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Innerweltliche Individualität und ihre transzendente Fundierung

4.1 Der Alltag als Ort des Transzendenten

Der Bereich der ausseralltäglichen Wirklichkeit, so wurde im ersten Kapitel festgehalten, ist der Bereich der Religion. Darüberhinaus wurde der Religion ein quasiontologischer Anspruch (Knoblauch) zugeschrieben. Die Religion zielt auf den Bereich der ‘grossen’ Transzendenz und macht diesen mithilfe besonderer, historisch variabler Symboliken thematisierbar. Damit stellt sich dieser Religionsbegriff in die westliche, jüdisch-christliche Tradition, indem er die Trennung von Immanenz und Transzendenz nachvollzieht. Die Diskussion des empirischen Materials, die im folgenden in Angriff genommen werden soll, verweist dabei immer wieder auf die Schwierigkeiten, auf die die zweipolige, auf Gegensätzlichkeit angelegte Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz stösst. Die amerikanische Situation, so wie sie sich in den Interviews und aufgrund der Beobachtungen des hier untersuchten empirischen Feldes eruieren lässt, macht deutlich, dass eine klare Trennung zwischen den Sphären des Transzendenten und des Immanenten oft nicht möglich ist.262 Die Trennung hebt sich hier jedoch nicht, wie vielleicht zu erwarten wäre und wie es der europäischen Situation eher entsprechen würde, zugunsten des Immanenten auf. Wir haben es im amerikanischen Fall weniger mit der Auflösung des Transzendenten oder deren “Einschrumpfung”263 auf Innerweltlichkeit zu tun, als mit einem “Hereinziehen” des Transzendenten in die Welt hinein. Deutlich tritt dies am Alltagsverständnis der Amerikaner sowie an der besonderen Erwartungshaltung, die sie gegenüber dem Alltag und dessen religiösen sowie spirituellen Möglichkeiten formulieren, zutage.

Die Fusion von alltäglichem Leben und religiöser Sinnstiftung hat freilich eine

262 Vgl. Pollack (1995), 169. Zur religionssoziologisch problematischen Unterscheidung von

‘heilig’/’profan’ beziehungsweise von ‘sacred’/’secular’ insbesondere im amerikanischen Fall vgl. auch R. Stephen Warner, 1993, Work in Progress toward a New Paradigm for the Sociological Study of Religion in the United States, in: AJS, Volume 98, Number 5, 1069f. Vgl. auch Phillip E. Hammond, 1985, Introduction, in: Phillip E. Hammond, ed., The Sacred in a Secular Age. Toward Revision in the Scientific Study of Religion, Berkeley, California.

263 Vgl. Thomas Luckmann, 1990, Shrinking Transcendence, Expanding Religion?, in:

Sociological Analysis 50:2, 127-138.

lange Geschichte vor allem in der volksreligiösen Tradition. Erst im Zusammenhang mit einer besonderen temporalen Dynamik kann sie als typisch amerikanisch gelten. In drei Schritten soll im folgenden versucht werden, am empirischen Material diesen Zusammenhang zu rekonstruieren.

Im ersten Abschnitt geht es dabei direkt um die Frage nach dem Bezug von Alltagswelt und Transzendenz (4.1). Der zweite Abschnitt befasst sich sodann mit einem besonderen, immer wieder auftauchenden biographischen Topos, mit der ‘journey’ (4.2). Im drittten Abschnitt schliesslich steht das Verhältnis der zeitlichen Dimensionen von Gegenwart und Zukunft im Rahmen des individuellen Selbstverständnisses und der individuellen Biographie im Zentrum (4.3).

Ein Teil der vierzig interviewten Amerikaner und Amerikanerinnen in den drei hier betrachteten religiösen Gruppen – Unitarier, Katholiken und Buddhisten – mag zum Zeitpunkt, da die Ergebnisse der Untersuchung niedergeschrieben werden, bereits wieder unterwegs sein zu neuen Ufern der spirituellen Suche und sich anderen Gruppen zuwenden oder aber die Suche für sich allein ohne einen institutionalisierten Gruppenzusammenhang vorantreiben.264 Dreissig Prozent aller Amerikaner – so die Schätzung einer jüngeren Studie auf der Grundlage einer Befragung von 113’000 Personen265 – wechseln ihre denominationelle Zugehörigkeit im Verlaufe ihres Lebens. In der Mehrzahl der Fälle ist der Wechsel weltanschaulich nicht spektakulär, da er zwischen protestantischen Denominationen stattfindet. Und doch ist gemäss manchen Autoren heute innerhalb der amerikanischen Gesellschaft ein

264 Zur hohen Fluktuation der Gruppenzugehörigkeiten siehe auch Charles H. Lippy, 1994, Being Religious, American Style. A History of Popular Religiosity in the United States, Westport, Connecticut, London, 231f. Vgl. auch Robert Wuthnow, 1998a, Loose Connections. Joining Together in America’s Fragmented Communities, Cambridge, Massachusetts, London, England und Robert Wuthnow, 1996, Sharing the Journey.

Support Groups and America’s New Quest for Community, New York. Die historische Kontinuität des Phänomens betont Warner (1993), 1079.

265 Barry A. Kosmin, Seymour P. Lachman, 1993, One Nation Under God. Religion in Contemporary American Society, New York. Siehe auch NYT Magazine, March 31, 1996. Der Vergleich auf der Grundlage von zwei Gallup-Umfragen zeigt, dass Mitte der fünfziger Jahre eine von 25 Personen oder vier Prozent der Erwachsenenbevölkerung der USA am Glauben ihrer Kindheit nicht mehr festhielten, während sich dieses Verhältnis Mitte der achziger Jahre auf eins zu drei verändert hat, wobei ein höherer Ausbildungsgrad die Bereitschaft zum Denominations- bzw. zum Religionswechsel erhöht, siehe Robert Wuthnow, 1988, The Restructuring of American Religion. Society and Faith Since World War II, Princeton, New Jersey, 88f.

aussergewöhnlicher und in seinen Ausmassen neuartiger spiritueller Suchprozess im Gange, wie es ihn zuvor in der Geschichte des Landes nicht gegeben hat.266 Diese Suche äussert sich nicht nur im Wechsel religiöser Gruppenzugehörigkeit, sondern auch inform eines Wiederentdeckens und Wiederbelebens der eigenen, familiär gegebenen, jedoch unhinterfragt hingenommenen und oft nur noch aus der Distanz wahrgenommenen religiösen Wurzeln. So erfahren viele Amerikaner im Erlebnis einer religiösen Wiedergeburt267 Bestätigung und Vertiefung der spirituellen Dimensionen ihrer Existenz. Aber nicht nur die relativ spektakulären und zuweilen erschütternden Erfahrungen, die von sogenannten “born agains” zu Protokoll gegeben werden, sondern auch die weniger enthusiastisch und aufsehenerregend verlaufenden Versuche, sich durch die Auseinandersetzung mit Tradition und Geschichte einer bestimmten Religion gleichsam auf intellektuell kontrollierterem Wege Zugang zu spiritueller Erfahrung zu verschaffen, zeugen von der beeindruckend hohen religiösen Aktivität innerhalb der amerikanischen Gesellschaft. Spirituelle Suche wird dabei zu einem grossen Teil ausserhalb der klassischen religiösen Institutionen wie Kirchen, Tempel und Moscheen fassbar. Wie Robert Wuthnow an reichhaltigem empirischem Material nachweist, hat sich die Religiosität institutionell befreit und in ihrem Ausdruck auch unabhängig von den traditionelleren Institutionen vervielfältigt. Sie findet sich – ohne deswegen aus den Kirchen zu verschwinden – in ihrer Form als spirituelle Suche in den verschiedensten sozialen Kontexten wie etwa Kleingruppen und Selbsthilfegruppen aller erdenklichen Art.268 Das religiöse Angebot auf dem Internet ist jüngst dazugekommen.

266 Kosmin/Lachman (1993), 283, prognostizierten im Hinblick auf den bevorstehenden Jahrtausendwechsel einen religiösen Aufschwung innerhalb der amerikanischen Gesellschaft. Dieser hat jedoch, wie wir heute wissen, nicht stattgefunden, weder in den USA noch in Europa. Für die deutsche Situation siehe Bernd Schnettler, 1999, Millenniumswechsel und populare Apokalyptik. Prophetische Visionen an der Schwelle zum Jahr 2000, in: Anne Honer, Ronald Kurt, Jo Reichertz, Hg., Diesseitsreligion. Zur Deutung der Bedeutung moderner Kultur, Konstanz. Vgl. auch Robert Wuthnow, 1998, After Heaven. Spirituality in America since the 1950s, Berkeley, Los Angeles, London, v.a. 52ff.

267 Zum Phänomen des ‘Againism’ vgl. auch Annamaria Geiger, 1987, Born-Againism: Popular Religion in Contemporary America, in: Peter Freese, ed., Religion and Philosophy in the United States of America, Vol. 1, Essen.

268 Robert Wuthnow weist auf der Grundlage einer breit angelegten Studie zur Frage nach Bedeutung und Rolle von Kleingruppen innerhalb der amerikanischen Gesellschaft auf

Die folgenden Ausschnitte aus dem empirischen Material versuchen, einige Facetten dieser Spiritualität zu entfalten mit dem Ziel, dabei den besonderen Formen von Individualität, die darin zum Ausdruck gebracht werden, auf die Spur zu kommen. Nicht besonders überraschend zieht sich wie ein roter Faden vor allem ein Aspekt durch die Interviews hindurch und taucht in fast allen Interviews und in allen drei Gruppen auf, nämlich die scheinbar einfache Frage nach der eigenen Identität: Who am I? Spirituelle Erfahrung soll darauf eine Antwort geben – oder vielleicht besser: spirituelle Erfahrung ist, wenn sie gemacht wird, für die Interviewten die Antwort auf die Frage nach der eigenen Identität sowie nach dem Ort, den das Ich im grösseren Ganzen der Welt findet. Es ist dieses Welt-Sein”, Welt-Suchen” und “In-der-Welt-Finden”, das sich wie selbstverständlich durch die meisten Interviews zieht. Das Ich setzt sich nicht einfach auseinander mit der Welt – eine Vorstellung, die das Anderssein der Welt und damit Distanz, Fremdheit oder

den Zusammenhang von Spiritualität und Mitgliedschaft in diesen Gruppen hin. Auch Gruppen, die nicht direkt in einem kirchlichen Zusammenhang angesiedelt sind, zeigen bei ihren Mitgliedern eine starke Komponente an spiritueller Suche. Viele der Selbsthilfegruppen funktionieren nach dem ‘twelve steps’-Verfahren, wie es von den Alcoholics Anonymous entwickelt wurde. Hilfe gibt es mittlerweile für die verschiedensten Anliegen, Abhängigkeiten und Dysfunktionalitäten, und die Gruppen sind hochspezialisiert. Da gibt es zum Beispiel Al-Anon (für die Familienmitglieder von Alkoholikern), Adult Children of Alcoholics, Narcotics Anonymous, Overeaters Anonymous, Co-Dependents Anonymous (für Menschen mit einem zwanghaften Verantwortungsgefühl gegenüber anderen: “for people who compulsively take responsibility for others”) sowie alle möglichen Spezialgruppen die sich an Spielsüchtige, Raucher, Drogenkonsumenten, Diebe, Sexualtäter wenden oder Unterstützung anbieten für Eltern, Grosseltern, Homosexuelle, Witwen, Geschiedene, chronische Workaholics, ehemalige Fundamentalisten oder solche, die an Emphysemen leiden. Einige andere sind – obwohl dies die Liste bei weitem noch nicht komplett macht: Anorexic Bulimics Anonymous, Families of Sex Offenders Anonymous, Victims Anonymous, Alateen und Gamateen (für Teenager), Dual Disorders Anonymous. Darüberhinaus wären eine ganze Reihe spezieller Interessengruppen anzuführen sowie nach wie vor die diversen Gruppen innerhalb des traditionelleren religiösen Kontexts wie Bibelgruppen, Sonntagsschulen, prayer fellowships usw. Diese Gruppen bilden gemäss Wuthnow einen Grundpfeiler amerikanischer Religiosität: “The groups we are interested in here are not ends in themselves. They are the setting in which millions of Americans are currently trying to find themselves and to discover what it means to be more fully human and more fully in tune with their own spirituality and with God.” Und: “I would go so far as to say that the small-group movement cannot be understood except in relation to the deep yearning for the sacred that characterizes much of the American public.” Robert Wuthnow (1996), 71ff., 56, 16. Siehe auch Lippy (1994), 232f., der darauf hinweist, dass im zwanzigsten Jahrhundert achthundert neue Religionen in den Vereinigten Staaten entstanden sind. Der neue Pluralismus zeichnet sich besonders durch einen unbewussten Synkretismus (“unconscious syncretism”) aus: “The new pluralism increases the range of sources on which individual women and men may draw in constructing a private constellation of beliefs and values through which they will give meaning to their lives.”

gar Entfremdung impliziert –, sondern es ist Teil der Welt in einer Weise, die die Differenz von Welt und Individuum tendenziell zum Verschwinden bringt.

Dabei wird das religiöse Bezugssystem in erster Linie durch den Alltag gegeben. Spiritualität muss sich im Alltag bewähren. Sie ist etwas Alltägliches und erst in ihrer Veralltäglichung wird spirituelle Erfahrung als glaubhaft und authentisch erlebt. Der Bogen zur ‘grossen’ Transzendenz hin bleibt jedoch offen. D., ein Unitarier, drückt diesen Zusammenhang folgendermassen aus:

“(…) I’m just looking to have fun, I guess, it’s now it’s just more kind of taking it relaxing, I guess, they they come anyway, I mean, signs are there signs are there’s someone in heaven, or somehow there is a God somewhere out there. They’re all around, just look for them. Yeah, you know, that’s part that’s part of Unitarian Universalism anyway that that religious meaning can be found in the everyday things, you know, that’s a big that’s a big part of it too. That, you know, you don’t have to go, it’s not – miracles are not just the parting of the Red Sea. Miracles are also like, you know, a leaf on a tree a like a – a sun shining through a cloud or whatever. Just everyday little things that happen, you know, that those are kind of like miracles, those are kind of signs of God and his work, you know. So he’s just he’s there. He’s around.

He’s all over the place, you know.”269

Ein Gott als ausseralltäglicher Referenzpunkt bleibt hier bestehen, wenn er selbst auch – was nicht weiter ungewöhnlich ist für einen Gott – keine klaren Konturen in Bezug auf seine besonderen Charakteristika erhält. Zeichen verweisen auf seine Existenz – irgend jemand ist im “Himmel” oder irgendwo sonst “da draussen”. Es gibt Zeichen (“signs”) in Hülle und Fülle, die als Chiffren auf den abwesenden Gott hindeuten. Die Zeichen büssen am Schluss der zitierten Passage jedoch etwas von ihrem Verweisungscharakter ein und gewinnen selbst Realität inform des in der Welt anwesenden Gottes, welcher, wenn auch nicht in seinen Eigenschaften konkret fassbar, so doch auch nicht geheimnisvoll entrückt wirkt, denn er lässt sich in Zeichenform überall

269 Transkriptionshinweise: Gedankenstriche bedeuten Pausen: – kürzere Pause (– entspricht ungefähr 1 Sek.), – – mittellange Pause, – – – lange Pause; eckige Klammern enthalten undeutlich Gesprochenes [abc], wenn sie leer sind Unverständliches […]; Betontes wird kursiv gesetzt.

antreffen: “He’s all over the place.” Die Distanz zwischen Gott und dem Gläubigen schrumpft zusammen, ohne jedoch ganz zu verschwinden.

Tägliches Leben und Transzendenz gehen hier eine unbeschwerte Verbindung ein. Die Dinge gehen D. “locker” von der Hand, und wie ungerufen und zwanglos eröffnen sich die Räume des Transzendenten, bis sie schliesslich alles umfassen und ausfüllen und Gott in allem zugegen sein lassen. Man muss nur offen sein und nach den Zeichen Ausschau halten – nach den kleinen Wundern des täglichen Lebens, die dessen inhärenten Sinn erschliessen. Erst indem man die Zeichen erkennt, erkennt man Gott selbst. Die Chiffren, die ihrem Charakter nach nur andeuten, was jenseits der erfahrbaren Welt liegt und damit letztlich unzugänglich bleibt, verlieren ihren Zeichencharakter zwar nicht, er löst sich jedoch tendenziell auf, indem die Trennung von Repräsentierendem und Repräsentiertem durch die lückenlose Allgegen-wärtigkeit des Verweisungszusammenhangs in der Welt entschärft wird. Das

‘nicht wirklich Präsente’ und als solches nur Repräsentier-, aber nicht direkt Erfahrbare wird der Tendenz nach zum ‘wirklich Präsenten’, das in der Welt erscheint.270 Die Differenz von Jenseits und Diesseits, von Transzendenz und Immanenz relativiert sich. Sie lässt sich zumindest nicht als radikale Trennung der Sphären lesen. Dies zeigt sich beispielsweise auch am besonderen Charakter der Wunder. Die Wunder beziehen sich hier nicht – wie man eigentlich erwarten würde von einem richtigen Wunder – auf das Ausseralltägliche, sondern fügen sich nicht nur vollständig ein in die Welt, sondern sind Teil der Alltagswelt: wer sieht nicht jeden Tag, während er routinemässig seinen Beschäftigungen nachgeht, Blätter an den Bäumen und die Sonne durch die Wolken scheinen oder andere “kleine Wunder”, wohin man sich auch immer wendet. Diese Wunder sind gemessen an dem, was üblicherweise für ein Wunder gehalten wird – etwa in der Bibel –, keine Wunder mehr. Sie sind Teil der diesseitigen Wirklichkeit nicht indem sie diese in ihrer Normalität und Alltäglichkeit durch wundersame “Anormalität”

kontrastieren und so über das Diesseits hinausverweisen, sondern indem sie sich selbst als Alltägliche in den Alltag einordnen. Die Wunder hören auf, Wunder zu sein, insofern sie alltäglich werden. Das führt dann schliesslich

270 Vgl. Soeffner (1991), 71.

dazu, dass der Alltag selbst zum Wunder wird, denn hier findet sich Gott an seinem Werk, überall – “all over the place”. Der Alltag ist zum Ort des Erscheinens ‘grosser’ Transzendenz geworden. Was immer D. sucht, er sucht und findet im Alltag und nicht als Folge von dessen Überhöhung im Ausseralltäglichen.271

Robert Wuthnow hat in seiner Untersuchung zur Spiritualität in der amerikanischen Gesellschaft seit den 1950er Jahren einen ähnlichen Zusammenhang aufgedeckt.272 Spiritualität ist in erster Linie eine Erfahrung des alltäglichen Lebens. Entsprechend der Vielzahl möglicher individueller Wahrnehmungen und Erfahrungen der Welt ist auch die Bandbreite spiritueller Erfahrung gross. Grundsätzlich kann alles als ein Ausdruck spiritueller Kräfte gelesen werden. Spiritualität löst sich damit von den ausgezeichneten Orten des Heiligen. Ihre Erfahrung lässt sich überall machen, weil Gott oder eine wie auch immer zu bezeichnende höhere Macht in jedem Detail der Welt steckt. R. Laurence Moore hat festgestellt, dass beispielsweise Dingen wie Autos und Bäumen oft eine Seele zugeschrieben wird.273 Auf den oben zitierten Unitarier trifft auch zu, was ein Subjekt aus Wuthnows Untersuchung meint: “There is no one God. But there is a spirit that moves through all things. There’s an energy and there’s spiritual laws that determine how that energy moves.”274 Immer wieder ist anstelle eines Gottes von einer

“Energie” die Rede. Gemäss Wuthnow legt der historisch gewachsene Glaube der meisten Amerikaner zwar einen monotheistischen Gott nahe, die religiöse

271 Zum weitverbreiteten Wunderglauben in der amerikanischen Gesellschaft siehe George Gallup Jr., Jim Castelli, 1989, The People’s Religion. American Faith in the 90’s, New York, London, 58.

272 Wuthnow (1998). Für die Untersuchung wurden 200 Personen oft bis zu fünf bis sieben Stunden lang zu Fragen ihrer Spiritualität interviewt. Bei den Interviewten handelt es sich um Männer und Frauen jeden Alters mit unterschiedlichem Ausbildungsgrad, in verschiedensten Beschäftigungen und von unterschiedlichstem religiösem und ethnischem Hintergrund. Darüberhinaus wurde auf bestehende Forschungen, auf einflussreiche Interpretationen der amerikanischen religiösen und kulturellen Situation der letzten Jahrzehnte sowie auf populäre Bücher und Artikel zu verschiedensten Aspekten von Spiritualität zurückgegriffen. Schliesslich stützen sich die Ergebnisse der Untersuchung auf einige Dutzend breit angelegter Meinungsumfragen. Siehe a.a.O., viii.

273 R. Laurence Moore, 1986, Religious Outsiders and the Making of Americans, New York.

Siehe auch Wuthnow (1998), 162, der in diesem Zusammenhang von einem ‘dispersed self’ spricht, das seine Identität an den unterschiedlichsten Erfahrungen und Begegnungen gewinnt: “Broadly speaking, it is a dispersion of experiences, themselves widely separated in space and time, with different people, and of varying significance. Although the self is always more than these experiences, it must be understood to reside in them as well and thus to be scattered as they are.”

274 Zit. nach Wuthnow (1998), 161.

Praxis weist jedoch oft polytheistische Elemente auf.275 So sind ganze Brigaden von Schutzengeln unterwegs, und Formen der Ehrerbietung finden sich für Pflanzen ebenso wie für Maskottchen athletischer Teams. Wuthnow bezeichnet dieses Phänomen – Thomas Moore folgend – als ‘psychologischen Polytheismus’: “to capture the kind of self that has many different claims made on it and that is able to find small truths in many places, rather than deriving answers from a single source”276. Die ganze Umwelt ist jeden Tag von neuem und in allen ihren Einzelheiten und Details voller Einfallstore ins Heilige – wie eine potente Wundermedizin, die ohne Rezept an jeder Ecke zu haben ist: “Like, I’ll see a tree, and I try to give it respect. Giving it respect often helps me break into a more spiritual mood.”277

Der Alltag ist jedoch nicht nur der Erscheinungsraum göttlichen Wunderwirkens. Für J., ebenfalls Unitarier, ist er nichts weniger als das. Er ist ihm vielmehr die Sphäre der Interaktion mit anderen. Der Alltag stellt jeden Tag von neuem eine Herausforderung dar, indem er den einzelnen mit den Imperativen des ethisch korrekten Handelns konfrontiert. Um diese alltäglichen Anforderungen ihrer Herkunft nach besser zu verstehen, studiert J.

in seiner Freizeit die verschiedenen Weltreligionen. Auf die Frage, was er meine, wenn er von “wahr” oder “Wahrheit” spricht, definiert er diese Begriffe auf der Grundlage einer ethisch reflektierten Haltung gegenüber der Mitwelt:

I: “When you say ‘true’, what do you mean? What is ‘true’ to you?”

J: “Well, something, for example, how we should treat another person. And that we shouldn’t care so much about material wealth ähm – that we should respect other people. Things that that I can grasp in my everyday

J: “Well, something, for example, how we should treat another person. And that we shouldn’t care so much about material wealth ähm – that we should respect other people. Things that that I can grasp in my everyday