[56] Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 111|
Heft 15|
11. April 2014KÖRPERBILDER: MICHAËL BORREMANS (*1963)
Zwischen Leben und Tod
D
ie Bezüge zur Kunstgeschichte sind unverkenn- bar. In ähnlicher Haltung wie Manets „Toter Tore- ro“ von 1864 liegen sie mit dem Rücken auf dem Boden:Die beiden Männerkörper, die Michaël Borremans etwa 140 Jahre später in der für ihn charakteristischen altmeis- terlichen Virtuosität malte. In entgegengesetzter Rich- tung auf dem Rücken ausgestreckt, einen Arm abgewin- kelt, den Kopf leicht zur Seite geneigt, die Augen ge- schlossen. Wir wissen nicht: Wer sind sie? Wo befinden sie sich? Sind sie tot oder lebendig? Wurden sie in einem Gewaltakt niedergestreckt, oder träumen sie lediglich vor sich hin? Aus dieser Sphäre des Ungewissen entsteht die Spannung, um die es dem Belgier geht: „Ich erzähle keine Geschichten, sondern zeige Wirklichkeit aus einer vieldeutigen, befremdlichen Perspektive. Das ergreift den Betrachter in nicht immer angenehmer Weise.“
Nicht Individuen, sondern Archetypen und die exis- tenziellen Fragen des Menschseins bis hin zu Verlas- senheit und Tod stehen im Zentrum seines Werks, das von verstörender Schönheit ist. Mit seinen zurückhal- tenden, exquisit nuancierten Farben eifert er insbeson- dere dem Barockmaler Diego Velázquez nach. Damit avancierte der in Gent lebende Borremans international zu einem der Stars der figurativen Gegenwartskunst.
Nach seinem Durchbruch um den Jahrtausendwechsel nahmen ihn berühmte Museen wie das New Yorker MoMA und das Art Institute of Chicago in ihre Samm- lungen auf. Zeitgleich folgten Einzelschauen etwa des Baseler Museums für Gegenwartskunst, der Kestner Gesellschaft Hannover und des Museums of Contem- porary Art Denver. Seine größte Retrospektive mit mehr als 100 Bildern, Zeichnungen und Filmen ist jetzt in Brüssel zu sehen.
Aber nicht nur Borremans kometenhafter Aufstieg ist außergewöhnlich, sondern auch sein Werdegang:
Erst mit Mitte 30 begann er zu malen, als Autodidakt.
Zuvor hatte er in Gent ein Studium in Fotografie und Grafikdesign absolviert und zehn Jahre als Zeichenleh- rer gearbeitet, bis er sich zutraute, sich der von früher Jugend an bewunderten Malerei zu verschreiben.
„Kunst ist immer ein Dialog – mit der Kunstgeschichte, wie mit der eigenen Vergangenheit“, sagte er einmal.
„In gewisser Weise sind alle meine Arbeiten biogra-
fisch.“ Sabine Schuchart
Michaël Borremans: „The Bodies (I)“, 2005, Öl auf Leinwand, 60 × 80 cm:
Zwei nicht näher zu identifizierende, mit Hemd und Hose bekleidete Männer liegen wie aufgebahrt nebeneinander – ein Szenario zwischen Leben und Tod.
Courtesy David Zwirner, New York/London; ©Photographer Ron Amstutz
LITERATUR
„Michaël Borremans. As sweet as it gets“, Ausstellungskatalog, 304 Seiten, 3 Versionen (Engl., Franz., Nl.), Hatje Cantz 2014; 49 Euro
AUSSTELLUNG:
„As sweet as it gets“
– Michaël Borremans.
Retrospektive Palais des Beaux-Arts, Rue Ravenstein 23, Brüssel;
www.bozar.be;
Di.–So. 10–18, Do. 10–21 Uhr;
bis 3. August 2014