiösen Experimentierphase der sechziger Jahre, sondern seit den Anfängen des Zeitraums, den wir als Moderne und – darüberhinaus – als Neuzeit bezeichnen, bleibt Religion ein lebensweltliches Thema für viele Menschen. Entsprechend hat die jüngere religionshistorische Forschung das zählebige Paradigma eines kontinuierlich voranschreitenden Säkularisierungs- prozesses zugunsten eines Modells, das Phasen der Sakralisierung und Resakralisierung beziehungsweise der Rechristianisierung von solchen der Säkularisierung unterscheidet, aufgegeben.16 Dennoch bleibt es trotz der weit zurückreichenden und bis heute kulturwirksamen Kontinuitäten im

15 Siehe Thomas Luckmann, 1960, Neuere Schriften zur Religionssoziologie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 315-326.

16 Jüngere, aus einem entsprechenden interdisziplinären Forschungsschwerpunkt des Max- Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen hervorgegangene Fragestellungen und Forschungsergebnisse sind in einem von Hartmut Lehmann herausgegebenen Sammelband zusammengestellt, siehe Hartmut Lehman, Hg., 1997, Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen. Siehe auch Hartmut Lehmann, 1994, Aktueller Forschungsschwerpunkt: Dechristianisierung, Säkularisierung und Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa, in: Max-Planck-Gesellschaft Jahrbuch 1994, hg. von der Generalverwaltung der Max-Planck-Gesellschaft München, Göttingen, 592-597.

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geschichtlichen Prozess wichtig, den historisch-soziologischen Blick auch weiterhin auf die Diskontinuitäten und Zäsuren fokussiert zu halten. So sind zwar die moderne Naturwissenschaft und das ihr entsprechende Weltbild historisch nicht zu denken, ohne dass man deren religiöse Wurzeln aufdeckt.

Wohl kaum irgendwo wird das Herauswachsen der modernen Wissenschaft aus dem christlichen Mittelalter so deutlich wie im europäischen siebzehnten Jahrhundert.17 Die Folgen, die dieser Umbruch dann jedoch vor allem für die späteren Phasen der Moderne in ihrem Selbstverständnis zeitigt, sind unübersehbar und tief. Sie betreffen mehr die Pluralisierung weltanschaulicher Konzepte als die Säkularisierung christlicher Glaubens- überzeugungen.18 Ein neues Wissenschaftsverständnis ist dafür ebenso verantwortlich wie die – damit in Zusammenhang stehende – geographische und kulturelle Entdeckung der aussereuropäischen Welt – gleichsam die

“Globalisierung” der frühen Neuzeit, oder besser: der Versuch einer

“Europäisierung” bislang unbekannter Weltregionen. Ein sozialstruktureller Ausdifferenzierungsprozess, der auch innerhalb der europäischen Gesell- schaften zu Veränderungen führt, indem er mehr oder weniger voneinander unabhängige, zunehmend nach eigenen Gesetzen und Regeln funktionierende

‘Teilsysteme’ hervorbringt, löst den religiösen Zusammenhang auf: auch die Religion wird zu einem gesellschaftlichen Subsystem. Sie wird – so Alois Hahn – zunehmend zu einem ausdifferenzierten Funktionsbereich und lässt sich nicht mehr als eine alle Lebensbereiche umfassende Zugehörigkeit verstehen. Aus der konfessionellen Identität wird eine Funktionsidentität. Die strukturelle Ausklammerung der Religion geht dabei intellektuell formuliertem Zweifel voraus und macht diesen erst “sozial kursfähig”: “Nicht der kognitive Konkurs führt zur Begrenzung der Anschlussfähigkeit der Religion, sondern ihre Untauglichkeit zur sozialen Integration der Gesamt- gesellschaft führt zu ihrer Verwandlung in einen funktional ausgliederbaren Aspekt der Daseinsführung.”19 Die Gründe dafür sieht Hahn im Scheitern einer Einigung über konfessionelle Divergenzen und im Nichtgelingen der

17 Vgl. Donald H. Pennington, 1989, Europe in the Seventeenth Century, London, New York.

18 So argumentiert auch Peter Berger, der jedoch an der Säkularisierungsthese für den europäischen “Sonderfall” festhält, siehe Peter L. Berger, 1993, A Far Glory. The Quest for Faith in an Age of Credulity, New York, 31f.

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gewaltsam versuchten Schaffung eines “Konsenses”. Die Religion wird durch diese Prozesse von ihrer zentralen Rolle als Identifikationsinstanz durch den Staat beziehungsweise durch die Nation abgelöst.20

Ohne also die Kontinuitäten zu unterschätzen, die sich über eine historisch- kulturelle Zäsur, wie sie das Aufkommen der modernen Welt mit ihren weitreichenden Folgen darstellt, hinweg erstrecken, gilt es dennoch auch das Neue als solches zu erkennen und zu kennzeichnen, besonders da, wo sich das Neue der Moderne auch an den Formen der Religion festmachen lässt. Die Letztabgeschlossenheit des Denkens und Handelns im religiösen Weltbild des Mittelalters bedeutete Aufgehobensein des Menschen als Teil – dem eigentlichen Kernstück – im Plan Gottes. Letzte Sinnfragen fanden hier ihren Abschluss, und insbesondere die Frage nach dem Tod fand eine Antwort.

Mit Bernhard Groethuysen21 betonen heute auch manche Religionssoziologen die wesentlichen Differenzen, die zwischen einem mittelalterlichen und einem neuzeitlichen christlichen wie auch zwischen einem europäisch-christlichen und einem aussereuropäischen Religionsverständnis bestehen.22 In der allgemeinen Frömmigkeit des Mittelalters lässt sich der Glaube nicht vom Leben separieren. Groethuysen hat diesen mittelalterlichen Glauben als

“schlichten Glauben” bezeichnet, der nicht auf abstrakte Wahrheit und auf Dogmen zielt, sondern Welt und Religion in einem umfassenden “way of life”

(Groethuysen) zusammenschliesst. Der Glaube ist hier gleichsam etwas

“Natürliches”, das nicht im Konkurrenzkampf mit der Welt liegt, sondern sich in dieser Welt als Teil dieser Welt ausdrückt. Dem einzelnen Menschen wird weder ein Glaubensentschluss noch eine Entscheidung für ein bestimmtes Bekenntnis abverlangt. Dies ändert sich mit der Reformation und den durch sie ausgelösten Turbulenzen, in welchen nun auch die Grundfesten des mittelalterlichen Weltbildes ins Wanken geraten. Die Autorität der Kirche und der Absolutheitsanspruch der Religion erfahren eine Neuformulierung erst, als die Redimensionierung von letzterer zu einem gesellschaftlichen Subsystem

19 Alois Hahn, 1997, Religion, Säkularisierung und Kultur, in: Lehmann (1997), 21.

20 Hahn (1997), 21.

21 Bernhard Groethuysen, 1927, Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebens- anschauung in Frankreich, Bd. 1, Halle/Saale.

22 Unter Bezug auf Groethuysen (1927) siehe Hahn (1997) sowie Alois Hahn, 1987a, Religion und Welt in der französischen Gegenreformation, in: Dirk Baecker et al., Hg.,

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beginnt, diesen Anspruch in seiner ursprünglichen Form zu hinterfragen und zu brechen. Erst vor dem Hintergrund dieser Entwicklung kann sich die Vorstellung herausbilden, dass Religion und Leben zweierlei Dinge sind, oder – wie Joachim Matthes sich ausdrückt –, dass sich Religion als etwas vom übrigen Leben “Apartes” begreifen lässt.23 Die darauf aufbauenden neuzeitlich-europäischen Konzepte der Religion etwa bei Emile Durkheim, der – wie bereits erwähnt – auf der Differenz von Sakralem und Profanem aufbaut oder bei Niklas Luhmann, der die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz seinem Religionsbegriff zugrunde legt24, verfehlen aufgrund dieses Ethnozentrismus gemäss Matthes das Religionsverständnis sowohl der europäischen Vormoderne wie auch jenes der ausser-europäischen Gesellschaften. Vor dem Hintergrund dieser im folgenden am empirischen Material zu reflektierenden konzeptuellen Grenzen wird im Rahmen dieser Arbeit dennoch von einem Religionsbegriff ausgegangen, dem die Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz zugrundeliegt und damit – im Anschluss an die Appräsentationslehre von Husserl – das Phänomen des Transzendierens schlechthin.

Dies führt zuerst einmal weg von den historischen Erscheinungsformen der Religion und hinein in einige grundlegendere Zusammenhänge, die sich nicht nur für Religion, sondern für gesellschaftliche Phänomene im allgemeinen als konstitutiv verstehen lassen. Dabei handelt es sich um den Zusammenhang von Transzendieren als einem phänomenologischen Konzept und Transzendenz als einem anthropologischen und religiösen “Tatbestand”

einerseits sowie um den zeichenhaften Charakter der Welt menschlichen

Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag, Frankfurt/Main. Vgl. auch Matthes (1993) sowie Tenbruck (1993).

23 Matthes (1993), 23: “Da ist, zum Beispiel, die Konnotation von der ‘Religion’ als etwas

‘Apartem’, als ein Etwas, das sich als eine eigene und eigenartige Gefühls-, Denk- und Handlungswelt darstellt, apart von dem, was man sonst noch alles fühlt, denkt und tut.

Diese Konnotation stellt eine gleichsam ‘säkularisierte’ Version der asymmetrischen und in sich doppeldeutigen kulturellen Unterscheidung von ‘heilig’ und ‘profan’ dar. Dem westlichen Christenmenschen ist spätestens seit der allmählichen Auflösung der nachreformatorischen sozialen Formen der Frömmigkeit mehr und mehr geläufig geworden, sein ‘religiöses’ Leben – und überhaupt die Existenz von ‘Religion’ – als eine eigene, gesonderte Sphäre zu erfahren und zu betrachten.”

24 Niklas Luhmann, 1993a, Die Ausdifferenzierung der Religion, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt/Main, v.a. 313ff.

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Verhaltens und Handelns andererseits. Der Gebrauch von Zeichen und Symbolen ist für menschliche Existenz konstitutiv, insofern letztere immer in irgendeiner Weise über sich “hinausreicht”, das heisst auf eine Welt hin transzendiert werden kann, die als über den einzelnen Handelnden hinaus als weiter und grösser erfahren wird.

Transzendenzieren und die Zeichenhaftigkeit der Welt sind eng miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig. Zeichen erhalten ihren Sinn in einer Welt, in der Handelnde die Erfahrung von Grenzen und von – je nach Situation – möglicher wie auch unmöglicher Grenzüberschreitung machen. Es ist der Verweischarakter der Zeichen, ihr Hinweisen auf das jeweils Andere, das sie zu einem wesentlichen Mittel der kommunikativen Bewältigung von Erfahrung als Grenzerfahrung macht.

Wir leben in einer Welt voller Zeichen, die menschliches Handeln und Verhalten interpretierbar machen. Der menschliche Interpretationshorizont formiert sich dadurch, dass Handelnde sich selbst und ihrer Umwelt Zeichenqualitäten zuordnen und immer dazu gezwungen sind, alles Wahrnehmen, Verhalten und Handeln zu deuten.25 Zeichen – die sich sowohl auf sprachliches wie auf nichtsprachliches Handeln und Verhalten beziehen – bilden einen grundlegenden Bestandteil unseres lebensweltlichen Wissens. Als Menschen werden wir – so Hans-Georg Soeffner – “in eine von anderen Menschen bereits weitgehend ausgedeutete Welt hineingeboren”26, in der wir den Umgang mit Zeichen in der Interaktion mit anderen lernen. Damit erschliesst sich uns der Sinn der Welt in ihrer Zeichenhaftigkeit. Die einzelnen Zeichen sind dabei Teil eines übergeordneten Zusammenhangs beziehungs- weise eines Zeichensystems, dem Systematik jedoch nicht per se zukommt, sondern nur als Resultat unserer Sinnorientierung:

“… die von uns konstruierten Zeichen-, Symbol- und Verweisungssysteme repräsentieren die Strukturen unserer Sinnorientierung. Ihre Systematik ist unser Produkt. In ihr bestätigen wir unsere eigenen Hypothesen über die

25 Hans-Georg Soeffner, 1991, Zur Soziologie des Symbols und des Rituals, in: Jürgen Oelkers, Klaus Wegenast, Hg., Das Symbol – Brücke des Verstehens, Stuttgart, 65.

26 Soeffner (1991), 66.

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Strukturiertheit der Welt, über eine Strukturiertheit, die sich ihre Ordnung aus den Strukturen unserer Wahrnehmung und Zeichenverwendung entleiht.”27

Zeichen verweisen auf das jeweils andere, nicht unmittelbar Gegebene. Sie repräsentieren etwas, das nicht unmittelbar sichtbar ist und verweisen uns als

“Erinnerungsmarken” (Soeffner) auf das von ihnen Repräsentierte und

‘appräsentieren’ es damit. Mit dem von Husserl so genannten Prinzip der Appräsentation ist der fundamentale Wahrnehmungsvorgang der

‘Mitvergegenwärtigung’ gemeint, in dem jedem erfahrenden Bewusstsein über die unmittelbare Erscheinung hinaus ein Nicht-Sichtbares, jedoch zur Erscheinung Gehörendes appräsentiert, wieder herbeigeschafft, beziehungs- weise mitvergegenwärtigt wird. Der Vorgang der Appräsentation verläuft in passiver Synthesis des Bewusstseins und meint ein primordiales Schliessen von einem Präsenten auf ein Nicht-Präsentes.28 Damit erschliesst sich gleichsam eine Welt “hinter” der Welt, die auf die sichtbare Welt zurückverweist. Symbole schaffen “Zugang” zu dieser “Welt dahinter”. Sie tun dies selten in geradliniger Weise, und in manchen Fällen bleibt die unsichtbare Welt jedem Versuch des Eintritts zuletzt verschlossen. Hier lässt sich dann – weiter unten – der Begriff – oder besser: ein Begriff – der Religion anschliessen.

Soeffner, dessen theoretisches Modell zur Erfassung des Zeichencharakters der Welt hier anleitend sein soll29, fasst die Appräsentation als dreistellige Beziehung und legt sie einer Theorie der Intersubjektivität zugrunde.30 Die Appräsentation ist die Beziehung zwischen einem appräsentierenden Element, dem appräsentierten Element und dem erfahrenden Bewusstsein.

27 Soeffner (1991), 66.

28 Soeffner (1991), 68.

29 Soeffner (1991) stützt sich unter anderem auf die entsprechenden grundlegenden Arbeiten von Edmund Husserl und vor allem von Alfred Schütz und Thomas Luckmann, wobei er deren jeweilige Konzeptionen weiterentwickelt, siehe Jochen Dreher, o. J., Die Entwicklung des Symbolbegriffs im Werk von Alfred Schütz. “Die Überwindung der Transzendenzen der Lebenswelt durch Zeichen und Symbole”, Magisterarbeit, Konstanz, 120ff. Bei den Arbeiten der genannten Autoren handelt es sich um Edmund Husserl, 1950, Husserliana – E.H., Gesammelte Werke Bd. I, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Hg. Stephan Strasser, Den Haag; Edmund Husserl, 1958 Husserliana, Bd. II, Die Idee der Phänomenologie, Fünf Vorlesungen, Hg. und eingeleitet von Walter Biemel, Den Haag; Alfred Schütz, 1932 (1974), Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt.

Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Frankfurt/Main; Alfred Schütz, Thomas Luckmann, 1979 und 1984, Strukturen der Lebenswelt, 2 Bde, Frankfurt/Main.

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Appräsentation ist demnach die “primäre, Intersubjektivität stiftende Erfahrung”: ein sich selbst unmittelbar, ‘primordial’ gegebenes Ich erfährt ein anderes koexistierendes Ich (ein ‘alter’), zu dem kein unmittelbarer Zugang besteht, als ‘Mit-da’ und als Mitmenschen. Sozialität konstitutiert sich entsprechend auf der Grundlage von Appräsentation als der Anschauungsform transzendentaler Intersubjektivität: “Die menschliche Gesellschaft ist im wesentlichen eine Beobachtungs-, Darstellungs- und Interpretations- gesellschaft von einander appräsentierenden Subjekten, die in einer

»Monadengemeinschaft« miteinander leben.”31

Die Mittel, mit denen in der Beobachtungs-, Darstellungs- und Interpretationsgesellschaft operiert wird, sind Zeichen beziehungsweise Symbole, welche einen Spezialfall von Zeichen darstellen. Zur Differenzierung verschiedener Ebenen der Zeichenverwendung beziehungs- weise der unterschiedlichen Verweisungszusammenhänge von Zeichen schlägt Soeffner ein “drei-Sphären-Modell” vor, das an das Konzept der Transzendenzen bei Schütz und Luckmann anschliesst und auf drei konzentrisch auseinander hervorgehenden Sphären gesellschaftlichen Handelns und Wissens aufbaut. In den Strukturen der Lebenswelt unterscheiden diese drei Ebenen von Transzsendenz: sogenannt “kleine”,

“mittlere” und “grosse” Transzendenzen.32 Auf der Ebene der “kleinen”

Transzendenzen haben wir es mit der Grunderfahrung von Raum und Zeit zu tun, insofern es sich dabei um unmittelbar überschreitbare Grenzen handelt.

Mann kann, zum Beispiel, jetzt gerade an einem bestimmten Ort sein und diesen soeben auf einen anderen hin “überschreiten”, indem man sich in Raum und Zeit repositioniert. Die Grenzen, die durch die “mittleren”

Transzendenzen gegeben sind, sind nicht konkret und unmittelbar über- schreitbar, sondern nur mittelbar bewältigbar. Hier haben wir es mit der Welt der Anderen zu tun, also mit unseresgleichen. Dabei kann es sich um aktuell in der face-to-face-Beziehung Anwesende handeln oder aber um nicht an- wesende Zeitgenossen sowie auch um nicht mehr anwesende Vorfahren.33 Ohne die Grenze zum anderen überschreiten zu können, sind wir in der Lage,

30 Soeffner (1991), 68.

31 Soeffner (1991), 68.

32 Alfred Schütz, Thomas Luckmann, 1994, Strukturen der Lebenswelt, Bd. 2, 139ff.

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von unseren eigenen Erfahrungen her auf diejenigen des anderen zu schliessen und unser Handeln entsprechend zu gestalten. Dabei orientieren wir uns am

“Aussen” und leiten daraus gewissermassen die “innere” Erfahrung des anderen ab: “Das »Aussen« des anderen verköpert ein »Innen«, das als solches nicht unmittelbar erfahren werden kann. Aber es verköpert es so vertraut, dass wir meinen können, das Innen sei unmittelbar im Äusseren erlebbar.”34 Wir meinen es, und wir handeln entsprechend. Dabei sind jedoch die Welt in meiner Reichweite und die Welt in der Reichweite des anderen nie identisch, da sich die gemachten lebensweltlichen Erfahrungen aufgrund der unterschiedlichen und je einzigartigen Lebenssituationen nie ganz decken. In der Welt der Mitmenschen, in der Welt der gegenwärtigen anderen als der anderen “in meiner Reichweite” also, in der der andere in seiner Körperlichkeit unmittelbar gegeben ist, verweist die Erfahrung über die Wahrnehmung einer typischen Gestalt des Körpers hinaus. Sie erschöpft sich nicht in dieser Wahrnehmung: “Der Körper, den ich wahrnehme, verweist auf etwas, das ich nicht wahrnehmen kann, von dem ich aber »weiss«, dass es mit- gegenwärtig ist: ein Innen. In dem Wahrnehmungskern der Erfahrung ist mir der Andere von aussen gegeben, aber eben nicht als ein blosses Aussen; in der vollen Erfahrung ist mir sein Innen mit-gegeben. Das andere, dessen Körper ich wahrnehme, ist in der Erfahrung von vornherein meinesgleichen.”35 Wie Schütz und Luckmann in den Strukturen der Lebenswelt selbst bemerken, haben wir es hier mit einem “merkwürdigen »Wissen«” zu tun.36 Die Wahrnehmung des Körpers beschränkt sich nie nur auf diesen selbst, man

“weiss” immer – und das anleitende Modell hier ist die Appräsentation –, dass zum Aussen ein Innen “dahinter” gehört. Bei diesem “Zusprechen” eines Innen zu einem Aussen findet eine “Sinnübertragung von mir auf anderes”

statt. Wie Schütz und Luckmann festhalten, ist es insbesondere bei der

“Sinnübertragung” auf Gegenstände fraglich und etwas willkürlich, in welchen Fällen man einen Sinn der Art “meinesgleichen” oder “fast meinesgleichen” zuschreibt und wann man von “nur in wenigen Punkten vielleicht meinesgleichen” oder “ganz und gar nicht meinesgleichen” spricht.

33 Vgl. dazu Schütz/Luckmann (1994), Bd. 2, 151ff.

34 Thomas Luckmann, 1991, Die unsichtbare Religion, Frankfurt/Main, 168f.

35 Schütz/Luckmann (1994), Bd. 2, 153.

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Hier verweisen die Autoren auf die in historischen Lebenswelten übergeordneten, von gesellschaftlich objektivierten Deutungssystemen abgeleiteten Wissenselemente, die die konkreten Ausprägungen der Typisierungen mitbestimmen.37

Die “grossen” Transzendenzen schliesslich stellen grundsätzlich unüberschreitbare Grenzen zu anderen Wirklichkeiten dar. Es sind die Grenzen, die durch diese “grossen” Transzendenzen markiert werden, auf die – wie weiter unten gezeigt werden soll – Religion zielt und woher sich ihre Funktion erklären lässt. “Mittlere” Transzendenzen und die durch sie markierten Grenzen sind ebenso wie “kleine” Transzendenzen im Unterschied zu den “grossen” Transzendenzen im Bereich des Alltags angesiedelt:

“Hingegen kann er [der Mensch, cm] im Unterschied zu den ‘grossen’

Transzendenzen über diese Grenze nicht nur hinüberblicken, sondern auch die dahinterliegende Landschaft in deutlichen Umrissen erkennen. Sie gleicht in ihren Hauptzügen der ihm vertrauten, heimatlichen.”38

Soeffner schliesst mit seinem drei-Sphären-Modell an den “mittleren”

Transzendenzen des Sozialen an.39 Er unterscheidet drei Ebenen der Bewältigung mittlerer Transzendenzen des Sozialen, die jeweils mit einem bestimmten Zeichengebrauch verbunden sind. Dabei interessiert ihn vor allem der Zusammenhang von Wahrnehmung und Erfahrung einerseits sowie der damit einhergehenden, die Ordnung des Sozialen fundierenden Zeichenkonstitution andererseits:

“Wie aber lässt sich der Zusammenhang von Wahrnehmung bzw. Erfahrung und Zeichenkonstitution, von Zeichenwahrnehmung und Zeichengebrauch,

36 Schütz/Luckmann (1994), Bd. 2, 153.

37 Schütz/Luckmann (1994), Bd. 2, 154.

38 Schütz/Luckmann (1994), Bd. 2, 152.

39 Hubert Knoblauch weist darauf hin, dass diese Konzeption jener von Schütz entspricht, da für letzteren Symbole nicht nur Erfahrungstranszendenz bewältigen, sondern auch auf die Transzendenz der Gesellschaft verweisen, ebenso wie Anzeichen und Markierungen in Interaktionen über die situative Handlungskoordination hinaus auch als Träger von sozialen Typen dienen: “soziale Position, Status, Rolle und Prestige lassen erkennen, welche Markierungen und Anzeichen und andere Hinweise auf den sozialen Status einer Gruppe sozial approbiert sind.” Siehe Hubert Knoblauch, 1995, Kommunikationskultur.

Die kommunikative Konstruktion kultureller Kontexte, Berlin, New York, 82.

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von zeichenhaft und symbolisch vermittelten Interaktions- als Lernprozessen und relativ festgefügten, situationsübergreifenden Wissensbeständen und Handlungsmustern beschreiben? Wie wird dieser Zusammenhang konstituiert? Wie lernen wir, mit der ‘Welt’ der Zeichen und der Zeichengebundenheit der Interaktion umzugehen?”40

Die drei Ebenen, auf denen wir uns bewegen und das Soziale dadurch mitkonstituieren, sind erstens die Welt in unmittelbarer Sicht- und Reichweite, die Wir-Welt, Mitwelt und Wirkwelt, die in der face-to-face-Beziehung gründet; zweitens die Welt in ‘potentieller Reichweite’, die Welt des vermittelten, institutionell bestimmten Handelns und Wissens; und drittens die Welt des symbolisch ausgeformten Wissens, der Kosmien und Weltbilder.

Jede der drei Sphären konstituiert, so Soeffner, einen spezifischen appräsentativen Verweisungszusammenhang.41 Die drei Sphären stehen jedoch keineswegs einfach nebeneinander, so dass wir uns gleichsam nur auf jeweils einer Ebene bewegen würden und von Ebene zu Ebene “springen” könnten.

Sie existieren für die Handelnden gleichzeitig42 und auch dort, wo die Wissensbestände wie in der dritten Sphäre über die vis-à-vis-Interaktion hinausreichen, wirken sie auf diese ein. Während also mit jeder der mit den drei Sphären verbundenen Handlungs- und Wissensebenen die jeweils anderen beiden verwoben sind, eröffnet sich mit dem Überschreiten der Sektorengrenzen ein jeweils anderer Auslegungs- und Sinnhorizont, was sich in der Verwendung besonderer Zeichenarten ausdrückt.

Die Gesellschaft stellt somit eine Wirklichkeit dar, die sich als Deutungszusammenhang fassen lässt. Dieser Deutungszusammenhang ent- steht, reproduziert und variiert sich im sozialen Handeln. Soziales Handeln findet unter Verwendung von Zeichen statt. Die Welt ist uns in ihrer Zeichenhaftigkeit gegeben, und deswegen erscheint sie uns als ein sinnhafter Ordnungszusammenhang, in dem durch Deuten und Interpretieren mithilfe von Zeichen und Symbolen Handeln möglich ist. Historisch-kulturell ge- wachsene Zeichensysteme erlauben so, die Mehrdeutigkeit und Komplexität der Welt zu bewältigen. Die Zeichen, so Soeffner, suggerieren

40 Soeffner (1991), 66.

41 Soeffner (1991), 69.

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“eine Ordnung, weil sie ihre Legitimation und ‘Existenz’ als Einzelzeichen aus einem übergeordneten Zusammenhang ableiten: Sie suggerieren – trotz aber auch wegen ihrer prinzipiellen Mehrdeutigkeit – die Existenz von Zeichensystemen, weil sie in Verkettungen auftreten und aufeinander verweisen. Zugleich bleiben sie selbst den Beweis ihrer Systematik schuldig – auch wenn wir uns aus praktischen Zwängen (Verständigung, Kooperation, Konsensunterstellung etc.) oder artifiziell-theoretischer Verführbarkeit (Harmonie-, Erklärungs- und Gestaltschliessungsbedürfnis) als Systemkonstrukteure betätigen.”43

Mit den auf der Grundlage der Appräsentation den drei Sphären zugeordneten drei Verweisungszusammenhängen verfeinert Soeffner – worauf Hubert Knoblauch hinweist44 – das von Ilja Srubar vorgeschlagene Modell einer kommunikativen Kultur. Srubar spricht in Bezug auf spezifische kulturelle Bedeutungssysteme von “Appräsentation” und fasst damit Kultur selbst als Appräsentationssystem, was nach Knoblauch die Vielfältigkeit und Unterschiedlichkeit der Zeichenarten, die lediglich auf der Appräsentations- leistung des Bewusstseins basieren, nicht adäquat zu erfassen vermag.45 Soeffner geht demgegenüber von drei Bedeutungshorizonten aus, die sich als Verweisungszusammenhänge in Interaktionen finden. Die Sphäre der unmittelbaren Wir-Welt strukturiert sich über Anzeichen, Merkzeichen und Symptome, die unmittelbar erschlossen und gedeutet werden.46 Soeffner bezieht sich auf Schütz und nennt dies die “immanente Transzendenz”

(Schütz) der Appräsentation:

“Appräsentierendes und appräsentiertes Element gehören in der Regel zum gleichen ‘geschlossenen Sinnbezirk’, dem des alltäglichen Lebens. Gegen- stände sind das, als was wir sie hic et nunc benutzen. Ereignisse sind das, auf was wir hier und jetzt reagieren. Individuen begegnen einander als

42 Soeffner (1991), 67.

43 Soeffner (1991), 66.

44 Hubert Knoblauch (1995) 79f. Vgl. Ilja Srubar, 1988, Kosmion. Die Genese der pragmatischen Lebenswelttheorie von Alfred Schütz und ihr anthropologischer Hintergrund, Frankfurt/Main.

45 Knoblauch (1995), 80.

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Mitmenschen mit jeweils einzigartigen, aber wechselseitig vermittelbaren Biographien.”47

In der Sphäre der ‘Welt in potentieller Reichweite’, also der Welt des vermittelten institutionell bestimmten Handelns und Wissens, haben wir es mit der symbolischen Appräsentation (erster Stufe) zu tun: “das Appräsentierende erscheint in der Wirkwelt, das Appräsentierte dagegen verdankt sich den jeweiligen gesellschaftlichen Konstruktionen und Auslegungen der Wirklich- keit.”48 Hier wird über die unmittelbare Handlungssituation hinausverwiesen (so wird, um zwei diesen Sachverhalt illustrierende Beispiele Soeffners anzuführen, aus dem Mann in glänzendem Eisen ein Ritter und aus demjenigen im blauen Anzug ein Postbote). Das über die unmittelbare Interaktionssituation hinausweisende Appräsentierte wird mit Indirektheit und Anonymität des Verweisungszusammenhanges erkauft. Das Entscheidende dieser Appräsentationsbeziehung ist, dass sie die Voraussetzung von dauerhaftem kollektivem Handeln bietet. Kollektives Handeln und damit die Dauerhaftigkeit von sozialen Beziehungen beruhen, so Soeffner unter Bezug auf Max Weber, “in der Chance, Handeln kollektiv zu organisieren, zu interpretieren und damit als erwartbar, motiviert und kalkulierbar darzustellen”49. Da über die unmittelbare Interaktion hinausverwiesen wird und das Appräsentierende damit im Vergleich zur ersten Sphäre die Qualität der Indirektheit erhält, wird hier entsprechend vom Symbolcharakter des Appräsentierenden gesprochen.

Bei der dritten Sphäre schliesslich könnte man – so Soeffner – von einem

“verdoppelten Symbolismus” sprechen. Diese Sphäre umfasst die Welt des symbolisch ausgeformten Wissens, der Weltbilder und Kosmien. Warum

“verdoppelter Symbolismus”? Weil hier, so Soeffner, das Repräsentierte die Erscheinung legitimiert. Die Erscheinung ist “der Abkömmling dessen, was (‘in Wahrheit’) wirklich ist”50. Damit verschiebt sich die ‘eigentliche’

Wirklichkeit ins Transzendente und lässt das Erscheinende zu einem “Nichts”

46 Vgl. die Unterteilung in Alfred Schütz, 1973a, Symbol, Reality and Society, in: Alfred Schütz, Collected Papers I. The Problem of Social Reality, The Hague.

47 Soeffner (1991), 69.

48 Soeffner (1991), 70.

49 Soeffner (1991), 70.

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werden, sofern der transzendente Hintergrund nicht miterscheint. Man kann bereits erkennen, dass sich hier der Religionsbegriff anschliessen lässt. Im Unterschied zur von Schütz und Luckmann in den Strukturen der Lebenswelt ausgeführten Konzeption der “kleinen”, “mittleren” und “grossen”

Transzendenzen setzt Soeffner den Begriff des Symbols in der Sozialwelt selbst an und eröffnet so die Möglichkeit, die Erfahrung “grosser”

Transzendenz als die Erfahrung des ganz Anderen, über die konkrete Handlungssituation Hinausweisenden als Resultat von kommunikativen Prozessen zu erschliessen und damit auch empirisch zugänglich zu machen.51 Der Umgang mit Symbolen ist für jede Gesellschaft grundlegend. In den Symbolen drückt sich ein für die Mitglieder einer Gesellschaft verbindlicher Wissenszusammenhang aus, der in der Form eines Weltbildes auskristallisiert.

Symbole erlauben damit, die Welt sinnhaft zu lesen. Weltbilder beziehungsweise ‘Weltansichten’52 sind historische Sinnzusammenhänge, die über den einzelnen hinauswirken und ihn durch seine Teilhabe an ihnen an die Gemeinschaft binden. Das symbolisch ausgeformte Wissen der dritten Sphäre von Soeffners drei-Sphären-Modell kann von unterschiedlicher Reichweite sein und sich auf verschiedene Bereiche beziehen, solange es die für es charakteristische Bedingung erfüllt, dass es etwas repräsentiert, das über die Gesellschaft beziehungsweise über das soziale Kollektiv hinausgeht. Ein solches Kosmion repräsentiert innerhalb der Gesellschaft einen Kosmos beziehungsweise eine das Kosmion transzendierende Ordnung, “die sich in der

‘Erscheinung’ (Hierarchie, Institutionen, Grenzen, Charakter etc.) der Gesellschaft widerspiegelt.”53 Das gesellschaftliche Kosmion umfasst zwei Stufen der Repräsentation: einerseits den immanenten Ordnungszusammen- hang der Gesellschaft und andererseits eine allgemeine Idee:

50 Soeffner (1991), 71.

51 Schütz/Luckmann (1994), Bd. 2, Kapitel VI. Siehe auch Knoblauch (1995), 82 und Hubert Knoblauch, 1998, Transzendenzerfahrung und symbolische Kommunikation. Die phänomenologisch orientierte Soziologie und die kommunikative Konstruktion der Religion, in: Hartmann Tyrell, Volkhard Krech, Hubert Knoblauch, Hg., Religion als Kommunikation, Würzburg, 162ff.

52 Siehe Thomas Luckmann, 1988, Die “massenkulturelle” Sozialform der Religion, in:

Hans-Gerog Soeffner, Hg., Kultur und Alltag, Soziale Welt, Sonderband 6, Göttingen, 40f.

53 Soeffner (1991), 71, bezieht sich mit dieser Unterscheidung von ‘Kosmos’ und

‘Kosmion’ auf Eric Voegelin, siehe Eric Voegelin, 1952, The New Science of Politics.

An Introduction, Chicago, London.

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“Zum einen repräsentiert der Repäsentant eines Kollektivs (selbst unser

‘Volksvertreter’) den immanenten Ordnungszusammenhang seiner Gesellschaft. Zum anderen appräsentiert er, indem er (wie im übrigen auch jedes andere Mitglied dieser gesellschaftlichen Ordnung) sich und sein Handeln durch eine allgemeinere Idee legitimiert, die symbolische Teilhabe seines Kosmions und seiner selbst am Kosmos eines umfassenden Sinnzusammenhanges, eines umgreifenden, einheitsstiftenden Mythos, der jedem Detail einen Sinn verleiht, den Zufall eliminiert und alle Erscheinungen zu Chiffren seiner Existenz und seines Wirkens verzaubert.”54

Dieser Zusammenhang gilt auch für religiöse Symbolik. Nicht sie allein, aber sie ganz besonders erfüllt diese Repräsentationsfunktion innerhalb einer Gesellschaft. Wie die zitierte Passage deutlich macht, haben wir es hier gleichsam mit einer zwar notwendigen, jedoch noch nicht hinreichenden Bedingung zur Erklärung des gesellschaftlichen Phänomens der Religion zu tun. Eine “abschliessende” Definition des Religionsbegriffs kann selbstverständlich auch hier nicht geleistet werden – es ist mittlerweile hinlänglich bekannt, dass jeder solche Versuch, sobald er mit der Mannigfaltigkeit historischer Erscheinungsformen konfrontiert wird, zum Scheitern verurteilt ist.55 Ein “allgemeiner” Begriff der Religion, der es erlauben würde, sämtliche uns bekannten kulturellen und historischen religiösen Phänomene unter einem einzigen terminologischen Dach zu subsumieren, wird zwangsläufig unscharf und verliert die jeweils historisch besondere Problemlage aus den Augen. Dennoch sind einige weitere den Begriff eingrenzende Überlegungen und Präzisierungen hier im Hinblick auf die dieser Untersuchung zugrundeliegende Forschungsfrage angezeigt.

54 Soeffner (1991), 71.

55 Die Zahl der Definitionsversuche geht gemäss Knoblauch in die Hunderte, was zum Teil seinen Grund darin hat, dass die etymologische Ausgangslage des Wortes ‘Religion’

unklar ist, siehe Hubert Knoblauch, 1999, Religionssoziologie, Berlin, New York, 8f.

Distanziert gegenüber mit Verve vertretenen Definitionen von Religion gibt sich Peter Berger, siehe Peter L. Berger, 1990, The Sacred Canopy. Elements of a Sociological Theory of Religion, New York, 175ff. Vgl. ausführlich zur Geschichte des Religionsbegriffs Falk Wagner, 1986, Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh. Zeit- und kulturspezifisch für das achtzehnte Jahrhundert siehe Gerhard Alexander, Johannes Fritsche, 1989, »Religion«

und »Religiosität« im 18. Jahrhundert. Eine Skizze zur Wortgeschichte, in: Karlfried

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