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2.1 Individuelle Identität: theoretische Zugänge

Identität ist ein weitläufiges Thema, so dass eine Übersicht über alle relevanten Diskussionszusammenhänge aussichtslos erscheint. Die Versuche, den Identitätsbegriff in den Griff zu bekommen, sind zu mannigfaltig und die Problematik zu verzweigt, als dass man sich im Dickicht der Begriffs-konzeptionen so ohne weiteres oder überhaupt zurechtfinden würde.96 Wendet man sich von den philosophischeren Diskussionen ab und den sozialen Realitäten der Handelnden zu, so lässt sich heute – folgt man der einschlägigen Fachliteratur – scheinbar mit grosser Deutlichkeit feststellen, dass es die Identität in der modernen Welt nicht gibt. Sie hat sich entlang von vielfältigen Rollenanforderungen in viele Identitäten aufgelöst, die sich nur noch inform eines – wie dies oft genannt wird – “Flickenteppichs” zu einem Ganzen fügen lassen. Die Metapher des “Flickenteppichs” deutet dabei sowohl auf die gesteigerten Anforderungen an moderne Identitätsbildung hin, indem sie auf die Disparatheit verschiedener Identitäten verweist – auf die “Flicken”

–, sie scheint jedoch nach wie vor auch die Idee eines möglichen Ganzen nicht aufgeben zu wollen: die Flicken bilden, wie zahlreich sie auch sein mögen, letztlich einen Teppich, der klare Ränder und damit Grenzen zur Umgebung hat, auch wenn sie gegebenfalls ausfransen mögen. Trotzdem bleibt zuweilen der Eindruck bestehen, dass die Lebenswelten der einzelnen heute – folgt man dem soziologischen Kanon – so fragmentiert sind, dass man sich manchmal wundert, wie sich die Handelnden überhaupt noch zurechtfinden können in der Welt. Sie sehen sich in dieser Perspektive dauernd gezwungen, einen Rollenwechsel und einen damit verbundenen Identitätswechsel vorzunehmen.

Mal sind sie Ehemann, dann Liebhaber, dann Elternteil, dann sind sie Computerfachmann, dann Kinobesucher, Skifahrer und Staatsbürger. Für die

96 Dieses Malaise trifft nach Ansicht von Dieter Henrich vor allem auf die Sozialwissenschaften zu, die besonders ausgeprägt zur Verdunkelung und Verwirrung des Identitätsbegriffs beigetragen haben, siehe Dieter Henrich, 1996, ‘Identität’ – Begriffe, Probleme, Grenzen, in: Odo Marquard, Karlheinz Stierle, Hg., Identität, Poetik und Hermeneutik Band VIII, München, 133.

Frauen verhält es sich nicht anders. Und jede Rolle verlangt ihren eigenen kognitiven “Stil”, eine je besondere Kompetenz an Wissen zu ihrer Bewältigung. Überlappungen scheint es kaum zu geben, weil die Rollen an Funktionssysteme gebunden sind und diese – auch dies ein Stück soziologischen Grundwissens – je eigenen Gesetzen folgen und funktions-systemspezifische Erwartungen freisetzen und erfüllt sehen wollen.

Die gesellschaftliche Differenzierung, das heisst die Herausbildung der komplexen modernen Gesellschaft mit ihren verschiedenen Teilsystemen hat zur Folge, dass die Einzelmenschen nicht mehr eindeutig “verrechnet” werden können. Damit ist ein Zuordnen des einzelnen zu einem bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhang gemeint. In der modernen Gesellschaft haben die Individuen an mehreren solcher Zusammenhänge teil: als Staatsbürger am Staat, als Rechtssubjekte am Rechtssystem, als Gläubige an der Religion, als Konsumenten an der Wirtschaft. Die Rollenanforderungen sind in jedem dieser Zusammenhänge verschieden. Man muss Identitäten für alle diese Bereiche separat ausbilden. Das Neue wäre dann also, dass nicht mehr nur ein Lebenszusammenhang – z.B. ein mittelalterliches Dorf – zu bewältigen ist und dass man nicht nur in diesem einen Lebenszusammenhang Orientierungs- und Handlungssicherheit erlangen muss, sondern in mehreren zugleich. Dabei kann dieselbe Handlung in unterschiedlichen Teilsystemen verschiedene Folgen zeitigen: ein kriminelles Vergehen wird vom Rechtssystem anders geahndet als von der Religion. Entsprechend ist das Besondere an der gesellschaftlichen Differenzierung nicht einfach die Zurechnung verschiedener Lebensäusserungen und ihrer je unterschiedlichen Materialität an verschiedene Teilsysteme, sondern die ‘Zerlegung’ ein und derselben Materialität in unterschiedliche, gleichzeitig stattfindende Ereignisse: “Ebendies ist hier Moment der für die Moderne charakteristischen Differenzierung der Systeme, dass nicht einmal die zu einem gegebenen Zeitpunkt sich abspielenden materialen Ereignisse mit sich selbst identisch sind. Sie sind in ihrer Identität durch die jeweils sich anschliessenden Folgen in den verschiedenen Systemen jeweils etwas anderes.”97

97 Herbert Willems, Alois Hahn, 1999, Einleitung. Modernisierung, soziale Differenzierung und Identitätsbildung, in: dies., Hg., Identität und Moderne, Frankfurt/Main, 13.

Diese ‘Zerlegung’ führt die Frage nach der Möglichkeit eines Zusammenhaltes der verschiedenen Lebensäusserungen mit sich. Solange Individuen handlungsfähig bleiben, weil sie sich als Personen gegen andere Personen und gegen die Umwelt als Subjekte mit einer Ich-Identität abgrenzen, muss man davon ausgehen, dass sich die durch den modernen Fragmentierungsprozess entstehenden zahlreichen “Identitäten” in einem übergreifenden orientierungsstiftenden Ganzen einbringen lassen. Wie ist das möglich, wenn das Individuum durch sein Engagement in den verschiedenen Kultursystemen (Dilthey) “zersplittert” wird – ausgerechnet jene seit der Antike für unteilbar gehaltene Entität?98 Das Problem, auf das Herbert Willems und Alois Hahn hinweisen, besteht für die Moderne im Verlust einer gesamtgesellschaftlichen Realität. Während die frühen Soziologen (Durkheim, Marx) noch von einer solchen die gesamte Gesellschaft definierenden Realität ausgingen, die von den einzelnen Gruppen jeweils nur partiell repräsentiert werden konnte, wird die Situation zumindest von der soziologischen Theorie hundert Jahre später anders wahrgenommen. Das Individuum lässt sich keiner einzelnen sozialen Gruppe mehr allein zuordnen. Es fällt gerade dadurch aus der Gesellschaft heraus, dass es “überall” in ihr, in den verschiedenen Teilsystemen präsent ist, und seine Identität losgelöst von den Teilsystembindungen zunehmend in seiner Einzigartigkeit zu bestimmen sucht. Es ist gerade die besondere moderne Sozialität, die damit ein

‘extrasoziales Individuum’ (Willems/Hahn) produziert. Dieses zeichnet sich dadurch aus, dass es nirgendwo mehr als ganzes kommunikativ eingebracht werden kann. Jedes Individuum bildet einen eigenen Kosmos, indem es eine je eigene Konstellation und Kombination von durch Partizipation an den verschiedenen Teilsystemen gebildeten lebensweltlichen Zusammenhängen darstellt. Damit radikalisiert sich ein Tatbestand, der aus der Lebenswelttheorie länger schon bekannt ist: “In jeder einzelnen Handlung stecken mehr Bedeutungen als direkt anschlussfähig sind.”99

98 Vgl. Individuum, Individualität, 1976, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Hg., Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 4, Basel, Stuttgart. Beim antiken Begriff handelt es sich jedoch um einen allgemeinen Begriff des Nicht-Teilbaren, der sich noch nicht auf den Menschen eingeschänkt hat.

99 Willems/Hahn (1999), 14.

Das Resultat dieser Umstrukturierungsprozesse ist – so zumindest sieht es die Theorie – ein von der Gesellschaft exkludiertes Individuum. Dieses moderne Individuum kann dann nur noch “ausserhalb” der Gesellschaft leben und konstituiert sich entsprechend als eigenes “System”, da es aufgrund seiner Teilsystemexistenzen als gesamt-gesellschaftliches Wesen keinen Ort mehr findet.100 Die Individuen werden dabei jedoch nicht “abgelöst” oder

“abgetrennt” von der Gesellschaft, da es gerade der gesellschaftliche Ausdifferenzierungsprozess, also die Gesellschaft selbst ist, die das moderne Individuum konstituiert und die damit auch die Erfahrungsgrundlagen und die Semantiken individueller Selbstwahrnehmung, insbesondere die Semantik des einzigartigen, “asozialen” Subjekts, hervorbringt. Das moderne Individuum, wie sehr es auch versucht, sich gegen die Gesellschaft und in Abgrenzung von ihr zu bestimmen und seine Einzigartigkeit zu betonen, bleibt ein soziales Produkt des strukturellen und kulturellen Wandels. Mit dem strukturellen Prozess ist ein Wandel der Semantik verwoben, der ein Angebot an Möglichkeiten identitätsstiftender Thematisierungen des Ich entfaltet, die diesem erlauben, sinnhaft mit der lebensweltlichen Situation der Fragmentierung umzugehen. Einer solchen Sichtweise liegt auf der theoretischen Ebene ein Kulturbegriff und damit ein Gesellschaftsbegriff zugrunde, der davon ausgeht, dass soziale Wirklichkeit von den Handelnden in ihrem Handeln unter der Wirkung des immer schon Gegebenen und damit

‘Objektivierten’ hervorgebracht, das heisst reproduziert und verändert wird.101

Der Identitätsbegriff, so wie er in der vorliegenden Arbeit verwendet wird, setzt nicht an der Vorstellung eines isoliert dastehenden Subjekts an. Er zielt nicht auf ein substantielles Innenleben, dessen inhaltliche Elemente man gleichsam beschreiben und so die Identität objektivieren, “dingfest” machen könnte. Im Unterschied zu einem solchen Identitätsverständnis wird hier das Phänomen der Identität einerseits anthropologisch, andererseits historisch verstanden: Identität hat eine gattungsgeschichtliche Dimension, die die

100 Niklas Luhmann, 1993, Individuum, Individualität, Individualismus, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 3, Frankfurt/Main, 158.

101 Siehe Hans-Georg Soeffner, 1988, Kulturmythos und kulturelle Realität(en), in: ders., Hg., Kultur und Alltag, Soziale Welt, Sonderband 6, Göttingen, 3.

Sozialität des Menschen zeit- und kulturübergreifend betrifft; sie hat darüberhinaus jedoch auch eine geschichtliche und kulturspezifische Dimension.

Unter gattungsgeschichtlichem Blickwinkel sind persönliche Identität und Individualität keine Erfahrungen allein der Moderne, sondern konstitutiv für auf Interaktion basierende menschliche Existenz allgemein.102 Identität bildet sich, unabhängig von den historisch je verfügbaren spezifischen inhaltlichen Ausformungen, auf der Grundlage interaktiver Prozesse. Wie George H. Mead gezeigt hat, geht die soziale Gruppe dem Einzelnen voraus.103 Er wird in sie hineingeboren und entwickelt in ihr ein Bewusstsein seiner selbst, indem er lernt, sich selbst durch die Augen der anderen zu sehen. Durch die Verwendung signifikanter Gesten und Symbole im Austausch mit den anderen legt sich einerseits eine Distanz zwischen Ich und Umwelt, andererseits wird das eigene Ich als Objekt erfahren. Erst die Wahrnehmung von alter ego und damit der soziale Zusammenhang erlauben die Wahrnehmung des eigenen Ich, indem sich ego in alter “spiegelt”104. Der einzelne tritt damit gleichsam aus sich heraus, indem er die Rolle anderer und damit deren Perspektiven übernimmt. Für Mead ist die Genese der Ich-Identität ein fundamentaler sozialer Vorgang. Sie konstituiert sich im Prozess der Sozialität und ist dem Subjekt nicht als Substanz gegeben.105 Die persönliche Identität steht nicht für das Subjektive, nur einem einzelnen zukommende, sondern, indem sie die Hereinnahme der Umwelt ins Ich bedeutet, für das “gesellschaftlich Allgemeine”106. Zu einem Verständnis und zu einem Bewusstsein seiner selbst zu gelangen, heisst immer, Teil eines sozialen Kontexts – einer sozialen

102 Hans-Georg Soeffner, 1983, “Typus und Individualität” oder “Typen der Individualität”?

Entdeckungsreisen in das Land, in dem man zuhause ist, in: Horst Wenzel, Hg., Typus und Individualität im Mittelalter, München. Ebenso unterscheidet Luckmann persönliche Identität als “eine allgemeine gesellschaftliche Gegebenheit menschlichen Lebens”

einerseits und als “subjektives Problem, das geschichtlich von ganz besonderen gesellschaftlichen Strukturen abhängig ist”, andererseits, siehe Thomas Luckmann, 1996, Persönliche Identität, soziale Rolle und Rollendistanz, in: Odo Marquard, Karlheinz Stierle, Hg., Identität, Poetik und Hermeneutik VIII, München, 295.

103 George H. Mead, 1967 (1934), Mind, Self and Society. From the Standpoint of a Social Behaviorist, Chicago, London.

104 Die Metapher des “Spiegel-Selbst” (“looking-glass self”) geht auf Charles Horton Cooley zurück. Bereits wesentlich früher findet sich die Idee jedoch – worauf Hahn hinweist – bei Adam Smith in dessen Theory of Moral Sentiments, siehe Alois Hahn, 1987, Identität und Selbstthematisierung, in: Alois Hahn, Volker Kapp, Hg., Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt/Main, 9.

105 Siehe dazu auch Soeffner (1983).

Gruppe, einer Gesellschaft, einer Kultur – zu werden und an einer bestimmten

‘Weltsicht’ zu partizipieren und deren Orientierungs- und Wertschemata zu übernehmen. Mead hat für die aus der Gemeinschaft hervorgehende individuelle Identität den Begriff des ‘generalisierten Anderen’ (‘generalized other’) in die identitätstheoretische Diskussion eingeführt.107

Die Herausbildung der Ich-Identität auf der Grundlage von Sozialität ist von so grundlegender Natur, dass man sie als universal annehmen kann. Wo immer man auf Interaktionsgemeinschaften trifft, findet man den beschriebenen Vorgang der Objektivierung des Selbst durch “Spiegelung” im anderen. Während damit die Genese von Identität in ihrer durch die Gattung gegebenen Grundstruktur identifiziert ist und mit ihr auch Individualität als Konzept, insofern als sich das Individuum in diesem Prozess objektivierend selbst gegenübertritt und sich so als von den anderen unterschieden erkennt und wahrnimmt, sind die Möglichkeiten der Individuen, sich selbst als solche in ihrer Individualität zu thematisieren, im historischen Zeitlauf einem Wandel unterworfen. Zum Zweck des Auseinanderhaltens dieser beiden wesentlichen konzeptionellen Aspekte innerhalb der Individualisierungsdiskussion unterscheidet Alois Hahn den Lebenslauf von der Biographie. Der Lebenslauf ist universal. Er ergibt sich – wie das Wort suggeriert – aus dem kontinuierlichen Lauf des Lebens in dessen unendlicher Ereignishaftigkeit:

“Der Lebenslauf ist eine Gesamtheit von Ereignissen, Erfahrungen, Empfindungen usw. mit unendlicher Zahl von Elementen.”108 Er hat ein Selbst zum Gegenstand, das nicht das Resultat sozialer Zurechnungen ist. Das Selbst ist auf der Ebene des Lebenslaufes vielmehr “blosses Lebenslaufresultat”109. Auch der Lebenslauf entfaltet sich zumindest zum Teil vor dem Hintergrund beziehungsweise auf der Grundlage sozialen Handelns, denn er lässt sich gerade dadurch charakterisieren, dass er alle Erlebnisse und Handlungen, die jeweils von Augenblick zu Augenblick entstehen und vergehen, ausnahmslos umfasst. Hahn führt dazu den Begriff des ‘impliziten’ Selbst ein:

106 Soeffner (1983), 17.

107 Mead (1967), 152ff.

108 Hahn (1987), 12.

109 Hahn (1987), 12.

“Einmal nämlich ergibt sich eine Identität als Inbegriff von im Laufe des Lebens erworbenen Gewohnheiten, Dispositionen, Erfahrungen usw., die das Individuum prägen und charakterisieren. Man könnte vom Ich als einem Habitusensemble sprechen. Es geht dann um ein eher »implizites« Selbst, das sich durch sein Handeln zeigt, festigt und verwirklicht, das aber nicht deshalb schon im eigentlichen Sinne selbstreflexiv ist. Die Identität in diesem Sinne wäre lediglich das Selbst in der Form des An-Sich.”110

Davon zu unterscheiden ist das ‘explizite’ Selbst. Es handelt sich dabei um

“ein Ich, das seine Selbstheit ausdrücklich macht, sie als solche zum Gegenstand von Darstellung und Kommunikation erhebt”111. Hier haben wir es mit einem Selbst zu tun, das durch soziale Zuschreibungen entsteht. Ein solches Selbst konstituiert sich nicht mehr aus allen Elementen seines Lebenslaufs, sondern es entwickelt eine Selbstsicht, die durch die soziale Gruppe beziehungsweise durch die sozialen Gruppen, in denen es sich bewegt, geformt wird. In Anlehnung an Mead und dessen Konzept der Übernahme von Fremdperspektiven sieht Hahn dieses Selbst als etwas, das sich über die Zeit hinweg mithilfe der ihm durch die soziale Gruppe zugeschriebenen Akte als ein Identisch-Bestehendes zu begreifen lernt. Die Gruppe erinnert die Handlungen in einer bestimmten zeitlichen Abfolge. Es ist damit die Gruppe, die letztlich auf der Grundlage dessen, was sie für “gedächtniswürdig” (Hahn) hält, verantwortlich dafür ist, was dem Handelnden als seine Vergangenheit zugeschrieben wird. Damit lernt der einzelne, sich gewissermassen mit den Augen der Gruppe zu sehen. Auf der Grundlage sozialer Zurechnungen kann er sich nun selbst zum Gegenstand der Kommunikation machen und sich in einer bestimmten Weise darstellen. Er entwickelt ein Bild von sich. Was jedoch leicht als Akt der Selbstkreation erscheinen könnte, ist angwiesen auf die jeweils in einem bestimmten sozialen Kontext zu einer bestimmten Zeit gegebenen Möglichkeiten der Selbstdarstellung. Es handelt sich um eine Abstraktion vom reinen Lebenslauf, die Abstraktionsleistung ist jedoch nicht individuell:

110 Hahn (1987), 10.

111 Hahn (1987), 10.

“Das Selbstbild als Resultat von zurechnungsfähigen Selbstäusserungen ist stets durch einen bestimmten Aufbau charakterisiert, einen Zusammenhang, in den Wertvorstellungen, Wirklichkeitsauffassungen, Richtigkeits- und Wichtigkeitskriterien der umgebenden Gesellschaft eingehen. Der Sinn, den meine Identität darstellt, ist also von Anfang an verwoben mit einem Sinn, der nicht von mir stammt. Welche meiner Akte ich nicht vergesse, welche mir nicht vergessen werden, welche Akte und Erlebnisse also zu mir gehören, ergibt sich einerseits aus Sinnzusammenhängen, die die soziale Gruppe schon zugrunde legte, bevor ich geboren wurde, andererseits aber auch aus den Darstellungsgelegenheiten, die die Gruppe zur Verfügung hält, in denen ein Individuum sich in sozial zurechnungsfähiger Form »ausdrückt«.”112

Unter Rückgriff auf die durch die soziale Gruppe zur Verfügung gestellten, historisch und kulturell relativen semantischen und symbolischen Mittel können Individuen sich selbst als solche darstellen. Im Gegensatz zum

‘impliziten’ Selbst drückt das ‘explizite’ Selbst seine Selbstheit aus. Dabei bezieht es sich auf soziale Zuschreibungen, auf Bilder, die durch den Prozess der Übernahme fremder Perspektiven verfügbar werden. Diese Bilder sind immer weniger als der ganze Lebens- und Handlungszusammenhang in seiner fast endlosen Vielfalt der Verknüpfungen. Es handelt sich um abstrahierende Vereinfachungen. Ohne sie wäre Kommunikation kaum möglich, da sie über kein Strukturierungsprinzip inform von möglichen Selektionen verfügen würde. Nun hängen diese Bilder, wie Hahn gezeigt hat, wesentlich von institutionellen Zusammenhängen ab, die die Individuen mit den entsprechenden Selbstthematisierungsmöglichkeiten als den je historisch-kulturell variablen Ausdrucksformen versehen.

Institutionalisierte Möglichkeiten der Selbstthematisierung lassen sich vorstellen als entweder fallweise an den situativen Kontext gebunden oder aber als auf eine Zeitspanne verweisend, die bis zur Biographie als Ganzes ausgedehnt werden kann. Situationale Selbstthematisierungen erlauben dabei noch nicht, das Selbst als Ganzheit, sondern bloss fallweise zum Thema der Darstellung zu machen. Das Individuum gibt dabei zu erkennen, dass es mehr ist als dasjenige, was situativ gerade als es erscheint. Selbstdarstellung im

112 Hahn (1987), 11.

situativen Fall bleibt an den Handlungsfluss gebunden beziehungsweise in ihn integriert. Gemäss Hahn handelt es sich dabei noch nicht um ein umfassendes Bekenntnis zur eigenen Person: “Trotzdem ist hier schon mehr als die bloss implizite Selbstpräsenz sichtbar. Wenn auch mit knappen Zeichen, durch einige handlungsbegleitende Worte, Gesten oder Arrangements verweist der Handelnde absichtlich auf situationsübergreifende Selbstbezüge.”113 Während sozial geprägte An-Sich-Formen der Identität ebenso wie situative Selbstdarstellungen historisch universal sind, trifft das auf die eigentliche biographische Selbstreflexion nicht zu. Geht es nicht um situationale Selbstthematisierungen, sondern um biographische Gesamtdarstellungen, die aus dem blossen Lebenslauf eine Vita machen und die entsprechenden Symboliken bereitstellen, haben wir es mit bestimmten sozialen Institutionen der Darstellungsform zu tun, die Hahn ‘Biographiegeneratoren’114 nennt.

Diese Generatoren erlauben die Rückbesinnung auf das eigene Dasein und geben der biographischen Selbstreflexion eine bestimmte Richtung. Nicht zu allen Zeiten und nicht in allen Gesellschaften war und ist es möglich, überhaupt über Biographie zu reden, sie zum Thema der Kommunikation zu machen. Nicht überall spielt das Ganze eines Einzellebens in chronologischer Abfolge eine Rolle. Möglichkeiten der umfassenden symbolischen Selbstthematisierung der Biographie finden sich vor allem in den europäischen Gesellschaften seit dem späten Mittelalter und der frühen Neuzeit. Als Biographiegeneratoren institutionalisiert haben sie sich beispielsweise in der Form der Beichte115, der Psychoanalyse, des Tagebuchs, der Memoiren, aber auch als medizinische Anamnese und als Geständnis vor Gericht, sowie – eine neuere Errungenschaft, auf die Hahn hinweist – als biographisches Interview in den Sozialwissenschaften.116

Biographiegeneratoren generieren Biographien. Die Biographie wird dabei erschlossen beziehungsweise erst “geschaffen”, indem sich bestimmte

113 Hahn (1987), 12.

114 Hahn (1987), 12.

115 Siehe dazu vor allem Alois Hahn, 1982, Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse: Selbstthematisierung und Zivilisationsprozess, in:

Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 407-434 sowie Alois Hahn, Herbert Willems, 1993, Schuld und Bekenntnis in Beichte und Therapie, in: Jörg Bergmann, Alois Hahn, Thomas Luckmann, Hg., Religion und Kultur, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 33, Opladen.

116 Hahn (1987), 12.

Schemata herausbilden, mithilfe derer auf den unstrukturierten, unendlichen Erlebnis- und Handlungsstrom zugegriffen wird. Schemata erlauben das Herstellen von Anschlüssen für weiteres Erleben und Handeln, indem sie die Bezugspunkte für diese Anschlüsse bestimmen.117 Schematisierungen machen Wirklichkeit ausschnittweise zugänglich und ermöglichen so überhaupt die Interaktion mit anderen, indem sie aufgrund ihrer typisierenden Leistung Orientierung geben und Erwartungssicherheit im Umgang mit anderen herstellen. So kann etwa die Identitätszuschreibung durch einen Namen “die Kommunikation gegen die Überfülle komplexer Wirklichkeiten und Möglichkeiten meiner »empirischen« raum-zeitlichen Existenz”118 immunisieren. Die die in einer Gesellschaft verfügbare Handlungskomplexität reduzierenden biographischen Schemata unterscheiden sich je nach Gesellschaft in ihren Anforderungen an die Konsistenz des durch sie ausgedrückten, zeitlich strukturierten Identitätszusammenhangs. Für Europa lässt sich dabei sagen, dass erst in kulturgeschichtlich jüngerer Zeit überhaupt umfassende, Konsistenz fordernde biographische Schemata zur Verfügung

Schemata herausbilden, mithilfe derer auf den unstrukturierten, unendlichen Erlebnis- und Handlungsstrom zugegriffen wird. Schemata erlauben das Herstellen von Anschlüssen für weiteres Erleben und Handeln, indem sie die Bezugspunkte für diese Anschlüsse bestimmen.117 Schematisierungen machen Wirklichkeit ausschnittweise zugänglich und ermöglichen so überhaupt die Interaktion mit anderen, indem sie aufgrund ihrer typisierenden Leistung Orientierung geben und Erwartungssicherheit im Umgang mit anderen herstellen. So kann etwa die Identitätszuschreibung durch einen Namen “die Kommunikation gegen die Überfülle komplexer Wirklichkeiten und Möglichkeiten meiner »empirischen« raum-zeitlichen Existenz”118 immunisieren. Die die in einer Gesellschaft verfügbare Handlungskomplexität reduzierenden biographischen Schemata unterscheiden sich je nach Gesellschaft in ihren Anforderungen an die Konsistenz des durch sie ausgedrückten, zeitlich strukturierten Identitätszusammenhangs. Für Europa lässt sich dabei sagen, dass erst in kulturgeschichtlich jüngerer Zeit überhaupt umfassende, Konsistenz fordernde biographische Schemata zur Verfügung