A-2520
M E D I Z I N
(60) Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 40, 8. Oktober 1999 Die Autoren weisen auf die Be-
deutung des nutritiv bedingten Effluvi- ums hin und erwähnen neben den Risi- kodiäten zu Recht die Anorexia und Bulimia nervosa. Haarausfall wurde anamnestisch bei Anorexie in 57 Pro- zent (n = 65) und bei Bulimie in 49 Pro- zent (n = 80) angegeben (2). Ist die Dia- gnose Bulimie bereits bekannt, ist die Zuordnung des Effluviums natürlich einfach. Im Gegensatz zur Magersucht sind Patienten mit Bulimie zumeist normalgewichtig, bieten demnach auch klinisch keine Ansatzpunkte, an eine Eßstörung zu denken. Erwiesener- maßen wird das die Bulimie kennzeich- nende attackenartige und unkontrol- lierte Verschlingen großer Nahrungs- mengen mit anschließendem selbster- zeugten Erbrechen meist sehr geheim gehandhabt und auch Ärzten gegen- über oft geheimgehalten. In Großbri- tannien wurde der Anteil der Patienten mit Bulimie in der allgemeinen Bevöl- kerung, die keinen Arzt wegen des Grundleidens aufsuchen, mit 90 Pro- zent ermittelt (1). Sucht der Allgemein- arzt oder Hautarzt die Gründe des Effluviums bei dieser Patientengruppe herauszufinden, muß er schon sehr di- rekte, das abnorme Eßverhalten bezie- hungsweise Eßerleben kennzeichnen- de Fragen stellen, um diagnostisch wei- terzukommen. Auch die Betroffenen realisieren offenbar nur selten, daß der Haarausfall durch ihr abnormes Eßver- halten ausgelöst sein könnte. Wir set- zen daher seit Jahren in der Diagnostik einen auf Anfrage beim Autor erhältli- chen Kurzfragebogen (3) mit folgen- den sechs Fragen ein:
« Meine Gedanken kreisen ums Essen,
¬ Anfallsartige Gier, Eßbares zu verschlingen,
Genußgefühl beim Essen,
® Häufige Hungergefühle,
¯ Rasches Sättigungsgefühl,
° Drang zum Verzehr von Sü- ßem.
Alle Fragen sind siebenfach ge- stuft: 0 = gar nicht/nie, 1 = sehr schwach/sehr selten, 2 = schwach/sel- ten, 3 = etwas/manchmal, 4 = ziem- lich/häufig, 5 = stark/sehr häufig, 6 = sehr stark/immer.
Eine hohe diagnostische Annähe- rung beziehungsweise Treffsicherheit ist bereits durch die Fragen 1 bis 3 ge- geben. In einem ergänzenden Inter- view ist die Eßstörung und die sie be- gleitende dysphorische oder depressi- ve Stimmungslage leicht zu bestäti- gen.
Wir haben auf diesem Wege meh- rere, auch von Hautärzten zur Klä- rung eines hormonell verursachten Effluviums zugewiesene Patientinnen
mit Bulimie identifizieren können. Es ist zu erwarten, daß durch die erwei- terte Exploration eine größere Zahl von Bulimie-Patienten aufgedeckt werden kann, bei denen Tricho- gramm, Hormonspektrum sowie blut- chemische Untersuchungen – Um- weltgifte eingeschlossen – keine Auf- klärung ergeben oder Therapiemaß- nahmen versagen.
Literatur
1. Fairburn CG, Welch SL, Norman PA et al.:
Bias and bulimia nervosa: How typical are clinic cases? Am J Psychiatry 1996; 153:
386–391.
2. Mayerhausen W, Vogt HJ, Fichter MM et al.: Dermatologische Aspekte bei Anorexia und Bulimia nervosa. Hautarzt 1990; 41:
476–484.
3. Wernze H: Überraschende Wirkungen des Antimineralocorticoids Spironolacton auf Eßverhalten und Befindensparameter bei der Bulimie. Psychopharmakotherapie 1999 (im Druck).
Prof. Dr. med. Heinrich Wernze Internist
Pilziggrundstraße 54 97076 Würzburg
Wir sind Herrn Prof. Wernze für seine Anmerkungen sehr dankbar, die wir uneingeschränkt unterstützen kön- nen. Die Ausführungen unterstreichen, wie schwierig die Ursachenforschung für ein diffuses Effluvium sein kann, bei der ein gezieltes interdisziplinäres Vor- gehen mit einer sorgfältigen Anamne- seerhebung meist sinnvoller ist als zahl- reiche ungerichtete und häufig über- flüssige Laboruntersuchungen.
In diesem Zusammenhang sei nochmals darauf hingewiesen, daß auch das Trichogramm nur in wenigen Fällen, wie zum Beispiel beim ana- genen Haarausfall im Kindesalter, Hinweise auf die Ursache für ein diffu- ses Effluvium gibt. Seinem Wesen nach spiegelt das Trichogramm eine Mo- mentaufnahme der Haaraktivität wi- der und erlaubt somit lediglich Rück- schlüsse auf die Art des Effluviums. So wird man in dem von Prof. Wernze be- schriebenen Beispiel einer Bulimia nervosa in der Regel eine erhöhte Telogenrate sowohl frontal als auch okzipital im Trichogramm finden. Die- se findet man jedoch auch bei vielen anderen diffusen Effluvien, wie zum Beispiel bei chronischen Intoxikatio- nen, Eisenmangel oder nach schweren Infekten. Jedoch sollte auch bei Buli- mie-Patienten nicht gänzlich auf La- boruntersuchungen verzichtet werden, da die Eßstörung zum Beispiel sekun- där andere therapiebedürftige Mangel- erscheinungen zur Folge haben kann.
Dr. med. Hartmut Ständer Prof. Dr. med. Heiko Traupe Universitätshautklinik Münster Von-Esmarch-Straße 56 48149 Münster
Prof. Dr. med. Karl Ernst von Mühlendahl
Dokumentations- und Informations- stelle für Umweltfragen der
Akademie für Kinderheilkunde und Jugendmedizin Osnabrück Iburger Straße 200 · 49082 Osnabrück DISKUSSION
Haarausfall und Umwelteinflüsse
Haarausfall bei Bulimie – diagnostische Probleme
Zu dem Beitrag von Dr. med. Hartmut Ständer Prof. Dr. med. Heiko Traupe
Prof. Dr. med. Karl Ernst von Mühlendahl in Heft 23/1999