• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Das Van-der-Kroef-Syndrom" (03.07.1980)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Das Van-der-Kroef-Syndrom" (03.07.1980)"

Copied!
5
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT Spektrum der Woche Aufsätze •Notizen

Heft 27 vom 3. Juli 1980

Das Van-der-Kroef-Syndrom

M. N. G. Dukes

Der folgende Bericht über ein Arzneimittelproblem, das im vergangenen Jahre die nie- derländischen Kollegen be- schäftigte, dürfte angesichts seiner allgemeinen Bedeu- tung auch für die Leser des DEUTSCHEN ÄRZTEBLATTS von erheblichem Interesse sein.

Die Existenz eines „Van-der-Kroef- Syndroms" wurde am 5. Juli 1979 einer größeren Öffentlichkeit gleich- sam explosiv bewußt. Das geschah in einem kleinen, von Wasserwegen durchzogenen Land am Rand der Nordsee. Der ärztliche Hauptakteur, Dr. C. van der Kroef, ist ein angese- hener Psychiater in Den Haag; das Arzneimittel im Mittelpunkt — Triazo- lam — ist das Erzeugnis eines ange- sehenen Herstellers.

Die Ereignisse des 5. Juli und der folgenden Monate könnten jedoch auch jeden kritisch beobachtenden Arzt, jedes Arzneimittel und jedes pharmazeutische Unternehmen be- troffen haben. Sie sind nicht so sehr ihrer selbst wegen wichtig, sondern deswegen, weil wir aus ihnen eine Menge darüber lernen können, wie man beim Verdacht auf eine uner- wünschte Arzneimittelwirkung auf dem richtigen und auf dem falschen Wege vorgehen kann. Schauen wir uns kurz den Ablauf der Ereignisse an:

Gegen Ende des Jahres 1978 wurde Dr. van der Kroef von einer 53 Jahre alten Dame, einer Rechtsanwältin, konsultiert. Sie litt an psychogener Depression und Schlaflosigkeit. Kei- nes der bewährten Hypnotika, die sie einnahm, hatte ihr geholfen, wes- wegen ihr 1-mg-Tabletten Triazolam verschrieben wurden, eines Hypnoti- kums, das sein Debüt in den Nieder- landen erst einige Monate zuvor ge- macht hatte. Zitieren wir, was der Psychiater selbst berichtete:

„Die Schlaflosigkeit besserte sich sofort, psychisch ging es jedoch mit ihr rasch bergab. Sie wurde zuneh-

mend paranoid. Sie fragte mich mehrere Male, was das neue Hypno- tikum enthielt — vielleicht LSD? — weil sie fühlte, daß sie einer Psycho- se nahe war. Sie wähnte sich von der übrigen Welt abgeschnitten; es war, als ob sie nicht mehr zur Gesell- schaft gehöre. Ihre Freunde fragten sie, was mit ihr passiere, so eigenar- tig benahm sie sich. Sie wurde zu- nehmend unruhig und hatte das Ge- fühl, dauernd unterwegs sein zu müssen. Sie entwickelte eine Hyper- ästhesie, konnte ihren eigenen Kör- pergeruch nicht mehr länger ertra- gen und wurde überempfindlich ge- gen Geräusche. Wenn sie auf der Straße war, schienen Radfahrer und Kraftwagen taumelnde Bewegungen zu vollführen. Nach zwei Monaten regte sich auch bei mir der Ver- dacht, besonders angesichts meiner Erfahrungen mit einem früheren Pa- tienten, daß dies alles eine Folge ih- rer Triazolam-Einnahme sein könne.

Das Arzneimittel wurde abgesetzt und durch Nitrazepam ersetzt. Nach einem Tag war sie wieder ihr altes Selbst. Ihrer Umgebung fiel der Un- terschied auf und erkannte sie als die alte wieder. Die paranoiden An- wandlungen, der Geschäftigkeits- drang und die Hyperästhesie ver- schwanden im Laufe von zwei Tagen . . . ".

Zu dem Zeitpunkt, als Dr. van der Kroef elf Patienten mit Triazolam be- handelt hatte, hatte er vergleichbare Vorkommnisse bei vier dieser Pa- tienten erlebt. Er beschloß, dieses Arzneimittel nicht mehr zu verord- nen. Gewissenhaft verfaßte er im Frühjahr 1979 ein Manuskript für die medizinische Fachzeitschrift und

(2)

Aufsätze -Notizen

Thema Arzneimittel-Information

berichtete seine Befunde an das na- tionale Zentrum für die Überwa- chung unerwünschter Arzneimittel- wirkungen.

Das Zentrum war, wie wir hörten, interessiert, aber nicht sonderlich überrascht, denn seit der Einfüh- rung von Triazolam Anfang 1978 war eine Handvoll ähnlicher Berichte eingegangen; zu wenig, um drasti- sche Maßnahmen zu rechtfertigen, aber genug, um eine sorgfältige Be- obachtung der Situation zu begrün- den. Man muß bedenken, daß bei solchen Zentren ein unablässiger Strom von Berichten eingeht, von denen viele sich als Windei erwei- sen; man braucht Zeit und Geduld, die Spreu vom Weizen zu trennen.

Manchmal ist Anlaß, den eigenen Verdacht der Ärzteschaft als ganzer mitzuteilen, die ihn dann möglicher- weise bestätigen oder zerstreuen kann. In diesem Falle war kein Anlaß dazu gegeben, weil Dr. van der Kroefs Veröffentlichung ohnehin am 6. Juli in der medizinischen Zeit- schrift erscheinen sollte; das Zen- trum informierte deshalb lediglich den Hersteller von seinen vorläufi- gen Eindrücken und wartete den 6.

Juli ab.

Aufruhr —

die einzig passende Bezeichnung Der Juli ist ein Ferienmonat in Hol- land. Diejenigen Holländer, die ihr Vertrauen in das heimische Klima noch nicht völlig verloren haben, be- völkern die Hotels entlang der Küste, wo sie fernsehen und das Ende des Regens abwarten. Die mehr reali- stisch eingestellte Mehrheit fliegt nach Mallorca und steht mit Heim- weh in Schlangen nach dem „Am- sterdam Telegraaf" an. Das Parla- ment ist in Ferien, die Fußballsaison vorbei und die Filmstudios sind ge- schlossen. Verzweifelt jagen die Me- dien nach genügend Neuigkeiten, um den Äther zu füllen und die uner- sättlichen Rotationspressen zu füt- tern.

In dieses Vakuum hinein flatterten nun — durch welche abwegigen Ka-

näle man nimmermehr entdecken wird — die Korrekturfahnen der Ar- beit von Dr. van der Kroef über Tria- zolam. Plötzlich waren, wie man in Holland sagt, die Puppen am Tan- zen. 24 Stunden, bevor die medizini- sche Zeitschrift erschien, wurden die Krankengeschichten, die eigent- lich zum Studium im Sprechzim- mer des Arztes gedacht waren, un- ter dem gnadenlosen Blendlicht der Studioscheinwerfer bloßgelegt.

Schlußfolgerungen, die für eine be- scheidene 9-Punkt-Drucktype ge- dacht waren („... ein hochtoxisches Hypnotikum, das sehr schnell schwere psychiatrische Störungen hervorrufen kann .. ."), wurden zu Schlagzeilen vergrößert.

Was sich während der nächsten vier Wochen ereignete, spottet jeder Be- schreibung; Aufruhr ist die einzig passende Bezeichnung. Die Fern- sprechanschlüsse des Nebenwir- kungsüberwachungszentrums wa- ren durch Anrufe von Ärzten blok- kiert; die meisten riefen an, die Be- obachtung zu bestätigen; wenige protestierten. Das niederländische Gesundheitsministerium bekam Postsäcke voller Briefe — einige alar- mierend, einige absurd, viele mit- leidheischend — von Personen, die sich selbst als Opfer des Triazolam darstellten und zum Handeln aufrie- fen beziehungsweise Entschädi- gung verlangten. Die wenigen Stim- men, die für eine leidenschaftslose Beurteilung der Lage plädierten, wurden in einer Atmosphäre, die von Anklage und Vorwürfen dominiert war, kaum gehört.

Das Zentrum für die Überwachung unerwünschter Arzneimittelwirkun- gen sandte am 16. Juli einen Brief an die Ärzte und bat sie um Mithilfe, nachdem es sich, so gut es ging, einen Überblick über die Anschuldi- gungen gegen Triazolam zusam- mengestellt hatte. Innerhalb von zwei Wochen gingen 600 Meldun- gen über vermutete unerwünschte Wirkungen von Triazolam ein, meist psychogener und viele offenbar psy- chotischer Art. 400 weitere folgten.

Am 6. August widerrief das Nieder- ländische Arzneimittelbewertungs- komitee die Triazolam-Lizenz für

sechs Monate angesichts des, wie das Komitee es nannte, schweren Verdachts, daß das Arzneimittel un- angemessen schädlich sei, nach- dem es sorgfältig das vorliegende Beweismaterial geprüft und die An- sicht des Herstellers gehört hatte.

Es war eine Entscheidung, die — fast im Sinne des Wortes — um die ganze Welt ging.

Einige chemische, pharmakologische und klinische Fakten

Bevor man die Umstände, die zum Ablauf der Ereignisse führten, eini- germaßen verstehen kann, muß man auf einige grundlegende chemische, pharmakologische und klinische Fakten zurückgreifen. Zu allererst — was ist Triazolam? Diejenigen, die darauf bestehen, daß Dr. van der Kroef lediglich mit einer wohlbe- kannten paradoxen Reaktion kon- frontiert war, wie sie mit Benzo- diazepinen vorkommt, werden Sie davon überzeugen, daß Triazolam ein Benzodiazepin ist. Das ist in ge- wissem Sinne richtig, es ist als ein Triazolo-Benzodiazepin bekannt. Die Bezeichnung ist jedoch merkwür- dig: „Triazo-" deutet auf 3 Stick- stoffatome, „diaze-" heißt, daß 2 vor- handen sind; in diesem besonderen Fall ist jedoch 3 + 2 = 4, weil ein Stickstoffatom sowohl dem traditio- nellen Benzodiazepinkern als auch dem hinzugefügten Triazoloring ge- meinsam ist. Mit anderen Worten liegt eine schon recht drastische Modifikation der bekannten Benzo- diazepinstruktur vor.

Hollister beschrieb Triazolam vor- sichtig als eine Substanz, die den

Benzodiazepinen „nahe verwandt"

sei. Pharmakologisch gesehen spra- chen Forscher aus den eigenen La- boratorien des Herstellers schon 1974 von den Triazolobenzodiazepi- nen als einer „neuen Klasse von zen- tralnervös dämpfenden Verbindun- gen" und betonten ihre „auffallen- den Abweichungen im Aktivitätspro- fil", verglichen mit den herkömmli- chen Benzodiazepinen. Alprazolam, ein anderer Vertreter dieser Klasse,

1728 Heft 27 vom 3. Juli 1980 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

(3)

ist als Antidepressivum in Entwick- lung. Mit anderen Worten: Es gibt tatsächlich Gründe, Triazolam in an- derem Licht zu sehen als die her- kömmlichen Benzodiazepinverbin- dungen.

Früher oder später mußte irgend et- was wie dieses ohnehin passieren, nachdem Chemiker 20 Jahre das Grundmolekül Chlordiazepoxid mit dem Ziel, seine Wirkung zu erhöhen, die Spezifität zu verbessern oder bloß um Patente zu umgehen, mani- puliert hatten. Das Benzodiazepin- konzept erwies sich jedoch überra- schend resistent gegenüber alle- dem, und solche Bemühungen re- sultierten im allgemeinen höchstens in einer geringen quantitativen Ver- schiebung im Spektrum der biologi- schen Aktivität; irgendwann ist man jedoch sicher, die Grenzen zu über- schreiten, innerhalb derer eine Struktur-Wirkungs-Beziehung auf- rechterhalten wird und mit irgendei- nem Benzodiazepin endet, das Agra- nulozytose, Phokomelie- oder eine Psychose hervorruft. Ob Triazolam ein solches Novum darstellt, ist zu diesem Zeitpunkt nicht klar und in dem gegenwärtigen Zusammen- hang ohne Bedeutung; es muß le- diglich gesagt werden, daß man nicht für alle Zeiten und ungestraft vom Beispiel des Librium® extrapo- lieren kann.

Unbeherrschte Aggressionen, sogar Tötungsabsichten ... ? Undiszipliniertes chemisches Den- ken hat eine Parallele in ebensol- chem klinischen Denken. Die Tatsa- che, daß Benzodiazepine von Zeit zu Zeit paradoxe Reaktionen auslösen können, ist- wie gesagt- wohl be- kannt. Bevor man jedoch die Wahr- haftigkeit einer solchen Feststellung prüfen kann, muß man zumindest definieren, was man unter dem Be- griff "paradox" in diesem bestimm- ten Gebiet versteht. Kann man Alp- träume, Gefühle der Unwirklichkeit oder Desorientiertheil als paradox bei alten Menschen bezeichnen, die Schwierigkeiten haben, eine gute Nachtruhe zu finden, sei es mit oder ohne Sedativum? Sprechen Sie mit

den Insassen eines Altersheims: möglicherweise finden Sie, daß sol- che Beschwerden eher die Regel als die Ausnahme sind. Es sind nicht Symptome wie diese, mit denen die Reputation jedes Hypnotikums steht oder fällt.

..,. Die Vorwürfe gegen Triazolam waren von einer anderen Größen- ordnung; sie kamen von Ärzten, die glaubten, daß das Arzneimittel bei em1gen Patienten unbeherrschte Aggressionen und sogar Tötungsab- sichten ausgelöst hat, während es andere zur Verzweiflung und manchmal zum Strang getrieben hat; sie bezogen sich auf Personen, die glaubten, daß sie drangsaliert, von Dämonen verfolgt oder durch ihren eigenen Herzschlag zum Wahnsinn getrieben würden. Es sind solche verschiedenartige Anschuldi- gungen wie diese, die man zu verifi- zieren oder zurückzuweisen versu- chen muß.

Wenn man, um mit diesem willkürli- chen Ausgangspunkt zu beginnen, die Literatur auf Anhaltspunkte durchsieht, daß die Benzodiazepine Aggression auslösen können, findet man sie. Mehr als ein Dutzend Arbei- ten in der Literatur sprechen von Irritabilität, Trotzverhalten, Feindse- ligkeit, Aggression, Wutausbrüchen oder zunehmenden Haßgefühlen und Antipathien bei gewissen Pa- tienten, die mit Tranquillantien vom Benzodiazepintyp behandelt wur- den; alle häufiger gebrauchten Prä- parate wurden irgendwann ange- schuldigt. Dieses Phänomenen wur- de auch in Tierversuchen demon- striert, und es war sogar möglich, bei Freiwilligen zu zeigen, daß diese Arzneistoffe aufgestaute Feindselig- keit, insbesondere bei sehr ängstli- chen oder tatendurstigen Personen, auslösen können. Überraschender- weise scheint dieses Phänomen bei den am häufigsten gebrauchten Hypnotika vom Benzodiazepintyp nicht nachgewiesen worden zu sein, trotz der Tatsache, daß deren biolo- gische Aktivität bis in den folgenden Tag hinein anhält. Ähnlicherweise kann man in der Literatur isolierte Fälle - wenn auch in der Tat sehr wenige - finden, in denen Tranquil-

Aufsätze · Notizen Thema Arzneimittel-lnformation

lantien ·vom Benzodiazepintyp of- fenbar die Entwicklung einer De- pression und suizidaler Tendenzen gefördert haben; wiederum schei- nen Hypnotika, zumindest vor der Triazolam-Affäre, nicht in dieser Hin- sicht inkriminiert worden zu sein; Schaut man jedoch die Literatur von einem weiteren Gesichtswinkel aus durch und sucht nach jeglicher Form einer manifesten psychoti- schen Reaktion nach Benzodiaze- pingabe, so ergibt sich ein anderes Bild. Solche Reaktionen, obwohl un- gewöhnlich, wurden für praktisch je- den bekannten Arzneistoff dieser Klasse berichtet. Halluzinationen, Wahnvorstellungen, Paranoia, Am- nesie, Delir, Hypomanie- nahezu je- des denkbare Symptom einer Psy- chose wurde irgendwann, oft sehr überzeugend, auf die Behandlung mit Benzodiazepinen zurückgeführt.

Manchmal erscheinen sie als Reak- tionen auf absolute Überdosierung oder auf relative Überdosierung bei empfindlichen Personen (ein- schließlich solcher, bei denen der Stoffwechsel des Arzneistoffs durch Alter oder Krankheit beeinträchtigt ist); bei anderen Gelegenheiten ist eine Benzodiazepinpsychose mit großer Wahrscheinlichkeit als Ent- zugssyndrom nach Absetzen des Arzneistoffs anzusehen, vielleicht verzögert, bis seine aktiven Metabo- liten ausgeschieden sind.

Wie oft einzelne dieser Vorfälle auf- treten, ist nicht sicher bekannt; ihre Häufigkeit muß außergewöhnlich niedrig sein, denn, wenn man die Literatur nicht sehr eingehend re- cherchiert, werden sie einem über- haupt nicht begegnen, Marks, der speziell auf Entzugsreaktionen ach- tete, schätzt, daß eine solche Reak- tion auf fünf Millionen Patientenmo- nate vorkommt; darüber hinaus ist es absolut klar, daß nur ein Bruchteil solcher Entzugsreaktionen psycho- tische Schweregrade erreicht.

Schwere psychische Reaktionen auf Benzodiazepine und ihre Verwandte sind in der Tat wohlbekannt, jedoch seltene Ereignisse, es sei denn, die Beweiskette gegen Triazolam

schlösse sich. [>

(4)

Aufsätze • Notizen

Thema Arzneimittel-Information

Eine gewisse Zahl falscher Fährten ist unvermeidbar

Soviel zu den wissenschaftlichen Fakten, insoweit sie bekannt sind.

Ereignisse wie diejenigen vom Juli 1979 können jedoch nicht alleine in Begriffen der klinischen Toxikologie adäquat interpretiert werden. Viele andere Faktoren können eine Situa- tion wie diese komplizieren.

Da war, um damit zu beginnen, Dr.

van der Kroefs Veröffentlichung in der medizinischen Zeitschrift. War sie nun ein solch vorbildliches Bei- spiel für wissenschaftliche Bericht- erstattung? Keinesfalls. Wir wissen nichts über den Alkoholgenuß sei- ner Patienten, und wir haben nur ein sehr unvollständiges Bild ihrer Arz- neitherapie als Ganzes. Bekam der

„Herzpatient", den er mit Triazolam behandelte, auch Digitalis oder Pro- pranolol? Es ist uns nicht bekannt.

Vielleicht wäre es besser gewesen, diese Fälle in der Perspektive des- sen darzustellen, was wir aus der

Literatur wissen; manche ihrer Sym- ptome erinnerten in der Tat an Ben- zodiazepinpsychosen, andere ließen eher an eine Hysterie als an Arznei- mitteleffekte denken.

Bevor man Dr. van der Kroef jedoch einer Kritik wie dieser aussetzt, soll- te man sich vergegenwärtigen, daß nur ein kleiner Teil des über un- erwünschte Arzneimittelwirkungen Berichteten tatsächlich vollständig verläßlich ist. Man braucht nur auf die Geschichte von Practolol, Thali- domid oder Clioquinol zurückzu- schauen und findet, daß die ersten Hinweise zur Erkennung einiger arz- neimittelinduzierter Katastrophen aus bruchstückhaften Eindrücken und vagen Verdächtigungen dedu- ziert wurden, mit welchen die Veröf- fentlichung über Triazolam ver- glichen als ein Monument gut do- kumentierter Beobachtungen er- scheint. Wenn medizinische Fach- zeitschriften nur solche Berichte über unerwünschte Reaktionen ver- öffentlichten, die jeder Kritik stand- hielten, kämen in der Tat nur ganz wenige in Druck, und der Fortschritt der Arzneimittelüberwachung wäre ernsthaft gefährdet. Daß eine gewis-

se Zahl von falschen Fährten aufge- nommen wird, ist der Preis, den man für die frühzeitige Erkennung sol- cher Probleme zahlt, die tatsächlich von Bedeutung sind.

Was nun zu den Medien? Es kann keinen Zweifel darüber geben, daß die Diskussion von Problemen mit verschreibungspflichtigen Arznei- mitteln in erster Linie in Ärztekreisen erfolgen soll und nicht in den Zei- tungen oder den Fernsehstudien, wo den Problemen der Bewertung des Beweismaterials wohl kaum Rechnung getragen wird. Wenn ein Massenmedium an einem Freitag- abend wegen eines weit verbreiteten lebensrettenden Arzneimittels, zum Beispiel einem Antiarrhythmikum, Alarm schlagen würde, übernähme es eine erhebliche Verantwortung.

Ob man den Massenmedien gegen- über ebenso kritisch sein könnte, wenn die Anschuldigung außerge- wöhnlich und das Arzeimittel bloß eine Variante bekannter Hypnotika wäre, erscheint schon zweifelhaft.

Sicher, mancher Holländer, der — zu Recht oder Unrecht — annimmt, daß er ein Opfer der Triazolam-Toxizität war, ist bis heute der Annahme, daß er den Medien dafür zu Dank ver- pflichtet ist, daß sie ihm die Möglich- keit gaben, den Zusammenhang zu erkennen: Man kann das Vorgehen nicht gutheißen, jedoch schwerlich das Endergebnis verdammen.

Die Rolle, die ein Zentrum zur Über- wachung unerwünschter Arzneimit- telwirkungen in einer solchen Situa- tion spielt, ist nicht beneidenswert.

Wie immer sie auch reagiert, wird sie höchstwahrscheinlich irgendwes- sen beschuldigt werden, sei es der Panik, der Gleichgültigkeit oder blinden Ergebenheit.

Das Risiko: Beeinflussung von Ärzten durch „Suggestion"

Im vorliegenden Fall beinhaltete das gewählte Vorgehen — ein Brief an alle Ärzte, der alle unerwünschten Wirkungen aufführte, die Triazolam zugeschrieben wurden — eindeutig das Risiko, daß die Empfänger in

gewissem Grade durch Suggestion beeinflußt werden konnten. Ein Teil der Patienten, die Hypnotika neh- men, hat eine Vorgeschichte von exogener oder endogener Instabili- tät; viele von ihnen nehmen gleich- zeitig weitere psychotrope Arznei- mittel, unter ihnen sind nicht wenige Hypochonder und Querulanten. Ei- ne gezielte Frage über ein Arzneimit- tel kann unter diesen Umständen seiner Verdammung gleichkommen, und für jeden gut dokumentierten Fallbericht, den die Frage einbringt, können fünf, zehn oder zwanzig ein- gehen, die nur auf Suggestion be- ruhen.

Die Technik, Ärzte auf ein mögliches Arzneimittelrisiko hinzuweisen, und dieses Risiko beim Namen zu nen- nen, wird immer zu einigen falsch positiven Reaktionen führen, beson- ders dann, wenn das Risiko psychi- sche und nicht physische Komplika- tionen betrifft. Andererseits kann es der einzige Weg sein, um die Hem- mungen zu überwinden, die so viele Ärzte haben, wenn sie unerwünsch- te Arzneimittelwirkungen berichten sollen.

Ob diese Technik in einer speziellen Situation angewendet werden soll, muß sicher davon abhängen, wie schwer und akut das vermutete Risi- ko ist. Man wird diesen Weg nicht wählen, wenn man den Verdacht hat, daß ein Arzneimittel ein Exan- them oder sogar ein Magenge- schwür auslösen kann; man muß es dagegen tun, wenn man einen Zu- sammenhang mit Agranulozytosen vermutet, und man mag wohl be-

rechtigt sein, so zu handeln, wenn man eine arzneimittelinduzierte Psy- chose fürchten muß.

Nun zum Hersteller: Seine Rolle in einer solchen Situation ist die des Verteidigers. Niemand, Naive ausge- nommen, wird erwarten, daß er un- parteiisch ist, seine Parteilichkeit sollte jedoch begründet und wohl- dokumentiert sein. Die Firma Up- john hat ihre Verteidigung sehr gut vorbereitet; wenn sie verlieren soll- te, dann nicht aus Mangel an geist- voller und gut recherchierter Vertei- digung ihres Produkts.

1730 Heft 27 vom 3. Juli 1980 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

(5)

Aufsätze • Notizen

Dieser Beitrag wurde— mit voller Ab- sicht — zu einem Zeitpunkt geschrie- ben, als das Verfahren gegen Triazo- lam noch nicht entschieden war*).

Das Gericht berät und die Atmo- sphäre ist erwartungsvoll gespannt.

Das ist ein Augenblick, über Dinge nachzudenken, die man später aus dem Auge verliert. Der Entschei- dung, wie sie auch immer ausfallen mag, wird möglicherweise der glei- che Vorgang der Übersimplifizie- rung folgen, der den Vorgang von Beginn an charakterisierte. Wird der Vorwurf zurückgenommen, werden viele dazu neigen, die Anschuldi- gung als von Beginn an dubiös an- zusehen und der Benzodiazepin-Zir- kus weitergehen, als sei nichts ge- schehen. Wenn Triazolam verurteilt wird, werden wir nur zu leicht das Ausmaß vergessen, in dem der wah- re Kern inmitten falscher Angaben, Unwissenschaftlichkeit und undiszi- pliniertem Denken verborgen war.

Das sind jedoch nicht die einzigen Lehren, die zu ziehen sind; die Pro- bleme sind, wie wir sahen, mehr als toxikologischer Natur. Mit dem Na- men van der Kroef sollte — nicht der Komplex umstrittener psychiatri- scher Symptome, auf die er auf- merksam machte —, sondern die par- oxysmale Reaktion der Gesellschaft auf das, was er berichtete, in die Literatur eingehen, jene Manifesta- tion der Haßliebe-Beziehung, die zwischen der Öffentlichkeit und Arz- neimitteln besteht: Arzneistoffe, die heute als Lösung aller Probleme ge- priesen und morgen als die Ursache allen Übels verdammt werden. Die Kluft zwischen der oberflächlichen Überschwenglichkeit und Selbstver- ständlichkeit, mit der neue Arznei- mittel immer noch beworben, ver- schrieben und geschluckt werden und dem Unbehagen in vieler Gewis- sen, daß der menschliche Organis- mus Jahr für Jahr ohne Not immer neueren chemischen Stoffen ausge- setzt wird, wächst ständig. Eine zu- nehmend lautstarke Öffentlichkeit beginnt die Autorität der Ärzte, den Altruismus der Industrie und die Kompetenz der Behörden, die sie schützen sollen, in Frage zu stellen.

*) siehe auch „Nachtrag"

Thema Arzneimittel-Information

In solch einer labilen Situation kann der bloße Funke eines Verdachts zum Großbrand führen — eine aku- te gesellschaftliche Reaktion auf Furcht und Mißtrauen mit einem Hauch von Sensation, der die Flam- men schürt. Das Schicksal von Tria- zolam ist für die Welt nur von nach- geordnetem Interesse; die Geister, die der 5. Juli rief, sind nach wie vor unter uns. Die Welt derjenigen, die unerwünschte Arzneimittelwirkun- gen überwachen, ist eine andere ge- worden.

Anschrift des Verfassers:

M. N. G. Dukes

Breukelen, The Netherlands November 1979

Von Autor und Verlag freundlicher- weise gestattete Übersetzung des Leitartikels des 4. Bandes „Side Ef- fects of Drugs Annual", herausgege- ben von M. N. G. Dukes, M. D., M. A., LL. B., Vice Chairman, Netherlands Committee for the Evaluation of Me- dicines, Excerpta Medica, Amster- dam—Oxford—Princeton 1980

Nachtrag

Die holländische Niederlassung des Herstellers hatte sich zunächst be- reit erklärt, die 1-mg-Tablette aus dem Handel zu nehmen. Die hollän- dische Arzneimittelkontrollbehörde entschied, auch die 0,5-mg-Tablette aus dem Handel zu nehmen. Sie bot dem Hersteller an, die niedrigste Do- sierungsform (0,25 mg) weiterhin zu- zulassen, wenn der Text der Arztin- formation und der Packungsbeilage entscheidend geändert würde. Der Hersteller hat jedoch eine solche Textänderung abgelehnt; deswegen mußte die Zulassung für die 0,25- mg-Tablette ebenfalls zurückgezo- gen werden. Der Hersteller hat Beru- fung eingelegt. Halcion® ist nach Mitteilung des Herstellers jetzt auch in der Bundesrepublik in Tabletten zu 0,5 und 0,25 mg erhältlich. Die Arzneimittelkommission der deut- schen Ärzteschaft bittet, ihr über un- erwünschte Wirkungen zu berich- ten. AKdÄ

FORUM

Betriebsärztliche Dienste —

Vehikel für das

„integrierte

Gesundheitswesen"?

Zu

dem Artikel in Heft 1/1980

An den gesetzlichen Auftrag gebunden

Das DEUTSCHE ÄRZTEBLATT woll- te seine Leser an der Schwelle der achtziger Jahre offenbar auf Schlimmstes vorbereiten. Und schlimm ist wirklich, was dem Leser vermittelt wird:

Es muß jeder der von dem Rund- umschlag betroffenen Institutionen überlassen bleiben, sich in der Wei- se zu der Polemik zu äußern, die ihr angemessen erscheint. Was den auf die Berufsgenossenschaften entfal- lenden Anteil anlangt, ist zu unter- scheiden zwischen falschen Aussa- gen, die auf schlechter Recherchie- rung beruhen, und Behauptungen, die schlicht wahrheitswidrig sind.

Die Apostrophierung der Berufsge- nossenschaften als „Marktführer"

auf dem Sektor der überbetriebli- chen arbeitsmedizinischen Dienste ist zweifellos — wenn auch vermut- lich ungewollt — ein Kompliment.

Sieht man nämlich von wenigen Ausnahmen ab, dann kann gesagt werden, daß mit Inkrafttreten des Ar- beitssicherheitsgesetzes die über- betrieblichen arbeitsmedizinischen Dienste in der Bundesrepublik Deutschland am Nullpunkt began- nen — die der Berufsgenossenschaf- ten eingeschlossen. Wenn die Be- rufsgenossenschaften heute, etwas' über fünf Jahre nach Inkrafttreten dieses Gesetzes, über die Mehrzahl der arbeitsmedizinischen Zentren verfügen, dann ist dies schwerlich ein beklagenswerter Zustand. Rich-

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Ob Röntgenstrahlen oder Gammastrahlen – Radioaktivität ist aus der Medizin nicht mehr wegzudenken. So wird beispielsweise radioaktives Jod genutzt, um Untersuchungen an

Die umstrittene Er- nennung von 13T Reema Dodin 13T , einer Amerikanerin mit palästinen- sischen Wurzeln, als Teil seines Teams für Gesetzgebungsfragen, deutet neben den Plänen

Als Ausgangspunkt der mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon erfolgten substantiellen Reform der abgeleiteten Rechtsetzung dien- te indes nicht das Regelungsverfahren

– Konsumenten sehen 9er-Preise als Signal für schlechte

Für Nahrungsergänzungs- mittel reicht eine Anzeige beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit.. Protina ging mit seinen Basica®-Produkten aber einen

Gegenanzeigen: FeniHydrocort Creme 0,5 % darf nicht angewendet werden bei bekannter Überempfi ndlichkeit gegen den Wirkstoff Hydrocortison oder einen der sonstigen Bestandteile,

Im Anschluss an die Vernissage besteht die Möglichkeit, die anwesenden Künstlerinnen und Künstler sowie die Kuratorinnen der Ausstellung Saskia van de Wiel Museum van Bommel van

beziehungsweise seit 1989 alle drei Jahre vergeben und richtet sich an junge Künstlerinnen und Künstler bis 35 Jahre in den Disziplinen Malerei, Arbeiten auf Papier und Fotografie..