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Der Rahmen, innerhalb dessen die vorliegende Untersuchung sowohl methodisch wie auch theoretisch ihren Platz findet, wird von jenem Forschungsfeld gebildet, das unter dem Namen der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik unterschiedliche, jedoch miteinander zum Teil eng verwandte Ansätze zusammenfasst.225 Auf die für die Entstehungsgeschichte der Geisteswissenschaften wesentliche Unterscheidung von ‘Verstehen’ und

‘Erklären’ aufbauend, wird in der hermeneutischen Tradition von einer bereits vorinterpretierten Welt der Handelnden ausgegangen, die allem wissenschaftlichen Tun und Beobachten vorausliegt.226 Menschen bewegen sich in einer immer schon sinnhaft vorstrukturierten Welt, an welcher sie ihr Handeln orientieren. Über die Notwendigkeit, sich diesen Sinn deutend zu erschliessen, nehmen Handelnde ihrerseits an der Sinnkonstitution teil.

Auslegungsbedarf beziehungsweise Deutungszwang lassen sich dabei im Anschluss an Helmuth Plessner im Wesentlichen der anthropologischen Grundverfasstheit des Menschen zuschreiben.227 Anders als die Lebewesen der Tierwelt zeichnet sich der Mensch durch eine mangelhafte Instinkthaftigkeit aus, die ihn zur Deutung nicht nur von Umwelt und Mitmenschen, sondern auch vom eigenen Verhalten und Tun anhält. Aus diesen Deutungen geht ein in Erfahrungen gründendes und sich ständig veränderndes und sich weiterentwickelndes Wissen hervor, das sich in komplexen Sozialverbänden immer seltener auf selbstgemachte Erfahrungen beziehen kann, sondern den einzelnen dazu zwingt, auf gesellschaftliche Wissensbestände als soziohistorisches Apriori zurückzugreifen.228

Die Hermeneutik als Lehre vom interpretativen Vorgehen geht davon aus, dass sich die Welt der Kultur auf der Grundlage des Verstehens erschliesst,

225 Vgl. den von Ronald Hitzler und Anne Honer herausgegebenen, eine Übersicht über die unterschiedlichen Forschungszweige bietenden Sammelband: Ronald Hitzler, Anne Honer, Hg., 1997, Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Eine Einführung, Opladen.

226 Zur Bedeutung von Interpretation und Verstehen auch für die Naturwissenschaften siehe Karin Knorr-Cetina, 1991, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt/Main, bes. Kap. 7.

227 Helmuth Plessner, 1981 (1928), Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Frankfurt/Main.

228 Vgl. Soeffner (1989), 99.

also gleichsam ‘von innen’ und nicht wie eine Erscheinung der physikalischen Welt durch Betrachtung und durch Erklärung ‘von aussen’.229 Während die Hermeneutik in ihren Anfängen in ihrer Funktion als Hilfswissenschaft zur Textauslegung in Theologie und Jurisprudenz nach dem ‘Wahren’ im Text – etwa nach dem einen Subjekt in der Heiligen Schrift und dessen Willen230 – suchte, hat sich daraus im Laufe der Zeit immer stärker gleichsam als unintendierte Nebenfolge dieses Unterfangens ein Bewusstsein für die Mehrdeutigkeit der Welt entwickelt, das dem einen Wahren das daneben immer auch mögliche Andere, auch und vielleicht ebenso Wahrscheinliche gegenüberstellt. Skepsis und Zweifel am Gedeuteten und die Suche nach Deutungsalternativen, über welche sich hermeneutisches Arbeiten heute im Kern definiert, standen jedoch – so Soeffner und Hitzler – nicht am Anfang der hermeneutischen Wissenschaftstradition: “Sie entwickelten sich historisch

‘hinter dem Rücken’ der Interpreten, bis sie schliesslich deren Bewusstsein einholten.”231

Dieses Bewusstsein hat sich im Anschluss an die geisteswissenschaftliche Hermeneutik und an Max Webers Verstehende Soziologie inform einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, die ihren Blick sowohl an theoretischen wie an empirischen Problemen und Fragestellungen schulte und schult, weiter geschärft. Neben der deutschen Entwicklungslinie nehmen dabei auch der amerikanische Pragmatismus und hier vor allem das grundlagentheoretische Werk von George H. Mead, das auch einen wichtigen Einfluss auf Peter L.

Bergers und Thomas Luckmanns ‘gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit’232 hatte, eine zentrale Stellung innerhalb der interpretativen Soziologie der Gegenwart ein. Grundlegend für die Annahme der Deutungsgebundenheit allen Handelns und Auslegens – ob alltäglich oder wissenschaftlich – ist dabei der sprachliche wie auch der nicht-sprachliche Zeichen- und Symbolcharakter menschlichen Wahrnehmens und Kommunizierens, worauf Mead, aufbauend auf seiner Theorie der

229 Hans-Georg Soeffner, Ronald Hitzler, 1994, Hermeneutik als Haltung und Handlung.

Über methodisch kontrolliertes Verstehen, in: Norbert Schröer, Hg., Interpretative Sozialforschung. Auf dem Wege zu einer hermeneutischen Wissenssoziologie, Opladen,

230 Soeffner/Hitzler (1994), 30. 31.

231 Soeffner/Hitzler (1994), 30.

232 Berger/Luckmann (1990).

Gestenkommunikation und der gegenseitigen Perspektivenübernahme der Handelnden von der face-to-face-Interaktion bis “hinauf” auf die Ebene kollektiver Identität inform des ‘generalized other’, verweist.233

Entsprechend lassen sich mit Alfred Schütz zwei Grundformen des Wissens unterscheiden: jenes Wissen, das die Individuen ihrem Handeln im Alltag zugrundelegen und woher sie ihre Entscheidungsgrundlagen und ihre Orientierung beziehen, sei es intentional-bewusst oder aber schweigend und unreflektiert (‘tacit knowledge’), einerseits, sowie das Wissen der Wissenschaft, andererseits. In beiden Fällen haben wir es mit Prozessen des Verstehens und des Auslegens einer Welt zu tun, die sich durch Mehrdeutigkeit auszeichnet. Bei der Wissenschaft handelt es sich jedoch im Vergleich mit dem Alltagsverstehen um ein tendenziell formalisierteres und institutionalisierteres Verstehen, das sich zum Ziel setzt, die latent wirksamen Strukturen des Alltagswissens aufzudecken. Verstehen ist dabei zuallererst einmal eine Alltags-Routine, welche die Grundlage auch des wissenschafltichen Verstehens bildet, woraus sich das besondere Problem des unter dem Paradigma der verstehenden Soziologie arbeitenden Wissenschaftlers ergibt: das Problem, zu erklären und zu verdeutlichen, worin denn nun eigentlich das Wissenschaftliche des wissenschaftlichen Verstehens besteht.234 Das Alltagswissen, das seinem Charakter nach inexplizit ist, bildet einen besonderen Typ der Erfahrung und des Wissens, von dem sich das wissenschaftliche Wissen in seinem Versuch des distanzierten, skeptischen und immer auch an den Objektivierungen wissenschaftlicher Erkenntnis zweifelnden Rekonstruierens alltäglicher Wirklichkeiten unterscheidet. Schütz verwendet zur theoretischen Beschreibung dieses Sachverhalts die Unterscheidung von Konstruktionen erster und zweiter Ordnung.235 Die Wissenschaft beschäftigt sich, indem sie selbst Konstruktionen – jene zweiter Ordnung – hervorbringt, mit den Konstruktionen der Alltagswelt. Sie tut dies kategorisierend, typenbildend und modellierend und produziert so

“kontrollierte, methodisch überprüfte und überprüfbare, verstehende

233 Mead (1967); siehe auch oben, Kap. 1.

234 Soeffner/Hitzler (1994), 29 und Hitzler/Honer (1997), 7.

235 Alfred Schütz, 1973, On the Methodology of the Social Sciences, in: Alfred Schütz, Collected Papers I. The Problem of Social Reality, The Hague.

Rekonstruktionen der Konstruktionen 1. Ordnung”236. Eine so begründete Sozialwissenschaft geht zwar von einer klaren Differenz zwischen Alltagswissen und Wissenschaft aus, sie vergisst jedoch nicht, dass auch die Wissenschaft letztlich im Handlungs- und Sinnbereich des Alltags verankert ist und ihre eigene ‘Mythenbildung’ auf jene des Alltags abstützt237 und sich im hermeneutischen Zirkel bewegt.

Auch die Wissenschaft sitzt ihren eigenen Routinen auf, die sie, bemüht sie sich nicht explizit darum, nicht in den Blick bekommt. Sie operiert entlang ihres eigenen common sense. Was im Alltag das ‘Weiter-wie-immer’ des Handelns ist, ist in der auslegenden Wissenschaft das ‘Deuten-wie-immer’ auf der Grundlage von nicht weiter hinterfragten Kollektivsemantiken.238 Daraus folgt dann im Idealfall eine Ausweitung des Erkenntnisinteresses auch auf den Forschenden selbst und die Frage nach dem ‘Was’ wird zunehmend durch jene nach dem ‘Wie’ des Verstehens ergänzt: nach den Konstruktionsregeln und -prozessen selbst, die das sozialwissenschaftliche Unternehmen anleiten und orientieren.239

Wenn davon auszugehen ist, dass es keine “objektiv” vermittelbare und in ihrem Sinn letztgültig erschliessbare Sozialwelt gibt, sondern dass diese gleichsam auf zwei Ebenen, nämlich auf jener des alltäglichen wie auch ausseralltäglichen Handelns der Menschen und auf jener der dieses Handeln zum Gegenstand der Untersuchung machenden Wissenschaft, konstruiert und rekonstruiert wird, stellt sich die Frage, woran sich das Konstruieren halten und von welchen Minimalgegebenheiten es ausgehen soll, damit es sich nicht in endlosen Regressen und unaufhaltbaren Relativierungen verliert.

Ausgangspunkt des Auslegens, so wie es im Rahmen dieser Untersuchung erfolgt, ist die Transformation der den Lebenswelten abgewonnen Daten in einen Text. Der Text ist die verschriftete Form einer abgeschlossenen und

236 Hans-Georg Soeffner, 1991a, Verstehende Soziologie und sozialwissenschaftliche Hermeneutik – Die Rekonstruktion der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit, in: Berliner Journal für Soziologie, Heft 2, 264.

237 Soeffner (1989), 12 und Soeffner (1991a), 265.

238 Vgl. Soeffner (1991a), 265.

239 Soeffner/Hitzler (1994), 32. Vgl. auch Anthony Giddens, 1984, Interpretative Soziologie.

Eine kritische Einführung, Frankfurt/Main, New York. Zur methodologischen und theoretischen Relevanz von ‘wie’-Fragen, vgl. auch Knorr-Cetina (1991), 48ff. und Niklas Luhmann, 1993, Identität – was oder wie?, in: ders., Soziologische Aufklärung 5.

Konstruktivistische Perspektiven, Opladen.

damit unwiederbringlich vergangenen Handlung beziehungsweise Interaktion.

Er lässt sich auch als “Handlungsprotokoll” (Oevermann) bezeichnen, das die Grundlage der wissenschaftlichen Auslegung bildet. Die ursprüngliche Handlung ist zwar verloren, durch ihre “Fixierung” als Text erschliesst sich jedoch eine zweite, offene Sinnschicht: “Diese erhält ihre Struktur, ihre jeweiligen Zwecke und die Reichweite der Geltung der auf ihr basierenden Deutungen aus den sich auf sie beziehenden Interpretationstypen und Zielen.

An derartigen Deutungs- und Anpassungsprozessen können der Handelnde selbst, Beobachter der Handlung und prinzipiell jedermann, der von ihr gehört hat, teilnehmen. Im Rahmen solch alltäglicher Deutungen ist es gleichgültig, ob die Erinnerung an die Handlung auf ‘ursprünglichen’ Eindrücken, mündlichen Berichten oder schriftlichen Aufzeichnungen beruht. Zudem sind hierbei die Eindrücke oder mündlichen Berichte ihrerseits selbst ständigen Veränderungen und Anpassungsprozessen unterworfen.”240

Kein Text lässt sich unabhängig vom historisch-kulturellen Standpunkt seines Interpreten ein für allemal auslegen. Daher ist ein Text – solange er für weitere Auslegungen materiell-physisch verfügbar bleibt – auch nie letztgültig gedeutet und der darin repräsentierte Fall nie “objektiv” erfasst. Entscheidend ist jedoch, dass sich damit der ursprüngliche Fall, ist er auch vergangen, nicht auflöst, sondern in seinem gegenüber dem Text eigenen Recht – dem es in der Auslegung, ohne dass man den Fall dabei “erreichen” könnte, möglichst nahe zu kommen gilt – weiterbesteht. Die Annäherung geschieht dabei durch den von Max Weber in die Methodendiskussion eingebrachten Idealtypus.241 Am exemplarischen Einzelfall lässt sich das Typische, also das Verallgemeinerungsfähige, herausarbeiten, was immer schon eine vom einzelnen Fall abstrahierende Leistung darstellt. Ziel ist es, sich über historische Einzelfälle und deren Vergleich zu einer allgemeineren Struktur durchzuarbeiten und in der logischen Unvereinbarkeit von Typus und Wirklichkeit Deutungsmöglichkeiten, das heisst alternative Modelle einer möglichen Sinnstruktur des Falles, herauszuarbeiten und sich den Einzelfall so verstehend zu erschliessen: “Die Rekonstruktion eines objektivierten Typus

240 Soeffner (1989), 67f.

gesellschaftlichen Handelns baut sich dementsprechend auf von – jeweils extensiven – Einzelfallanalysen über Fallvergleich, Deskription und Rekonstruktion fallübergreifender Muster bis hin zur Deskription und Rekonstruktion fallübergreifender und zugleich fallgenerierender Strukturen.

Der so rekonstruierte Typus enthält und veranschaulicht die strukturelle Differenz von evolutionär und historisch sich verändernden Struktur-informationen einerseits und ihren konkret historisch-kulturspezifischen Aus-differenzierungen andererseits.”242

Damit baut der Sozialwissenschaftler immer Modelle einer verschwundenen Wirklichkeit, wobei er über den Fall und den daran gewonnenen Text hinaus eine Vorstellung des Kontextes entwickeln muss, welche die Sinnrekonstruktion der Daten entscheidend beeinflusst. Soll eine ausschliessliche und verengende Konzentration auf den sprachlichen Text vermieden werden – immer unter der Annahme, dass die soziale Wirklichkeit mit dem Text nicht identisch ist –, so müssen, da die im sprachlichen Dokument repräsentierte ‘Urszene’ der Interaktion (Soeffner) verloren ist, hypothetische Kontexte gebildet werden, in welchen sich unter Rückgriff auf gesicherte zusätzliche Informationen der Text sinnvoll lokalisieren lässt.243 Am je spezifischen Umgang mit dem Problem des Kontexts lassen sich nicht nur die verschiedenen theoretischen und empirischen Programme und Ansätze identifizieren, die im Rahmen einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik arbeiten – also, in einer Grobeinteilung, entweder die fast ausschliesslich mit Texten im engeren Sinne beschäftigten Untersuchungen oder aber die eher milieuanalytisch orientierten Feld- und Einzelfallstudien. Das Problem des Kontexts verweist darüberhinaus auch auf die Gegenwartsgebundenheit allen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Deutens, das sich vergangene Wirklichkeiten über gegenwärtig mögliche, das heisst kultur- und zeitspezifisch verfügbare Plausibilitäten erschliesst und damit per se immer revisionsfähig und revisionsbedürftig bleibt. Damit werden der Forschende selbst genauso wie der untersuchte Interaktionszusammenhang Gegenstand

241 Max Weber, 1988b (1922), Die “Objektivität” sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen.

242 Soeffner/Hitzler (1994), 39.

243 Soeffner (1989), 120.

des Verstehens, das heisst, die historische Standortgebundenheit des Interpreten ist wissenssoziologisch zu rekonstruieren.244

Einmal abgesehen von diesen gleichsam “strukturellen” Grenzen jeden Interpretierens, ist – worauf Norbert Schröer im Anschluss an Jo Reichertz hinweist – der Bewusstseinsvorgang des Auslegens weder dem Auslegenden selbst noch irgend jemandem sonst zugänglich. Wie sich eine bestimmte Lesart entwickelt und dann “auf einmal” durchsetzt, ist nicht rekonstruierbar.

Schröer zitiert hier treffend Robert Musil: “So kommt das Durchrutschen doch auch für ihn überraschend, es ist mit einemmal da, und man kann ganz deutlich ein leicht verduztes Gefühl darüber in sich wahrnehmen, dass sich die Gedanken selbst gemacht haben, statt auf ihre Urheber zu warten.”245 Der Moment der Lesartenbildung ist nicht bewusst erlebbar, folglich auch nicht darstellbar. Darüberhinaus existieren rein technisch-praktische Hindernisse:

“Die nachzeichen-, aufzeichen- und erinnerbaren Forschungsanstrengungen sind einfach zu verschlungen und zu komplex, als dass sie auch nur annähernd in Gänze dokumentierbar wären.”246 Die Überprüfbarkeit der Ergebnisgewinnung ist entsprechend nur sehr begrenzt möglich: “Und deshalb muss auch im Vordergrund der Betrachtung die Überprüfung der dargestellten Begründung und eben nicht die der (nicht darstellbaren) Entdeckung stehen.”247

Im Rahmen dieses sozialwissenschaftlichen Forschungsprogramms, das die Erfahrungswissenschaft Soziologie als Wissenschaft von der sozialen Konstitution, Speicherung und Weitergabe von Erfahrung und damit auch der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit versteht248, versucht die vorliegende Arbeit, den Erfahrungen und den Konstitutionsbedingungen von Individualität anhand konkreter Einzelfälle auf den Grund zu gehen. Der Fall als Handlungseinheit, der hier zur Untersuchung gelangt, wird gebildet vom

244 Norbert Schröer, 1994, Einleitung: Umriss einer hermeneutischen Wissenssoziologie, in:

ders., Hg., Interpretative Sozialforschung. Auf dem Wege zu einer hermeneutischen Wissenssoziologie, Opladen, 20.

245 Robert Musil, 1978, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek, zitiert nach Schröer (1994),

246 Schröer (1994), 21. 21.

247 Schröer (1994), 21. (Hervorhebung cm)

248 Vgl. Soeffner (1991a), 266.

thematisch orientierten, ‘freien’ Interview249, das heisst, von einem jeweils rund einstündigen, auf Tonband aufgezeichneten und transkribierten Gespräch. Gesprächspartner und -partnerinnen waren 39 Mitglieder aus drei verschiedenen weltanschaulich-religiösen Gruppierungen. Das so entstandene Datenmaterial wird ergänzt durch aus teilnehmender Beobachtung hervorgegangene Beobachtungsprotokolle, das heisst, die Gruppen wurden je während mehrerer Monate regelmässig in unterschiedlichen Zusammenhängen und zu verschiedenen Anlässen besucht: zu Gottesdiensten ebenso wie zu Meditationszusammenkünften, zu Bibelgruppen, zu Vorträgen und Diskussionsgruppen, zu geselligen Anlässen und zu Festen wie auch zu Besprechungen und Sitzungen verschiedenster organisatorischer Gremien.

Während teilnehmende Beobachtung im Forschungsfeld der Erschliessung von Kontextwissen dient, entsteht die eigentliche Interpretationsarbeit zur Hauptsache am Text selbst, also an den Transkripten der Interviews.

Die Altersskala der Interviewten, bei denen es sich mit zwei Ausnahmen, einer Schwarzen und einem Amerikaner asiatischer Herkunft, um weisse Amerikanerinnen und Amerikaner handelt, reicht von Anfang zwanzig bis Anfang siebzig. 18 Frauen und 21 Männer wurden interviewt. Die Gruppen wurden so ausgewählt, dass ihre Mitglieder mehrheitlich der Mittelschicht angehören, wobei neben der Berufszugehörigkeit beziehungsweise der Einkommensklasse vor allem das Kriterium der Bildung zur Anwendung kommt: alle Interviewten verfügen zum mindesten über einen College-Abschluss (Bachelor), haben also ungefähr bis zu ihrem zweiundzwanzigsten Lebensjahr die Schulbank gedrückt. Die interviewten Personen verteilen sich wie folgt auf die verschiedenen beruflichen Tätigkeiten: drei sind in der Finanzwirtschaft tätig (zwei Frauen, ein Mann), drei als Universitätsprofessoren (eine Frau, zwei Männer), zwei als Lehrer (eine Frau,

249 Zum ‘freien’ Interview vgl. auch Soeffner (1989), 185ff. Interviews als methodisches Mittel eignen sich insbesondere für thematisch zu erschliessende Wissensbestände, im vorliegenden Fall also zur Rekonstruktion des entlang der eigenen Biographie entwickelbaren Individualitätsverständnisses. Für andere Erkenntnisinteressen eignen sich Interviews nicht, da sie – worauf Hitzler und Honer hinweisen – zum Beispiel bei habitualisierten Fertigkeiten, bei Vollzugsroutinen und bei quasi-automatischen Verhaltensweisen defizitäre und irreführende Resultate zeitigen, siehe Ronald Hitzler, Anne Honer 1997a, Einleitung: Hermeneutik in der deutschsprachigen Soziologie heute, in: dies., Hg., Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Eine Einführung, Opladen, 14, Anm.

7.

ein Mann), vier in nicht-öffentlichen Verwaltungen (drei Frauen, ein Mann), einer im Verkauf, vier sind als Hausfrauen tätig, eine als Schriftstellerin, zwei als Künstler (beides Männer), drei in der Computerbranche (drei Männer), einer als Anwalt, einer als Journalist, drei in naturwissenschaftlichen Laboratorien (alles Männer), einer im Non-profit-Bereich, eine in der Alternativmedizin. Zwei Frauen und ein Mann waren zur Zeit des Interviews ohne Arbeit. Ausserdem beteiligten sich drei Studentinnen und drei Studenten.

Bei den drei religiös-weltanschaulichen Gruppierungen handelt es sich um eine unitarische Kirche in Boston, um eine katholische Kirche in Cambridge, Massachusetts, und um eine Gruppe amerikanischer Buddhisten, ebenfalls in Cambridge. Die unitarische Kirche, die First and Second Church, setzt sich aus ungefähr dreihundert Mitgliedern zusammen. Regelmässige Gottesdienstbesucher sind jedoch bedeutend weniger. An einem gut besuchten Sonntagvormittag strömen etwa siebzig Männer, Frauen und Kinder in die Kirche. Der Begriff “Gottesdienst” trifft freilich den Sachverhalt hier kaum, denn von einem “Gott” sprechen die wenigsten Unitarier. Sie ziehen Bezeichnungen wie “spirit” oder “something higher” beziehungsweise “higher power” vor und bringen damit zum Ausdruck, dass die jüdisch-christliche Gottesvorstellung für sie nur eine besondere, historisch-kulturell gewachsene Variante des möglichen Transzendenzbezugs darstellt. Obwohl der Unitarismus ebenso wie der Universalismus – in ihren amerikanischen Varianten – als theologische Abspaltungsbewegungen aus der protestantisch-calvinistischen Tradition Neuenglands hervorgegangen sind und bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein dem christlichen Glauben verpflichtet waren, vereinigen unitarisch-universalistische Kirchen, die sich 1961 in den USA zu einer einheitlichen Organisation, der Unitarian Universalist Association, zusammengeschlossen haben250, heute unter ihrem Dach Bekennende der

250 Zur Geschichte der amerikanischen unitarisch-universalistischen Bewegung vgl. George N. Marshall, 1987, Challenge of a Liberal Faith, Boston; David Robinson, 1985, The Unitarians and the Universalists, Westport, Connecticut, London, England; Conrad Wright, ed., 1975, A Stream of Light. A Sesquicentennial History of American Unitarianism, Boston; Paul K. Conkin, 1997, Humanistic Christianity. Unitarians and Universalists, in: Paul K. Conkin, American Originals. Homemade Varieties of Christianity, Chapel Hill, London; sowie, die europäische Traditionslinie mitberücksichtigend: Earl Morse Wilbur, 1952, A History of Unitarianism. In Transylvania, England, and America, Cambridge, Massachusetts. Unitarier (Unitarians) und Universalisten (Universalists) gehen bis 1961 organisatorisch-institutionell getrennte Wege. Auch inhaltlich handelt es sich um zwei sich verschieden entwickelnde

unterschiedlichsten religiösen Traditionen sowie auch erklärte Agnostiker und Atheisten. Statt über ein bestimmtes Glaubensbekenntnis definieren sich Unitarier (der Einfachheit halber und dem amerikanischen Sprachgebrauch entsprechend im folgenden so und nicht jedesmal mit dem Doppelnamen bezeichnet) über den Prozess der spirituellen Suche, wobei jeweils vom einzelnen Individuum ausgegangen wird, das sich an keinen Dogmen und Vorschriften ausrichten, sondern in eigener Verantwortung seiner inneren Stimme folgen soll. Bereits für das neunzehnte Jahrhundert hat Daniel Walker Howe eine für die in der Oberschicht Neuenglands stark vertretenen Unitarier typische ‘Kultur des Selbst’ identifiziert und deren nahe Verwandtschaft zur Idee evangelikaler Selbstdisziplin herausgestrichen.251 Die Unitarier verstehen sich als ausgesprochene Individualisten – eine Selbstcharakterisierung, mit der sie sich vor allem von konservativen protestantischen Kirchen, jedoch auch von den Katholiken abgrenzen. Viele Mitglieder der First and Second Church und der unitarisch-universalistischen Kirche im allgemeinen sind Konvertiten.

Es handelt sich dabei meistens um vormalige Katholiken oder Protestanten.

Da sich Mitgliedschaft nicht über ein Glaubensbekenntnis und über eine bestimmte Religionszugehörigkeit definiert, praktizieren manche Unitarier auch weiterhin ihre Herkunftsreligion – sei dies Buddhismus, Judentum oder auch Agnostizismus.

Auch in der katholischen Kirche, bei der es sich um die in Cambridge lokalisierte St. Paul Church handelt, finden sich zahlreiche, oft jüngere Konvertiten und Konvertitinnen. In dieser im Vergleich zur unitarischen um einiges grösseren Kirche wurden die Interviewten entlang derselben Kriterien ausgewählt. Die interviewten Katholiken und Katholikinnen lassen sich dabei weltanschaulich-theologisch eher dem traditionellen Flügel zurechnen, woraus

Traditionen. Die Gemeinsamkeiten werden jedoch im Verlaufe der Zeit bei allen Unterschieden – vor allem solche der sozialen Herkunft der Trägerschichten – wichtiger.

Universalisten gehörten bis ins zwanzigste Jahrhundert stärker der ländlichen Schicht an,

Universalisten gehörten bis ins zwanzigste Jahrhundert stärker der ländlichen Schicht an,