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Archiv "Anorexia und Bulimia nervosa im Jugendalter: Ätiologie ergänzungsbedürftig" (10.02.1995)

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(1)

MEDIZIN

1 Leise,

feine Anläufe

Diagnosen sind aus psychothera- peutischer Sicht nur Fassade (3), oder sie wirken wie Computerviren, die Erinnerungen ändern und auslöschen (2). So können (auch spontanes!) Er- brechen und Heißhunger in jeder tie- fergehenden Psychotherapie wieder (wie vor einem Fasten und Abma- gern) oder neu auftreten, wenn die psychische Schreckstarre beginnt, sich zu lösen. Dies ist möglich, wenn wir helfen, Worte für das Unerträgli- che zu finden, wenn wir die leisen, fei- nen Anläufe dazu — oft die ersten im Leben — nicht übersehen. Wie leicht zerkrümeln die wirklichen, je indivi- duellen Motive oder Gründe für Ab- magern und Erbrechen zwischen Theorien und verklumpen im empiri- schen Wasser zu Pampe, zu noch einer

„Ätiologie der Magersucht"! Wes- halb nimmt denn dieses Kind, diese Frau ab? Um wem zu gefallen? Wen zu erschrecken? Wo zu siegen? Um einer Todeserfahrung willen? Um wirklich „weniger zu werden", aus Verzweiflung (worüber?) zu sterben?

— Pathophysiologie (cave Osteoporo- se!) und gute medizinische Begleitung sind sehr wichtig (1), aber entschei- dend ist, ob wir es ertragen, immer wieder offen zu sein.

Hören wir doch zu, fragen wir be- hutsam: „Was hat dir den Appetit ver- schlagen? Was ist für dich buchstäb- lich zum Erbrechen? Welche Wut sitzt dir so tief im Fleisch wie ein samt dem Kopf ins Holz geschlagener Nagel?", und: „Wen hättest du statt der Brote oder sonst gebissen, als du deine Wut nicht mit Worten äußern konntest?"

Wörtlich so kann miteinander gespro- chen werden, wenn wir vertrauen, ih- nen Zeit lassen.

Und was sagen sie uns da: — Ge- borgenheit nur beim trinkenden Opa.

Von klein auf geprügelt und mit Wor-

DISKUSSION

Zu dem Beitrag von PD Dr. med.

Beate Herpertz-Dahlmann und Prof. Dr. med. Dr. phil.

Helmut Remschmidt in Heft 17/1994

ten geohrfeigt, droht eine mit fünf- zehn, zurückzuschlagen . . . Selbst- wert kommt davon auch keiner mehr.

Die Sechsjährige steht immer wieder schützend vor Mama, wenn Vati mit dem Messer zuzustechen droht. Ins Essen gestoßen, das Gesicht, Iß! Papa wirft den Teller nach. Du ißt das auf (abends noch vorm kalten Fett vom Mittag)! Im Wechsel: Mein Gott, bist du dick — iß, daß du was wirst. Jene wird seit dem Tod der Schwester mit deren Namen angeredet. Diese pu- bertierend vom Bruder durch Jahre regelmäßig beschlafen (wenn du was sagst, bring' ich dich um). Ein Vater gibt die Tochter zu nämlichem Zweck dem Nachbarn. Sie fliegt durch die Glastür. Mutter sieht nicht (4).

Diese Kinder spüren nur noch selten Hunger . . . sie haben Angst und versuchen, weiterzuleben. Fa- stend. Stopfend Immer wieder ange- widert vom Leben. Suizidal.

Wenn ein solches Mädchen, eine solche Frau, sich zu spüren, anzuneh- men, mit gegen sie mißbrauchter Macht und Todeswünschen auseinan- derzusetzen beginnt und erstmals wagt, dem Kellner einen kalten Kaf- fee zurückzugeben, und sich unend- lich darüber freut! — dann leistet die Therapie etwas, meistern wir wohl auch Sümpfe und Felsen der Gegen- übertragung.

Zu oberflächliche und direktive Klinikbehandlungen verlängern und

verteuern auch die Leiden: nach sechs Monaten Therapie wagte die 33 kg schwere, seit 18 Jahren täglich erbre- chende Patientin davon zu sagen, wie sie mit 19, von einer damaligen, ehr- geizigen stationären Therapie erneut traumatisiert, wochenlang nicht mehr sprechen konnte — und nahm von da an zu. Eine andere erbrach ja erst seit ihrer „Auffütterung" mit 13.

Schier unsäglich kann der Schmerz werden, wenn das in den Symptomen Begrabene zum Gegen- stand der Therapie wird. Vielleicht er- zählt dann das Menschenkind erst einmal zitternd den letzten Traum von der Flutwelle und dem Ausbruch des Vulkans.

Literatur

1. Goebel G, Fichter M: Krankheiten mit vie- len Gesichtern: Anorexia und Bulimia ner- vosa. Karlsruhe: G. Braun, 1991

2. Hillman J, Ventura M: We've had a hundred years of psychotherapy — and the world's getting worse. New York: HarperCollins, 1992: 74; deutschsprachige Ausgabe: Hun- dert Jahre Psychotherapie und die Welt wird schlechter. Solothurn: Walter, 1993 3. Jung, CG: Medizin und Psychotherapie

(1945). In: Gesammelte Werke (5. A.; Olten:

Walter, 1991) Band 16, §§ 192-211

4. Waller G.: Sexual abuse as a factor in eating disorders, Br J Psychiatry 1991; 159: 664-671 Dr. med. Andreas von Heydwolff Psychotherapeut

Dreifaltigkeitsgasse 3 A-5020 Salzburg

2 Ätiologie

ergänzungsbedürftig

In diesem Artikel werden sexuel- le Gewalterfahrungen in der Kindheit als ätiologischer Faktor von Eß- störungen nicht angesprochen, ob- wohl dieses in den letzten Jahren wie- derholt diskutiert wurde. Mehrere Studien fanden übereinstimmend heraus, daß etwa 30 Prozent aller eß- gestörten Frauen über sexuelle Ge- walterfahrungen in der Kindheit be- richten (2, 5, 6). Es ist nicht gesichert, ob diese Rate höher ist als die Rate betroffener Frauen in der Normalbe- völkerung (2, 3, 7). Therapeutinnen, die mit eßgestörten Frauen arbeiten, beschreiben, daß bis zu 80 Prozent ih- rer Klientinnen von sexueller Gewalt in der Kindheit betroffen sind (8).

Die erwähnten Studien basieren auf Fragebögen, Interviews oder Ge-

Anorexia

und Bulimia nervosa im Jugendalter

A-370 (58) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 6, 10. Februar 1995

(2)

MEDIZIN

sprächen zur Aufnahme in eine Klinik für Eßstörungen, stellen also einmali- ge oder erstmalige Kontakte dar. The- rapeutinnen dagegen überblicken ei- nen längeren Zeitraum der gemeinsa- men Arbeit mit ihren Klientinnen.

Oft haben Frauen erst nach einer län- geren Therapiephase den Mut, über sexuelle Gewalterfahrungen in der Kindheit zu sprechen, oder erinnern sich sogar erst dann daran. Hierdurch läßt sich die Diskrepanz zwischen Stu- dienergebnissen und Erfahrungsbe- richten von Therapeutinnen erklären.

Es ist daher zu vermuten, daß der An- teil von Frauen mit sexuellen Gewalt- erfahrungen in der Kindheit unter eß- gestörten Frauen erheblich höher ist, als in den bisherigen Studien be- schrieben. Hierzu müßten jedoch noch umfangreichere Untersuchun- gen erfolgen.

In der Symptomatik von Eß- störungen und sexuellen Gewalter- fahrungen finden sich auffallend viele wesentliche Parallelen wie:

—Trennung zwischen Körper und Ich,

—Körper-Schema-Störungen,

—Schwierigkeiten in Beziehun- gen zu anderen Menschen,

—Unsicherer Umgang mit Gren- zen,

—Wahrnehmungsverzerrungen,

—Minderwertigkeitsgefühle, Selbstwertproblematik.

Diese könnten weitere Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Eßstörungen und sexuellen Gewalt- erfahrungen sein. Da 80 bis 90 Pro- zent der sexuell mißbrauchten Kinder Mädchen sind, ist dies neben sozio- kulturellen Faktoren eine Erklärung für das überwiegende Auftreten von Eßstörungen bei Frauen. Einige Stu- dien beschreiben einen hohen Anteil von Frauen mit sexuellen Gewalter- fahrungen in der Kindheit unter Frau- en mit verschiedenen psychischen Störungen wie Eßstörungen, De- pressionen, Suchtmittelabhängigkeit, Angststörungen, können aber keine dieser Störungen als spezifische Folge von sexuellem Mißbrauch in der Kindheit ausmachen (1, 4). Einigkeit besteht jedoch darüber, daß sexuelle Gewalterfahrungen in der Kindheit für betroffene Mädchen einen schwerwiegenden Eingriff in ihre Per- sönlichkeitsentwicklung darstellen

DISKUSSION

und daher in der Therapie auf jeden Fall Beachtung finden sollten.

Die von den Autoren aufgestell- ten Kriterien (Gewicht und Men- struationsstatus) zur Beurteilung des Heilungserfolges halte ich für nicht ausreichend. Meines Erachtens geht Heilung über Symptomfreiheit hin- aus. Sie müßte Aufarbeitung der zu- grundeliegenden Konflikte und Er- langung der Fähigkeit, das eigene Le- ben adäquat zu gestalten, beinhalten.

Vor allem, wenn man berücksichtigt, daß viele eßgestörte Frauen später an anderen psychischen Störungen lei- den, halte ich dies für sehr wichtig.

Literatur bei der Verfasserin Bettina Saure, Ärztin Lemgoer Straße 13 33604 Bielefeld

Schlußwort

Zu 1:

Wir hatten uns in der Darstellung der jugendlichen Anorexia und Buli- mia nervosa die Aufgabe gestellt, eine Übersicht zu Epidemiologie, Sympto- matik, Entstehung und Therapie der Eßstörungen zu geben. Die von von Heydwolff angesprochene Notwen- digkeit einer Psychotherapie wurde dabei mehrfach herausgestellt, konn- te jedoch aufgrund unseres Anliegens einer ganzheitlichen Darstellung der Krankheitsbilder nicht im Detail er- läutert werden.

Psychotherapie beinhaltet unter anderem die gemeinsame Arbeit von Therapeut/in und Patient/in, die Be- deutung individueller Lebensereig- nisse, Erinnerungen und damit ver- bundener Emotionen herauszufin- den. Sie spielen eine wichtige Rolle im Rahmen des Krankheitsprozesses.

Wir wollten aber durch unseren Arti- kel erreichen, monokausale Entste- hungstheorien zur Anorexia und Bulimia nervosa — wie sie über viele Jahre proklamiert wurden — zu über- winden und die multifaktorielle Ge- nese der Eßstörungen herausstellen.

Vieles, was von Heydwolff dar- legt, ist für uns als Psychotherapeuten selbstverständlich: zuallererst das Zu- hören, die Anteilnahme am Schicksal der Patienten und nicht zuletzt die Geduld, die man gerade mit eßgestör-

ten Patienten haben muß. Damit al- leine werden aber die Patienten nicht gesund. Hierfür ist ein differenziertes Fachwissen erforderlich und die Kenntnis möglicher Komplikationen.

Gerade dies wollten wir weitergeben.

Der von von Heydwolff vertrete- ne, ausschließlich subjektive Ansatz in der Therapie wird der Komplexität dieser Krankheitsbilder nicht gerecht.

Die Therapie der Eßstörungen muß verschiedene Aspekte umfassen — diätetische, medizinische, gesell- schaftliche, familiäre und persönliche (1, 2). Essentieller Bestandteil unse- rer Behandlung ist damit auch die Ge- wichtsnormalisierung — sie zu ver- nachlässigen, ist unseres Erachtens ein Kunstfehler.

Wie wir heute wissen, impliziert die Kachexie schwerwiegende organi- sche Veränderungen wie die Pseudo- atrophia cerebri und Neurotransmit- ter-Störungen (3, 4), die ihrerseits nicht selten einen psychotherapeuti- schen Zugang zunächst unmöglich machen. Eine Anhebung des Gewich- tes ist daher immer der erste Schritt einer erfolgreichen Therapie (siehe Tabelle 6). Glücklicherweise sind die Zeiten vorbei, in denen magersüchti- ge Patienten auf einer Trage in die Psychotherapie gebracht wurden!

Zu 2:

Selbstverständlich ist es für die Therapie einer eßgestörten Patientin wichtig, einem etwaigen sexuellen Mißbrauch in der Kindheit oder Ju- gend Beachtung zu schenken. Wie in der Zuschrift von Frau Saure bereits erwähnt wird, ist es nicht gesichert, ob die Rate des sexuellen Mißbrauches bei eßgestörten Patientinnen tatsäch- lich höher ist als in der Normalbevöl- kerung (6). Arbeiten aus jüngster Zeit stellen aber zumindest heraus, daß der sexuelle Mißbrauch bei Eßstörun- gen nicht häufiger als bei anderen psychiatrischen Erkrankungen beob- achtet wird (7, 8). Demnach muß der sexuelle Mißbrauch als ein unspezifi- scher Risikofaktor für die Entstehung psychiatrischer Erkrankungen, nicht aber als spezifisches ätiologisches Moment für die Eßstörungen angese- hen werden, um die es in unserem Ar- tikel ging.

Die Heilungserfolgskriterien Ge- wicht und Menstruation wurden nicht Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 6, 10. Februar 1995 (59) A-371

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