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Archiv "Anorexia und Bulimia nervosa im Jugendalter" (29.04.1994)

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MEDIZIN DIE ÜBERSICHT

Anorexia und Bulimia nervosa im Jugendalter

Beate Herpertz-Dahlmann, Helmut Remschmidt

Die Anorexia nervosa ist eine meist bei pubertierenden Mädchen auftretende Erkrankung, die Bulimia beginnt häufig im späten Jugend- oder frühen Erwachsenenalter.

Beiden Erkrankungen ist eine intensive Furcht vor dem Dickwerden sowie eine Störung der Körperwahrnehmung gemeinsam. Die Anorexia ist darüber hinaus durch einen erheblichen Gewichtsverlust und eine Amenorrhoe, die Bulimia durch Heißhungerattacken und in vielen Fällen selbstinduziertes Erbrechen gekennzeichnet. Sekundäre somatische Veränderungen sind bei beiden Erkrankungen

häufig. An ätiologischen Faktoren werden biologische, psy- chologische sowie soziokulturelle Komponenten diskutiert.

Das Behandlungskonzept umfaßt Maßnahmen zur Nor- malisierung des Eßverhaltens und bei der Anorexia zur Ge- wichtsrehabilitation sowie psychotherapeutische Verfahren in Form von Einzel- und Familientherapie. Ein Drittel der magersüchtigen Patienten hat eine schlechte Prognose, bei den bulimischen Patienten ist dieser Anteil wahrschein- lich noch größer. Nicht selten entwickeln die Patienten in späteren Lebensaltern andere psychiatrische Störungen.

D

ie Eßstörungen Anorexia und Bulimia nervosa sind als ein Ergebnis der Interaktion einerseits organischer, ande- rerseits psychischer Faktoren zu se- hen, die nicht voneinander unabhän- gig betrachtet werden können und sich gegenseitig beeinflussen und ver- stärken.

Definition

Die zur Zeit gebräuchlichen Klas- sifikationskriterien des amerikani- schen Klassifikationsschemas DSM- III-R (APA 1987) und der ICD 10 (WHO 1991) weisen für die Krank- heitsbilder der Eßstörungen keine we- sentlichen Unterschiede auf (Tabelle 1 und 2).

Als Kernsymptom der Pubertäts- magersucht muß Kriterium 3, das heißt die Körperschemastörung an- gesehen werden, welche die Anore- xia nervosa mit der Bulimia gemein- sam hat. Hierunter versteht man eine perzeptonische und konzeptionelle Störung des eigenen Körperbildes:

Magersüchtige Patienten überschät- zen ihren Körperumfang und halten sich trotz Untergewicht für zu dick.

Die Körperschemastörung betrifft bestimmte Körperpartien (beispiels-

weise Bauch, Oberschenkel, Hüften) mehr als andere (zum Beispiel Kopf, Schultern) und bessert sich in der Mehrheit der Fälle, aber nicht immer mit zunehmendem Gewicht.

Die Kriterien für die Bulimia nervosa gehen aus Tabelle 2 hervor.

Der Begriff „Bulimia" wurde mit dem Zusatz „nervosa" versehen, um bereits durch die Bezeichnung den nosologischen Zusammenhang zur Anorexia nervosa herzustellen. Die Abbildung gibt Überlappung und Grenzen beider Krankheitsbilder wieder.

Epidemiologie

Die Prävalenzraten für die An- orexia und Bulimia nervosa schwan- ken je nach Strenge der angewandten Kriterien. Nach einer zuverlässigen Studie der Mayo-Klinik liegt die Er- krankungshäufigkeit an Magersucht in der Gruppe der adoleszenten Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren bei 0,3 Prozent (20). Für bestimmte Risikogruppen wie Ballettschülerin-

Klinik und Poliklinik für Kinder- und Ju- gendpsychiatrie (Direktor: Prof. Dr. med.

Dr. phil. Helmut Remschmidt) der Philipps- Universität Marburg

nen oder Models, die unter einem hohen „Schlankheitsdruck" stehen, erhöht sich die Prävalenz bis auf 5 bis 7 Prozent. Weitere besonders gefähr- dete Personengruppen gehen aus Ta- belle 3 hervor.

In der Literatur besteht Uneinig- keit darüber, ob die Inzidenz der Ma- gersucht tatsächlich angestiegen ist oder nur die Häufigkeit der Behand- lungsinanspruchnahme; die meisten Studien sprechen aber dafür, daß die Erkrankung bei den 15- bis 24jähri- gen in der westlichen Welt zugenom- men hat, das heißt, daß diese Alters- gruppe besonders vulnerabel ist (15).

Die Anorexia nervosa hat zwei Er- krankungsgipfel bei 14 und 18 Jah- ren.

Die Prävalenz für die Bulimie liegt für junge Frauen bei 2 bis 4,5 Prozent; der Erkrankungsgipfel liegt bei 18 Jahren und damit im Durch- schnitt später als bei der Magersucht.

Symptomatik

Das klinische Bild der Anorexia nervosa ist gekennzeichnet durch re- striktives Diäthalten bis hin zur völli- gen Nahrungsverweigerung und ein abnormes Eßverhalten. Die Patien- ten brauchen lange für geringste A-1210 (38) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 17, 29. April 1994

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DIZIN

Nahrungsmengen, zerpflücken die Speisen, essen unpassende Nah- rungsmittel durcheinander und ver- zichten auf andere ganz (zum Bei- spiel auf fleischhaltige Kost). Sehr häufig beginnt die Erkrankung mit einer Überwachung der Nahrungs- aufnahme anhand eines Kalorienpla- nes; viele Patienten weigern sich, an den gemeinsamen Mahlzeiten der Familie teilzunehmen. Neben dem reinen Fasten oder Hungern können auch noch andere Methoden zur Ge- wichtsreduktion angewandt werden, wie selbstinduziertes Erbrechen oder Laxanzienabusus. Bei fast allen Pa- tienten besteht ein übermäßiger Be- wegungsdrang (übermäßige Gymna- stik, übertriebene sportliche Betäti- gung, ständiges Hin- und Herlaufen).

Psychisch sind die Patientinnen und Patienten durch depressive Verstim- mungen, Sthenizität, Leistungsehr- geiz sowie eine in der Regel durch- schnittliche bis überdurchschnittliche Intelligenz gekennzeichnet. Viele Pa- tienten weisen Zwänge und Rituale auf, die sich in der Regel auf das Eß- verhalten beziehen, andere zeigen eher hysterische Züge (24).

Die Heißhungerattacken bei der Bulimia nervosa zeichnen sich durch hastiges Hinunterschlingen von gro- ßen Nahrungsmengen, insbesondere hochkalorischer, leicht eßbarer Nah- rung, die keiner besonderen Zuberei- tung bedarf, aus. Fast alle Patienten sind der Meinung, den Ablauf und die Beendigung einer solchen Attak- ke nicht steuern zu können. Außer- halb der Heißhungeranfälle halten viele eine Dauerdiät ein, bei der die meisten Speisen, die während einer Heißhungerattacke verzehrt werden, verboten sind. Die Mehrzahl der bu- limischen Patienten erbricht im An- schluß an die Heißhungerattacke und/oder betreibt Laxanzienabusus, ein Drittel nimmt Diuretika. Wäh- rend die Heißhungerattacken zu Be- ginn der Erkrankung häufig durch Streß provoziert werden, handelt es sich bei längerfristigen Verläufen meist um habitualisierte Vorgänge, die in den Tagesablauf, etwa beim Einkaufen, mit eingeplant werden.

Körperliche Veränderungen Die wichtigsten medizinischen Befunde gehen aus Tabelle 4 hervor

DIE ÜBERSICHT

Tabelle 1: Kriterien für die Anorexia nervosa nach ICD 10 (1991)

1. Körpergewicht mindestens 15% unterhalb der Norm be- ziehungsweise *Quetelets- Index 17,5

2. der Gewichtsverlust ist selbst verursacht

3. Körperschemastörung und

„überwertige" Idee, zu dick zu sein

4. endokrine Störung auf der Hypothalamus-Hypophysen- Gonaden-Achse

5. bei Erkrankungsbeginn vor der Pubertät Störung der pu- bertären Entwicklung ein- schließlich des Wachstums, die nach Remission häufig reversibel ist

* Quetelets-Index = Körpergewicht in kg Körpergröße in m 2

Tabelle 2: Kriterien für die Bulimia nervosa nach ICD 10

1. Andauernde Beschäftigung mit Essen und Heißhunger- attacken, bei denen große Mengen Nahrung in kurzer Zeit konsumiert werden 2. Versuche, dem dickmachen-

den Effekt des Essens durch verschiedene Verhaltens- weisen entgegenzusteuern, zum Beispiel selbstinduzier- tes Erbrechen, Laxanzien- abusus, restriktive Diät, etc.

3. krankhafte Furcht, zu dick zu werden

4. häufig Anorexia nervosa in der Vorgeschichte

(Herpertz-Dahlmann und Rem- schmidt 1988) (24). Magersüchtige mit einem frühen Krankheitsbeginn weisen oft einen Minderwuchs auf, der bei chronischem Krankheitsver-

lauf auch irreversibel sein kann. In jüngster Zeit wird der Entwicklung einer Osteoporose bei jungen eßge- störten Patienten vermehrte Auf- merksamkeit geschenkt (27). Ursäch- liche Faktoren sind der Östrogen- manget ein durch zu niedrige Kalzi- umzufuhr bedingter Hyperparathyre- oidismus, Vitamin-D-Mangel, ein ho- her Kortisolspiegel und eine Protein- mangelernährung. Verlaufsuntersu- chungen zeigen, daß sich die Osteo- porose trotz Gewichtszunahme in vielen Fällen nur unzureichend zu- rückbildet (2). Es ist daher nicht ge- klärt, ob eine Osteoporose, die sich bereits in der Adoleszenz entwickelt, reversibel ist oder bereits frühzeitig zu Komplikationen führt.

Ätiologie

Die Genese der Eßstörungen ist durch ein Zusammenspiel biologi- scher, kultureller, familiärer und in- trapsychischer Faktoren gekenn- zeichnet, die ohne Zweifel alle an der Entstehung der Eßstörungen und zu- nehmenden Inzidenz beteiligt sind.

Genetische Befunde

Zwillingsuntersuchungen bei Anorexia nervosa konnten aufzeigen, daß die Konkordanzrate für eineiige Zwillinge etwa 50 Prozent beträgt, während sie für dizygote Zwillings- paare unter 10 Prozent liegt (33). Bei den Verwandten ersten Grades ma- gersüchtiger Patienten findet sich ei- ne hohe Erkrankungsrate an Anore- xia nervosa, die achtmal höher liegt als bei der Normalbevölkerung (31).

Hingegen ist in der Literatur umstrit- ten, ob die Prävalenzrate affektiver Erkrankungen in Familien mager- süchtiger Patienten erhöht ist oder nur bei denjenigen magersüchtigen Patienten, die selbst an einer De- pression leiden (31, 11). Ebenso scheint die Alkoholismushäufigkeit in Familien anorektischer Patienten höher als in der Normalbevölkerung zu sein.

Konkordanzuntersuchungen bei bulimischen Zwillingen zeigen eben- falls ein höheres Risiko bei monozy- goten gegenüber dizygoten Paaren (6). Auch das Risiko für depressive Erkrankungen und Alkoholismus ist Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 17, 29. April 1994 (41) A-1213

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bei Verwandten bulimischer Patien- ten erhöht.

Als soziokulturelle Komponente für die Genese der Eßstörungen ist der gesellschaftliche Druck in Rich- tung Schlanksein anzusehen, der seit den fünfziger Jahren erheblich zuge- nommen hat. Nach amerikanisch-ka- nadischen Untersuchungen hat das weibliche Schönheitsideal - gemes- sen an Mannequins und Schönheits- königinnen - in den letzten 20 Jahren sowohl an Gewicht als auch an Kör- perumfang erheblich abgenommen.

Entsprechend fand sich in sogenann- ten Frauenmagazinen ein signifikan- ter Anstieg an Beiträgen zum Thema

"Reduktionsdiät" (8). Mädchen und Frauen sind dem Druck des Schlank- heitsideals wesentlich mehr ausge- setzt als das männliche Geschlecht, unter anderem eine Erklärung dafür, daß Eßstörungen vorzugsweise bei weiblichen Jugendlichen auftreten.

Auch der Wandel des Frauenbildes in der Gesellschaft scheint zu dem Anstieg der Eßstörungen beizutra- gen. In einer amerikanischen Unter- suchung an 1800 Schülern fand man heraus, daß acht- bis 15jährige Mäd- chen über ihr Geschlecht sehr viel unzufriedener als gleichaltrige J un- gen sind und weniger vertrauensvoll bezüglich ihrer Schul- und Berufs- laufbahn in die Zukunft blicken (29).

Während früher ausschließlich familiäre Faktoren für die Entste- hung einer Eßstörung verantwortlich gemacht wurden, ist die Rolle der Familie heute umstritten. Bereits La- segue schrieb 1873: "Die Patientin und ihre Familie sind als ein sehr eng gestricktes Ganzes zu betrachten, und wir erhalten ein falsches Bild von der Erkrankung, wenn wir unseren Blick nur auf die Patientin richten."

In jüngerer Zeit wurde insbesondere postuliert, daß in den Familien eßge- störter Patienten emotionale Proble- me in somatische transformiert wür- den (21,28). Minuchin entwickelte das Konzept typischer Transaktions- muster in anorektischen Familien:

Verschmelzung (enmeshment), Rigi- dität, Überbehütung und Konflikt- vermeidung sowie geringes Konflikt- lösungspotential. Die Arbeitsgruppe um Stierlin (30) hob eine über meh- rere Generationen hinweg bestehen- de Ideologie des Verzichtes, des

DIE ÜBERSICHT

Abbildung: Zusammenhang zwischen Anorexia nervosa und Bulimie

Tobelle 3: Risikofoktoren für eine Eß- störung (noch Gorfinkel 1991)

~ Alter (um die Pubertät)

~ weibliches Geschlecht

~ hoher Druck in Richtung Schlanksein (Fotomodelle, Leistungssportler)

~ hoher Leistungsdruck (zum Beispiel Medizinstudentin- nen)

~ mangelnde Fähigkeit, den eigenen Gefühlszustand wahrzunehmen

~ familiäre Konfliktsitua tio- nen und zu enge Beziehun- gen

~ sehr frühe Pubertät

~ Zwilling

~ insulinabhängiger Diabetes mellitus

Sich-Aufopferns und die Forderung nach Selbstlosigkeit hervor. Obwohl die familientheoretischen Überle- gungen interessante Denkanstöße für mögliche Entstehungsfaktoren der Magersucht lieferten, gibt es fast keine empirischen beziehungsweise methodisch fundierten Studien, die diese Betrachtungen durch Fakten A-1214 (42) Deutsches ÄrztebJatt 91, Heft 17, 29. April 1994

stützen können. Insbesondere stellt sich die Frage, ob die beschriebenen familiären Verhaltensmuster bereits vor der Erkrankung des Patienten bestanden oder aber eine Folge der Erkrankung darstellen. Dieses Pro- blem ist kaum zu lösen, da Familien im allgemeinen erst nach Manifesta- tion einer Erkrankung erfaßt werden.

In einer Untersuchung der belgi- schen Familienarbeitsgruppe um Vandereycken (18) wurde das Kon- zept von Minuchin an 56 Familien mit einem eßgestörten Patienten überprüft. Dabei zeigte sich, daß das Modell auf einige Familien zutraf, auf andere überhaupt nicht; es fan- den sich sogar entgegengesetzte Ver- haltensweisen.

In jüngsten empirischen Studien konnte nachgewiesen werden, daß Familien von rein fastenden anorek- tischen Patienten andere Merkmale aufweisen als die von bulimischen Patienten (16). Familien bulimischer Patienten schienen hierbei durch mehr familiäres Leid als auch durch eine nicht ausreichende elterliche Betreuung und Zuwendung, man- gelndes Verständnis und mangelnde Empathie im Vergleich zu Familien von gesunden Kontrollpersonen ge- kennzeichnet zu sein. Die Familien- mitglieder magersüchtiger Patienten verhielten sich untereinander feind- seliger als sogenannte gesunde Fami- lien, waren aber emotional stärker beteiligt als Familien bulimischer Pa- tienten. Zusammenfassend scheint eine gestörte familiäre Interaktion in Familien eßgestörter Patienten häu- figer vorzuliegen als in normalen.

"Bulimische" Familien weisen größe- re Probleme und Störungen auf als die anorektischer Patienten. Es muß in weiteren Studien geklärt werden, ob die familiären Verhaltensweisen eine notwendige Bedingung für die Entstehung der Erkrankung darstel- len oder aber als ihre Folge anzuse- hen sind.

Neben genetischen, soziokultu- rellen und familiären Faktoren spie- len auch individuelle Eigenschaften eine bedeutende Rolle für die Gene- se einer Eßstörung. Eßgestörte Pa- tienten zeigen während ihrer Ent- wicklung in Pubertät und Adoleszenz Schwierigkeiten in ihrer Identitäts- findung und unzureichende Kompe-

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Trockene, schuppige Epidermis Lanugobehaarung (A)

Akrozyanose, Cutis marmorata (A) Haarausfall

Speicheldrüsenschwellung ausgeprägte Karies (B*)

Schwielen an den Fingern oder Läsionen am Handrücken (durch wiederholtes manuelles Aus- lösen des Würgereflexes)

Minderwuchs (A) Inspektion

Blutbildveränderungen (Leukopenie, Anämie und Thrombozytopenie) (A)

Elektrolytstörungen

Erhöhung von Transaminasen, Amylase und harnpflichtigen Substanzen

Veränderungen im Lipidstoffwechsel

Erniedrigung von Gesamteiweiß und Albumin Labor

Störung der Hypothalamus-Hypophysen- Nebennierenrinden-Achse,

Schilddrüsen-Achse und Gonaden-Achse

Erhöhung des Wachstumshormons Endokrinologie

CT-Veränderungen (Pseudoatrophia cerebri) Ösophagitis

EKG-Veränderungen

durch Laxanzienabusus induzierte Komplikatio- nen (zum Beispiel Osteomalazie, Malabsortions- Syndrome, schwere Obstipation, hypertrophe Osteoarthropathie), Osteoporose

Übrige

Tabelle 4: Körperliche Veränderungen bei Anorexia und Bulimia nervosa

* Symptome, die sich ausschließlich auf eines der beiden Krankheitsbilder beziehen, sind mit dem jeweiligen Buchstaben (A oder B) gekennzeichnet.

ME•DIZIN

tenz bei der Bewältigung alterstypi- scher Anforderungen. Insbesondere anorektische Patienten haben ein tiefverwurzeltes Gefühl der eigenen Ineffektivität, Mißtrauen gegenüber zwischenmenschlichen Beziehungen und mangelnde Fähigkeiten, die ei- gene Befindlichkeit wahrzunehmen (10), während bei bulimischen Pa- tienten affektive Instabilität und mangelnde Impulskontrolle als be- deutsame prädisponierende Fakto- ren angesehen werden. In einer epi- demiologischen Untersuchung an 1 000 Londoner Schulmädchen ent- wickelten diejenigen ein Jahr später eine Eßstörung, die besonders intro- vertiert waren und Schwierigkeiten in ihren sozialen Beziehungen hatten (23). Adoleszente Mädchen und Jun- gen, die sich häufig mit Figurproble- men und Reduktionsdiäten ausein- andersetzten, zeigten stärkere Stö- rungen des Selbstwertgefühls, de- pressivere Stimmungen und eine ins- gesamt ausgeprägtere Psychopatho- logie als ihre weniger „gewichtsbe- wußten" Altersgenossen (4).

Therapie und Verlauf

Nach Klärung der Diagnose wird entschieden, ob ambulante oder sta- tionäre Therapiemaßnahmen ange- messen sind. Trotz gravierendem Krankheitsbild fällt es vielen Patien- ten und ihren Eltern schwer, eine sta- tionäre Behandlung zu beginnen.

Aus Tabelle 5 sind die Kriterien für die Notwendigkeit einer stationären Therapie bei Anorexia nervosa zu entnehmen. Die Phasen einer statio- nären Behandlung, wie sie an unse- rer Klinik praktiziert wird, sind in Ta- belle 6 wiedergegeben. Insbesondere die erste Phase bezieht sich auf Pa- tienten mit einer schweren Erkran- kungsform, die eine intensive somati- sche Überwachung und Therapie er- forderlich macht. In dieser Phase sollte vor allem auf eine kontinuierli- che, wenn auch nicht zu schnelle Ge- wichtszunahme geachtet werden.

Nach eigenen Untersuchungen ist ein zu steiler Gewichtsanstieg progno- stisch ungünstig und erschwert die Verarbeitung der Veränderung (und Normalisierung) des Körperbildes (25). Darüber hinaus bewirkt die Ge-

DIE ÜBERSICHT

wichtszunahme auch psychische Ver- änderungen:

Die extreme Einengung der In- teressen auf Nahrung und Gewicht und die im Zustand der Kachexie häufig ausgeprägte depressive Stim- mungslage normalisieren sich. Erst so werden viele Patienten erst in die Lage versetzt, psychotherapeutische Angebote wahrzunehmen. Diese werden in der zweiten Phase ver- stärkt.

An unserer Klinik werden ver- haltenstherapeutische Techniken mit psychodynamischen kombiniert. In den letzteren werden vor allem die ausgeprägten Insuffizienzgefühle, die Ablehnung der eigenen Person, das niedrige Selbstwertgefühl sowie un- zureichende Konfliktlösungspotenti- ale angesprochen und Hilfestellung

bei der Bewältigung adoleszenter Entwicklungsschritte angeboten. Die therapeutische Betreuung des Pa- tienten liegt in einer Hand. Evaluati- onsstudien haben den Nachweis er- bracht, daß Familientherapie bei jün- geren anorektischen Patienten den besseren Heilungserfolg gewährlei- stet (5). Bei älteren Patientinnen und Patienten wird eine stärkere und kontinuierliche Verselbständigung angestrebt, jedoch auch im Einver- nehmen mit der Familie Die Entlas- sung kann erst erfolgen, wenn der Patient an sogenannten „Probewo- chenenden" bewiesen hat, daß er mit der Alltagssituation außerhalb der Klinik zurechtkommt und ein norma- les Gewicht aufrechterhalten kann.

Nach unseren Erfahrungen ist eine zweijährige Nachbetreuung erforder-

A-1216 (44) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 17, 29. April 1994

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MEDIZIN

lich, um Rückfällen vorzubeugen.

Diese beinhaltet Ernährungsbera- tung, Integrationshilfen für Schule, Beruf und Freizeit einschließlich des Kontaktes zu Gleichaltrigen, Unter- stützung beim Erwerb altersentspre- chender Kompetenzen sowie Fort- führung der psychotherapeutischen Behandlung.

Bei der Bulimia sollte noch grö- ßerer Wert auf die Ernährungsbera- tung gelegt werden als bei der Ma- gersucht. Ein vom Patienten geführ- tes Ernährungstagebuch kann wichti- ge Aufschlüsse geben: Es sollte die Art der bisher eingehaltenen Diät (inklusive der erlaubten und verbote- nen Speisen, kalorische Höchstmen- gen) sowie die Frequenz, den Ablauf und situative Besonderheiten von Eßanfällen erfassen. Der Essensplan sollte Haupt- und Zwischenmahlzei- ten enthalten, wobei die Einhaltung der Zwischenmahlzeiten den Zweck hat, durch Hungergefühl provozierte Heißhungerattacken zu vermeiden.

Wesentlich ist die stufenweise Einführung der „verbotenen" Spei- sen, die der Patient sich selbst versagt hatte. Dies mindert Gefühle der Entbehrung und reduziert die Wahrscheinlichkeit von Kontrollver- lusten.

Psychotherapeutisch haben ver- haltenstherapeutisch-kognitiv orien- tierte Methoden an Bedeutung ge- wonnen, die vor allem auf der Analy- se dysfunktionaler und irrationaler Überzeugungen bezüglich Figur und Gewicht beruhen.

Prognose

Die Beurteilung des Heilungser- folges bei Magersucht erfolgt häufig nach den weit verbreiteten Kriterien von Morgan & Russell (22), die Ge- wicht und Menstruationsstatus zu- grundelegen: Ein guter Heilungser- folg liegt dann vor, wenn das Gewicht zwischen 85 und 115 Prozent des Normbereiches liegt und die Men- struation regelmäßig ist; der Hei- lungserfolg wird mittelmäßig einge- schätzt, wenn das Gewicht stärkere Schwankungen aufzeigt und/oder der Zyklus unregelmäßig ist, und er wird als schlecht angesehen, wenn das Ge- wicht dauerhaft unter 85 Prozent

DIE ÜBERSICHT

liegt und/oder eine Amenorrhoe oder nur sporadische Regelblutun- gen vorliegen. Katamnestische Beob- achtungen nach einem mittleren Zeitraum von vier bis fünf Jahren weisen nach, daß etwa 40 Prozent an- orektischer Patienten einen guten Heilungserfolg nach den oben ge- nannten Kriterien aufzeigen, jeweils 25 bis 30 Prozent haben einen mittel- mäßigen oder schlechten Heilungser- folg. Studien mit sehr langen Beob-

Tabelle 5: Kriterien zur stationären Therapie der Anorexia nervosa

Medizinische Kriterien:

— kritischer Gewichtsverlust (unter 75% des Normalge- wichts)

— körperliche Folgeerscheinun- gen: Elektrolytverschiebun- gen, Exsikkose, Bradykardie

—depressive Verstimmung mit Suizidgefahr

Psychosoziale Kriterien:

— festgefahrene familiäre Interaktion

—soziale Isolation

— stark eingeschränkte Leistungsfähigkeit Psychotherapeutische Kriterien:

—Scheitern beziehungsweise Abbruch ambulanter Be- handlungsversuche

- Fehlen einer erfolgverspre- chenden Alternative zur um- fassenden Behandlung durch ein erfahrenes Team achtungszeiträumen demonstrieren eine Genesung bei 60 bis 75 Prozent aller magersüchtigen Patienten (24, 32). Als Faustregel gilt, daß das Ver- laufsergebnis mit zunehmender Katamnesedauer eindeutiger wird, das heißt, daß sich die Patienten mit mittelmäßigem Heilungserfolg auf die beiden Kategorien mit gutem und schlechtem Ergebnis verteilen.

Allerdings nimmt mit zuneh- mender Dauer der Erkrankung auch die Mortalitätsrate zu: Während sie nach vier bis fünf Jahren nur etwa 5 Prozent beträgt, liegt sie nach 20 bis 30 Jahren zwischen 15 und 20 Pro-

zent (14). Lediglich in unserer eige- nen Studie, die sich auf ein kinder- und jugendpsychiatrisches Kranken- gut bezog und die Patienten durch- schnittlich nach 11,7 Jahren nachun- tersuchte, lag die Mortalitätsrate nur bei 3 Prozent (24).

Nicht selten wird die Eßstörung durch andere psychiatrische Erkran- kungen abgelöst, wobei depressive Erkrankungen, Zwangsstörungen und Suchterkrankungen am häufig-

Tabelle 6: Stationäre Behandlung der Anorexia nervosa

1. Phase:

„Anhebung des Körpergewichtes"

— manchmal Sondierung erforderlich

—manchmal „Ausschluß der Familie" erforderlich 2. Phase:

„Fremdsteuerung der Nahrungsaufnahme"

—Essensplan

— stärkere Einbeziehung der Familie

— Psychotherapie (Einzel- und Gruppentherapie)

— körperbezogene Therapien 3. Phase:

„Selbststeuerung der Nahrungsaufnahme"

— Psychotherapie (Familien-, Einzel-, Gruppentherapie)

— körperbezogene Therapien 4. Phase:

„Vorbereitung auf die Entlassung"

— Schwerpunkt Familientherapie

— zunehmende Integration in alle Lebensbereiche

sten beobachtet werden. Zwischen 7 und 40 Prozent aller anorektischen Patienten hatten während ihres Krankheitsverlaufes bulimische Sym- ptome. Während ein frühes Erkran- kungsalter im allgemeinen als pro- gnostisch günstiger Faktor gilt, hat die sogenannte präpuberale Mager- sucht (Erkrankungsalter unter elf Jahren) eine vergleichsweise sehr Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 17, 29. April 1994 (45) A-1217

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MEDIZIN

schlechte Prognose. Viele dieser Kin- der weisen dauerhafte psychische Störungen auf (3).

Über den Verlauf der Bulimia ist noch wenig bekannt, und die Er- gebnisse sind widersprüchlich. Nach einer Verlaufsstudie bei erwachse- nen bulimischen Patienten waren nach zweijähriger Beobachtungsdau- er immer noch 41 Prozent von 247 Patienten an einer Eßstörung er- krankt, die die Kriterien des ameri- kanischen Klassifikationsschemas DSM-III-R erfüllte. 34 Prozent wie-

DIE ÜBERSICHT / FÜR SIE REFERIERT

sen eine affektive Erkrankung und 30 Prozent eine Suchterkrankung auf (7). Entsprechende Studien bei ju- gendlichen Patienten liegen unseres Wissens nach noch nicht vor. Von den sieben Patienten zwischen 14 und 17 Jahren, die wir zwischen Anfang 1985 und Mitte 1987 behandelten, hatten vier drei Jahre nach Entlassung immer noch eine Bulimie (13).

Deutsches Arzteblatt

91 (1994) A-1210-1218 [Heft 17]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck, anzufordern über den Verfasser.

Anschrift der Verfasser:

Priv.-Doz. Dr. med.

Beate Herpertz-Dahlmann Prof. Dr. med. Dr. phil. Helmut Remschmidt

Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Philipps-Universität Marburg Hans-Sachs-Straße 6

35039 Marburg

Der „rubber elongation factor" ist das Hauptallergen im Latex

Soforttypallergien gegen Latex- Artikel (hergestellt aus dem vulkani- sierten Milchsaft des Gummibau- mes) nehmen im Krankenhausbe- reich in den letzten Jahren sprung- haft zu. Teilweise geht die Entwick- lung parallel mit dem gestiegenen Verbrauch von Gummihandschuhen.

Nach eigenen Untersuchungen be- trägt der Anteil unter Beschäftigen im Krankenhaus, der eine latexbe- dingte Kontakturtikaria entwickelt, 8 bis 10 Prozent. Etwa 25 Prozent die- ser Personengruppe klagen gleichzei- tig über allergische Erscheinungen des Atemtrakts (Rhinitis, Asthmaan- fälle) und/oder eine Konjunktivitis.

Letztere treten im Extremfall bereits nach kurzem Aufenthalt in der Arzt- praxis oder in Krankenhausräumen auf, in denen Latex-Handschuhe ver- wendet werden (1) und gehen auf die Übertragung des Latex-Allergens auf den Handschuhpuder zurück. In ent- sprechenden Räumlichkeiten kann bis zu 0,15 µg-Allergen pro Kubikme- ter Luft nachgewiesen werden, wie eigene Messungen ergaben.

Besonders gefährdet ist der La- tex-Allergiker, wenn er sich einer Operation unterzieht, da über den Handschuh des Chirurgen das Aller- gen systemisch aufgenommen werden kann. In den USA hat die Food and Drug Administration (FDA) Warn- hinweise herausgegeben, nachdem es zu letal verlaufenden anaphylakti-

schen Schockzuständen unter ande- rem durch Gummi-Einlaufschläuche gekommen war. Die Todesfälle betra- fen Kinder mit Spina bifida und Uro- genitalaffektionen, die häufig im Krankenhaus waren und sich wieder- holt Untersuchungen und chirurgi- schen Eingriffen unterziehen mußten.

Vor kurzem gelang die Identifi- zierung des ursächlichen Hauptaller- gens, das sich sowohl in der Latex- Milch, im Handschuh als auch im Pu- der befindet (2). Es handelt sich um ein 14 KD-Protein mit 137 Amino- säuren in einer ungewöhnlichen Zu- sammensetzung; das Molekül ist frei von den Aminosäuren Cystein, Histi- din, Methionin und Tryptophan. Ein Strukturvergleich mit beschriebenen Proteinen ergibt, daß es sich um den bereits sequenzierten „rubber elon- gation factor" (REF) handelt. Dieses Protein spielt eine entscheidene Rol- le in der Biosynthese von Polyiso- prenketten im Gummibaum; es hilft nämlich, die cis-Isopreneinheiten an- einander zu heften, was zu der vor- hergenannten Bezeichnung geführt hat. In Anlehnung an die internatio- nale Allergennomenklatur wurde von uns die Bezeichnung Hev b I vorge- schlagen.

Die derzeitige Forschung kon- zentriert sich darauf, submolekulare Abschnitte (Epitope) zu identifizie- ren, die von den menschlichen Im- munglobulinen und von den Zellen

des Immunsystems erkannt werden, um genauere Kenntnisse über die ur- sächlichen strukturellen Charakteri- stika dieses aggressiven Allergens zu erhalten. Die erste identifizierte anti- körperbindende Sequenz stellt den

14 Aminosäuren umfassenden N- Terminus dar. Eine Untersuchung der Seren von 15 Latex-Allergikern ergab in fast allen Fällen eine IgE- Antikörperbindung an diesen.

In vielen Bereichen der Medizin, aber auch des Alltags, sind latexhalti- ge Materialien aufgrund ihrer her- vorragenden Materialeigenschaften heute kaum noch wegzudenken. La- tex wird beispielsweise für die Her- stellung von Pflastern, Beatmungs- beuteln, Fingerlingen, Drainagen, Schuhen, Teppichbodenunterlagen, Radiergummis, Luftballons und Kon- domen verwendet. Nach der Entdek- kung des Latex-Hauptallergens wird jetzt intensiv an Verfahren zu seiner Inaktivierung gearbeitet. Erste er- folgversprechende Ergebnisse in die- ser Richtung liegen bereits vor. bur

1. Baur, X.; J. Ammon, Z. Chen, U.

Beckmann, AB. Czuppon: Health risk in hospitals through airbone allergens for patients presensitised to latex. The Lan- cet 324 (1993) 1148-1149

2. Czuppon, AB.; Z. Chen, S. Rennert, T.

Engelke, HE Meyer, M. Heber, X. Baur:

The rubber elongation factor of rubber trees (Hevea brasiliensis) is the major al- lergen in latex. J Allergy Clin. Immunol;

92 (1993) 690-697

Prof. Dr. med. Xaver Baur, Direktor des Berufsgenoss. Forschungsinstituts für Arbeitsmedizin, Ruhr-Universität Bo- chum, Gilsingstraße 14, 44789 Bochum

A-1218 (46) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 17, 29. April 1994

Referenzen

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