• Keine Ergebnisse gefunden

Schluss: Das ‘amerikanische’ Individuum und die Symbolisierung der Erfahrung immanenter Transzendenz

Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung führen zur Frage, wie diese sich in den umfassenderen Kontext der amerikanischen Kultur und Geschichte einordnen lassen. Dieser Frage gilt in Bezug auf die leitende Fragestellung nach den Konzeptionen von Individualität dieses letzte Kapitel. Dazu soll hier zuerst nochmals der Faden der Individualisierungsdiskussion aufgenommen werden.

Oben, im zweiten Kapitel, wurde des längeren ein Individualitätsverständnis erläutert, das die Sozialwissenschaften mittlerweile zu ihrem fachtheoretischen Traditionsbestand zählen. Sie schliessen damit an eine doppelte Erbschaft der modernen europäischen Geschichte an, die in ihrem Verlauf zuerst das souverän-selbstbestimmte, weltschöpfende Subjekt und dann das an den Folgen dieses Anspruchs leidende und aufgrund der veränderten Gesellschaftsstruktur dem “System” unterlegene, mit der Fragmentierung seiner Identität kämpfende Individuum hervorgebracht hat. Zwei Varianten der Reaktion auf diese historische Entwicklung lassen sich heute finden, von denen die eine den beschwerlichen Gegenstand ‘Subjekt’ durch Toterklärung beseitigt oder ihn zumindest aus der Gesellschaftstheorie ausquartiert, während die andere sich nun erst recht und mit neuem Nachdruck dem einzelnen Menschen als Handelndem zuwendet, um herauszufinden, wie gerade unter den für das Individuum ungünstigen Umständen der “späten”

Moderne persönliche Identität zustandekommen kann.321 Beiden Zugangsweisen ist gemeinsam, dass sie die Moderne und das Individuum in einem Verhältnis problematischer Vermitteltheit – eigentlich: gegenseitiger Unvermittelbarkeit – denken, insofern als die moderne Gesellschaft aufgrund ihrer komplexen, ausdifferenzierten Struktur dem Menschen den Boden der

“natürlich” gewachsenen und geordneten einen identitätssichernden Gemeinschaft entzogen hat. Dabei sind Moderne und Individuum ihrer historischen Genese nach alles andere als voneinander unabhängige Grössen,

321 Vgl. Anthony Giddens, 1991, Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age, Cambridge, England.

sondern je dem anderen das Konstituens: die Würde des selbstbestimmten Subjekts als Inhaber von ihm allein aufgrund seiner Qualität als Individuum zukommenden Menschenrechten und die Epoche der Moderne bilden die zwei Seiten derselben Medaille einer besonderen historischen Entwicklung im Europa der letzten ungefähr dreihundert Jahre.

Nach dem optimistischen Aufbruch der Aufklärung ins “individuelle Zeitalter”

hat sich der Horizont für das Individuum heute allem Anschein nach jedoch merklich verdüstert. Aus dem weltschöpferischen und sich schliesslich selbst zum Gott stilisierenden Einzelnen, der sich noch im neunzehnten Jahrhundert nicht ohne den moralisch-normativen Spiegel der Gesellschaft verstehen und definieren konnte und sich gerade (auch) deswegen in der Privatsphäre der bürgerlichen Familie ein vor den gesellschaftlichen Zwängen Schutz bietendes Refugium einzurichten suchte322, wurde, über die Zwischenstufe des heroischen Ich des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts, das “defensive Selbst”323, welches, nachdem es mittlerweile auch aus den herkömmlichen Klassenlagen entlassen worden ist324, scheinbar nur noch ad hoc und aus der jeweils gegebenen Lebenssituation heraus auf die vielfältigsten Lebensstilvorgaben und auf die zahlreichen Imperative der Selbstgestaltung reagiert, ohne dass dabei ein gesellschaftliches Ganzes überhaupt noch überschaubar in den Blick geriete. Wie ernst auch immer man die Lage dieses

“spätmodernen” Individuums einschätzen mag – historisch neu ist diese Diagnose nicht und in Literatur und Kunst seit hundert Jahren und mehr diskursiv verfügbar.325 Auch die Soziologie kennt den Problemzusammenhang von gesellschaftlicher Ausdifferenzierung und Individualisierung, der in Georg Simmels ‘Kreuzung der sozialen Kreise’ theoretisch subtil zum Ausdruck gebracht wurde, seit ihren Anfängen.326 Dabei haben sich die

322 Vgl. Philippe Ariès, Georges Duby et al., 1985-1987, Histoire de la vie privée, tomes 4, Paris.

323 Michael Sonntag, 1999, “Das Verborgene des Herzens”. Zur Geschichte der Individualität, Reinbek bei Hamburg, 232.

324 Siehe Ulrich Beck, 1987, Beyond Status and Class: Will there be an Individualized Class Society?, in: Volker Meja, Dieter Misgeld, Nico Stehr, eds, Modern German Sociology, New York.

325 Vgl. in diesem Zusammenhang immer wieder den Bezug auf den “Prototypen” des modernen Individuums bei Robert Musil, so z.B. Peter L. Berger, 1988, Robert Musil und die Errettung des Ich, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 17, Heft 2, 132-142.

326 Georg Simmel, 1992 (1908), Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt/Main.

Lösungsstrategien, die in Bezug auf die Problemlage des modernen Individuums entwickelt wurden, in unterschiedlichen Ausprägungen einer modernen Individualitätssemantik und in neuen Deutungsmustern individueller Selbstbeschreibung niedergeschlagen, bei denen, wie säkularisiert sie auch immer erscheinen mögen, der religiöse Ursprung der Semantik erkennbar bleibt. ‘Säkularisierung’ kann demnach – in Revidierung einer lange Zeit gültigen sozialwissenschaftlichen Grundüberzeugung – hier auch nicht in erster Linie Auflösung, sondern Umformung des in langer kultureller Tradition gewachsenen Religiösen meinen. Die Religion hinterlässt ihre Spuren deutlich im autonomen Subjekt der Moderne, welches, zumindest unter funktionalem Gesichtspunkt, sich selbst in seinem Absolutheitsanspruch Gott und Religion zugleich ist. Das Absolutum ‘innerer Erfahrung’ und eines kommunikativ unzugänglichen Inneren der Seele und des Ich, auf dessen Suche sich die Individuen im zwanzigsten Jahrhundert in der westlichen Hemisphäre in grossen Scharen und unter Anleitung ihrer Experten gemacht haben, trägt die “klassischen” Züge der Religion, insofern ihm die Unterscheidung der beiden Bereiche des Immanenten und des Transzendenten beziehungsweise die Differenz von ‘heilig’ und ‘profan’ nach wie vor zugrundegelegt wird. Das Reich der ‘grossen’ Transzendenz ist dabei ins

‘heilige’ Ich eingerückt. Die religiöse Grundfigur bleibt jedoch die gleiche.

Damit sind zwar die religiös-kulturellen Wurzeln des modernen Individuums identifiziert, was jedoch vor allem von Interesse ist, ist, welche Konsequenzen sich daraus für den einzelnen heute ergeben.

Das Individuum ist in dem Masse ‘modern’ geworden, wie sich der Gegensatz von immanenter Diesseitigkeit und ‘grosser’ Transzendenz ins Subjekt verlagert hat. Aus einem ‘Weltbild’, das noch weit über die Reformation hinaus um die Achse von Diesseitigkeit und Jenseits angeordnet war, wird ein

‘Subjektbild’, bei dem die durch diese Achse gegebene Differenz von Immanenz und Transzendenz verinnerlicht wird. Damit wird in letzter Konsequenz die Differenz zur Welt aufgehoben, obwohl gerade durch diese Differenz – vor allem in ihrer Form als Differenz zur Gesellschaft – die Identität des Subjekts befestigt werden sollte. Schliesslich ganz bei sich selbst angelangt, wird ein weiteres Transzendieren unmöglich. Sobald dieses Ich in den Zustand der absoluten Unhintergehbarkeit gehoben ist – über das ‘wahre

Ich’ kann nicht hinausgegangen werden –, erschöpft sich auch der Raum der Transzendenz. Das Individuum, das so ganz in den Besitz seiner selbst zu gelangen hoffte, ist nun vom “Selbstverlust” bedroht: Der Bruch von Immanenz und Transzendenz geht durch das Subjekt selbst hindurch und produziert die paradoxe Situation, dass das Individuum immer zugleich sich selbst und mehr als sich selbst sein soll. Es ist Gott und Gläubiger in einem.

Ein solcherart gesteigertes Subjekt verliert seine Transzendenzspielräume und damit auch die Möglichkeit, die eigene Identität durch Absetzung von der Aussenwelt als des Anderen, des Nicht-Ich, zu formieren. Es verliert mögliche Räume ‘grosser’ Transzendenz, die über es hinausreichen und ihm einen Ort im Ganzen der Welt zuordnen könnten. Dieser existentiellen Extremlage versuchen die Individuen zu entkommen, indem sie das Ich ganz im Sinne eines “richtigen” Gottes als letztlich unergründliches Geheimnis begreifen.

Ein unabschliessbares Bemühen um “Selbstfindung” wird dann Programm.

Als andere Strategie kann die Suche nach neuen und alten Räumen der

‘grossen’ Transzendenz innerhalb der modernen Gesellschaft gewählt werden, als deren Folge sich – Ironie der Entwicklung? – am Ende die Varianzbreite dessen, was sich unter modernen Bedingungen als ‘Religion’ bezeichnen lässt, erheblich erweitert.

So wird das Thema ‘Religion’ schliesslich auch für die Soziologie wieder interessant und man kommt auch im sozialwissenschaftlichen Diskurs auf dem Umweg über die ‘Säkularisierung’ wieder auf die Religion zurück und stellt sich heute einerseits die Frage, ob und wie Religion in der modernen Gesellschaft überhaupt noch möglich ist327, während man andererseits gleichzeitig in ebendieser Gesellschaft überall Menschen auf der Suche nach dem Religiösen sichtet.328 Ausgehend vom Problem moderner Reflexivität

327 Vgl. Niklas Luhmann, 1987a, Brauchen wir einen neuen Mythos?, in: ders., Soziologische Aufklärung 4. Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, Opladen. Vgl. auch Robert Wuthnow, 1992a, Rediscovering the Sacred. Perspectives on Religion in Contemporary Society, Grand Rapids, Michigan.

328 Einen Überblick über die Situation der Religion in Deutschland seit dem zweiten Weltkrieg gibt Karl Gabriel, 1990, Von der “vordergründigen” zur “hintergründigen”

Religiosität: Zur Entwicklung von Religion und Kirche in der Geschichte der Bundesrepublik, in: Robert Hettlage, Hg., Die Bundesrepublik. Eine historische Bilanz, München; siehe auch Karl Gabriel, 1992, Christentum zwischen Tradition und Postmoderne, Freiburg im Breisgau sowie Karl Gabriel, 1996, Gesellschaft im Umbruch – Wandel des Religiösen, in: Hans-Joachim Höhn, Hg., Krise der Immanenz. Religion an den Grenzen der Moderne, Frankfurt/Main; zu den Glaubensformen in der deutschen

eröffnet sich die Frage, ob dem Wunsch nach einer umfassenden Synthese des Weltbilds auf dem Boden eines rein innerweltlichen Weltverständnisses entsprochen und damit gleichsam “hinter” das Wegbrechen der ‘grossen’

Transzendenz der traditionellen Religion zurückgegegangen werden kann.

Entsprechend ergibt sich das Reflexivitätsproblem der Moderne in dieser Sichtweise aus dem Gegensatz von Moderne und Religion, an dessen Radikalität die Moderne ihr Selbstverständnis gewinnt.

An einem Religionsbegriff, der sich an einem solchen Gegensatz orientiert, werden heute immer mehr Zweifel laut.329 In den Unterscheidungen von

‘modern’ und ‘vormodern’ beziehungsweise von ‘modern’ und ‘traditional’

drücken sich immer auch die Prämissen eines sozialwissenschaftlichen Denkens aus, das sich heute mit mehr oder weniger grosser Überraschung über die Lebendigkeit von Religion und Religiosität wundert. Der Bedeutungsgehalt des Begriffs der ‘Moderne’ wird als Folge davon neu zur Diskussion gestellt, da das lange gültige Kriterium des Religionsverlusts beziehungsweise der Minderung der Bedeutung der Religion in modernen Gesellschaften immer weniger einleuchtet. Das gilt selbst für das am ausgeprägtesten “säkularisierte” Westeuropa, das, wenn auch eher hinter vorgehaltener Hand und immer ein bisschen skeptisch, mit religiöser Erfahrung und mit religiösem Ausdruck recht “innovativ” – das heisst auch:

transkulturell – experimentiert.330 Die jüngere Diskussion zur

‘Säkularisierung’ beziehungsweise zu deren Ausbleiben oder doch Relativierung zeigt, dass man heute eher geneigt ist, die Differenz von

‘modern’ und ‘nichtmodern’ oder ‘vormodern’ zu entschärfen und neu zu überdenken.331 Hermann Wellenreuther bringt das Problem auf den Punkt, wenn er die kognitiven Funktionslogiken moderner und christlicher

Gesellschaft der Gegenwart vgl. auch Klaus-Peter Jörns, 1997, Die neuen Gesichter Gottes. Was die Menschen heute wirklich glauben, München.

329 Siehe Joachim Matthes, 1992, Auf der Suche nach dem “Religiösen”. Reflexionen zu Theorie und Empirie religionssoziologischer Forschung, in: Sociologica Internationalis 2, 129-142. Vgl. auch Robert W. Scribner, 1997, Hidden Transcripts in Discourses about Religion, Science, and Skepticism, in: Hartmut Lehmann, Hg., Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen.

330 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Fritz Stolz, 1991, “Alternative” Religiosität:

Alternative wozu?, in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 17, Sonderheft, 659-666.

Sinnsysteme einander gegenüberstellt und einen Kernidentifikationsgehalt des modernen Selbstverständnisses, das Streben nach “Rationalität” und

“sicherem” Wissen und nach mehr Kontrolle über das eigene Schicksal, als Grundlage von beiden sieht und damit die Frage aufwirft, ob diese oft als Triebkräfte von Säkularisierung und Moderne identifizierten Faktoren wirklich zur analytischen Auseinanderhaltung der Sinnsysteme taugen: “Such a line of reasoning raises fundamental questions on the validity of the dichotomy »Christianity – secularization«, because according to this logic both are driven by the same causes; humanity’s urge for more security, control, and certainty regarding present and future life. Retreating to a monastery and dedicating one’s life to Christianity may not be all that different from retreating to a secluded valley in order to live a life in harmony with nature. Appeals to ‘mother nature’ and ‘god the father’ may answer the same quest for security, as the amassing of relics in the fifteenth or material possessions in the twentieth century does in a different way. The one provides security in the after-life, the other security in this world.”332

Wenn auch die Grundfunktion von Religion als Quelle letzter Sinnsicherheit in der Moderne nicht verschwindet, damit der aus der Religion abgeleitete Sinnanspruch und dessen Befriedigung so aktuell bleiben wie eh und je, bleibt doch die Frage, wie es zur Verschiebung der Befriedigung dieses Anspruchs in die Welt hinein, als innerweltliche Aufgabe, kommen konnte. Hier gehen die historischen Entwicklungen der verschiedenen westlichen Länder und Kulturen je verschiedene Wege mit entsprechend unterschiedlichen Folgen für die dabei entwickelten Formen der Innerweltlichkeit. Europäische moderne Semantiken koppeln sich stärker ab von ihren religiösen Ursprungssemantiken als dies etwa – wie in dieser Untersuchung gezeigt wurde – nordamerikanische tun. Damit ist jedoch mehr impliziert als eine bloss unterschiedlich stark ausgeprägte Tendenz der Entwicklung innerhalb einer grundsätzlich gleich verlaufenden Moderne. Denn obwohl sich in beiden Fällen die gleichen Parameter moderner Entwicklung finden – technologischer und

331 Vgl. dazu Paul Heelas, 1998, Introduction: on differentation and dedifferentiation, in:

Paul Heelas, ed., Religion, Modernity and Postmodernity, Oxford. Zur Säkularisierungsdebatte vgl. Lehmann (1997).

332 Hermann Wellenreuther, 1997, On the Public and Private Spheres, Feelings, Passions, Beliefs in Christian, Secular, and Dechristianized Worlds, in: Lehmann (1997), 112.