Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen
Das siebzehnte Jahrhundert ist das Jahrhundert mathematisch-natur- wissenschaftlicher Genies: Des- cartes, Galilei, Boyle, Newton for- men ein neues Weltbild. Die exakten Wissenschaften erleben einen Auf- schwung wie nie zuvor. Naturwis- senschaftliches Denken beeinflußt die Medizin. Harvey entdeckt den Blutkreislauf, Brunner, Lower, Willis begründen eine Experimentapatho- logie; Sektionen menschlicher Lei- chen werden jetzt öffentlich durch- geführt. das Wissen über Anatomie,
Abbildung 1: Vignette der Historiarum anatomicarum rariorum (1654) mit dem Bildnis des Thomas Bartholinus. Aus der Sammlung der Universitätsbibliothek Er- langen—Nürnberg
Physiologie und Pathologie wächst exponentiell. Europas Universitäten erleben eine neue Blüte. Dabei ist oft die Prosperität einer Universität, ihr Ruf, das Verdienst eines oder weni- ger Männer, die neben der Gelehr- samkeit auch die Fähigkeit besitzen, das Interesse der Öffentlichkeit — besser noch: der öffentlichen Hand
— an der Universität wachzuhalten.
Eng verbunden
mit der Universität Kopenhagen Wohl keine Familie ist dabei so eng mit dem Aufblühen einer Universität und so nachhaltig mit ihrer Ge- schichte verbunden wie die Mitglie- der der Bartholin-Sippe mit der Uni- versität von Kopenhagen. Sie stellen über mehr als ein Jahrhundert viele Professoren verschiedener Fakultä- ten und haben einflußreiche politi- sche Ämter inne. Ganz Europa kennt ihren Namen, und noch heute hängt in der Universität von Padua eine Gedenktafel für Thomas Fincke, dem Begründer der Familie und Großvater Thomas Bartholinus'.
Herkunft und Werdegang
Thomas Bartholinus wird am 20. Ok- tober 1616 in Kopenhagen geboren.
Sein Vater, Caspar Bartholinus (sen.) ist ein Universalgelehrter:
Lehrstühle für Philosophie, Anato- mie, griechische Sprache an ver- schiedenen europäischen Universi- täten schlägt er aus. In Kopenhagen
Krankenpapiere
4.5 Zuletzt: Es sollte vermieden werden, daß durch rechtliche An- forderungen, die teils funktions- widrig, teils unerfüllbar sind, die Vertrauensmöglichkeiten zwi- schen Arzt und Patient weiter ein- geschränkt werden und die dem Arzt eine ebenso illegale wie un- würdige doppelte Buchführung als pragmatischen Ausweg nahe- legen.
Unsere Hoffnungen richten sich mehr auf eine problembewußte Entwicklung der Rechtsprechung als auf legislative Maßnahmen.
Literatur
Ahrens, W.: Krankenpapiere — Pflichten des Arztes und Rechte des Patienten, Hamburger Ärzteblatt 5, 170, 1981 — Ar- beitsgemeinschaft medizinisch-wissen- schaftlicher Fachgesellschaften (AWMF), H. E. Ehrhardt, H. Kuhlendahl, H. L.
Schreiber und E. Samson: Einsichtsrecht in ärztliche Krankenunterlagen und Do- kumentationspflicht des Arztes, Resolu- tion Dez. 1979, Spektrum der Psychiatrie und Nervenheilkunde 5, 160, 1980 — Bochnik, H. J.; Gärtner, H., und Richt- berg, W.: Zerstörung des Vertrauensver- hältnisses Patient/Arzt durch Verrechtli- chung? Vertrauen, Anvertrauen, Vertrau- enswürdigkeit, in: Bergener, M. (Hrsg.):
PSychiatrie und Rechtsstaat, Luchter- hand, Neuwied 1981 — Bochnik, H. J.;
Gärtner, H., und Richtberg, W.: Ärztliche Aufklärung zwischen Vertrauen und Ali- bi, Versicherungsrecht 32, 793, 1981 — Heimchen, H.: Zur Problematik des Ein- sichtsrechts in psychiatrische Kranken- unterlagen. Spektrum der Psychiatrie 10, 228, 1981 — Kindt, H., und Haring, C.: Die Problematik des Einsichtsrechts in psychiatrische Krankenunterlagen.
Spektrum der Psychiatrie 5, 160, 1981 — Schimmelpennig, G. W.: Zum Recht des Patienten auf Einsicht in die Kranken- blattunterlagen, Spektrum der Psychia- trie 5, 151, 1980
Anschrift für die Verfasser:
Prof. Dr. med.,
Hans Joachim Bochnik Geschäftsführender Direktor des Zentrums der Psychiatrie im Klinikum der Universität Heinrich-Hoffmann-Straße 10 6000 Frankfurt am Main 71
GESCHICHTE DER MEDIZIN
Ehrenrettung
eines Universalgelehrten
Der Anatom und Pathologe Thomas Bartholinus:
Im 19. Jahrhundert überscharf kritisiert
Peter Stömmer
Ausgabe A/B DEUTSCHES ÄRZ 1EBLATT 79. Jahrgang Heft 10 vom 12. März 1982 101
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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Thomas Bartholinus
hat er zunächst eine Professur für Rhetorik inne, um dann,— nach der Hochzeit mit Anna, der Tochter des berühmten Professor medicinae Thomas Fincke, auf einen der drei medizinischen Lehrstühle überzu- wechseln. Sein Werk Controversae anatomicae findet weite Verbrei- tung. Am Ende seines Lebens wen- det er sich der Theologie zu (Profes- sur). Caspar Bartholinus stirbt im Al- ter von 44 Jahren.
Zu dieser Zeit ist Thomas Bartholi- nus gerade dreizehn Jahre alt. Sein Onkel Ole Worm, Professor der Me- dizin und Nestor der nordischen Al- tertumskunde, wird zum Vormund bestimmt. Vielleicht hat er das Inter- esse des jungen Thomas Bartholi-
Abbildung 2: Ausschnitt aus dem Inhalts- verzeichnis der Historiarum anatomica- rum rariorum. Neben der Beschreibung der Anatomie des Einhorns (Eqvus Cor- nutus) finden sich zahlreiche exakte pa- thologisch-anatomische Beschreibun- gen über Nierensteine (Diabetes calculo- si), Pleuraempyem (Empyema thoracae puellae) und Thorakopagus (Frater pec- tori)
nus für Geschichte und Archäologie geweckt. 1632 immatrikuliert sich sein Neffe an der Kopenhagener Universität für Theologie.
Neunjähriges Studium an den Universitäten Europas
Schon bald verläßt er seine Heimat- stadt und studiert neun Jahre lang an zahlreichen Universitäten Euro- pas. Sein Interesse gilt allem: Theo- logie, Philosophie, Philologie alter und neuer Sprachen — darunter Ara- bisch! —, der Archäologie, der Juri- sterei und, vielleicht etwas mehr als den anderen Fächern, der Anatomie.
Drei Jahre lernt er die anatomische Wissenschaft in Leyden bei J. de Wale und Sylvius. Dann läßt ihn ei- ne wiederaufgeflammte Tuberkulo- se nach Süden ziehen. Studien in Frankreich und an italienischen Uni- versitäten folgen.
Die Berufung auf einen Lehrstuhl für Philosophie in Neapel lehnt er ab.
Sein letztes Studienjahr im Ausland führt ihn nach Basel, wo ihm Bau- hin, der bereits 35 Jahre zuvor sei- nen Vater promovierte, den medizi- nischen Doktorhut verleiht (1645).
Vorzüglicher Demonstrator und eloquenter Lehrer
Im Jahre 1646 kehrt er nach Kopen- hagen zurück und übernimmt eine Professur für Philosophie. Gleich- zeitig assistiert er seinem greisen Großvater Fincke, bis er dann drei Jahre später die für ihn freigemach- te dritte medizinische Professur übernehmen kann (sein Amtsvor- gänger Paulli erhält eine hohe Abfin- dung).
Von alters her gehörte es in den Auf- gabenbereich der dritten Professur, den Unterricht in Anatomie zu ertei- len und die, zumeist als öffentliches Gaudium im anatomischen Theater, durchzuführenden öffentlichen Sek- tionen abzuhalten; Thomas Bartholi- nus erweist sich dabei als vorzügli- cher Demonstrator und eloquenter
Abbildung 3: Aus der Beschreibung der Anatomie von Sirenen. Kopenhagen, 1661
Lehrer. Von seinem Publikum for- dert er stets Ernst und Achtung vor dem Toten (Porter 1963).
Entdecker
des Ductus thoracicus
Die Lehrjahre werden zugleich Lern- jahre: Entdeckung des Ductus tho- racicus beim Menschen, Erkenntnis- se über den Ductus Wirsungianus und über die Bedeutung der Leber sowie eine reiche — zuweilen viel- leicht auch unkritische — schriftstel- lerische Tätigkeit begründen seinen Ruhm in ganz Europa. Eine weitere Neuauflage des anatomischen Lehr- buchs seines Vaters, das Thomas Bartholinus seit der zweiten Auflage betreut, gibt Gelegenheit zu einer gründlichen Überarbeitung, in die eigene Anschauungen einfließen (Anatomia nova 1651). Patholo- gisch-anatomische Studien, gleich- sam als Rechenschaftsbericht über die öffentlichen Sektionen umfassen 102 Heft 10 vom 12. März 1982 79. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A/B
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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Thomas Bartholinus
zahlreiche Krankheitsbilder und -be- schreibungen. Die Entdeckung der Mukoviszidose wird ihm zugeschrie- ben („Meconium von der dritten Ko- chung hergeleitet"). Die Beobach- tung steht im Vordergrund seiner
„Historien", die Interpretation er- folgt zurückhaltend — wenn über- haupt.
Geschichte der anatomischen Raritäten in sechs Bänden
Beobachtungen über viele, häufige Krankheiten sind den sechs Bänden seiner Historiarum anatomicarum rariorum centuria I—VI (Copenhagen 1654-1661) zu entnehmen (Abbil- dungen 1 und 2). Daneben enthalten sie allerdings auch Beschreibungen der Anatomie von Einhorn und Sire- nen (Abbildung 3) oder praktische Anweisungen, wie sich der Arzt ei- nem Pestkranken zu nähern habe.
Berühmt
und geehrt im Alter
Sein Interesse gilt vorwiegend der wissenschaftlich-theoretischen Me- dizin; über praktische Tätigkeit lie- gen keine Berichte vor. Nach zehn Jahren anatomischer Lehrtätigkeit verzichtet er auf Vorstellungen im Theatrum anatomicum; vier Jahre später zieht er sich auf sein einige Meilen außerhalb von Kopenhagen
gelegenes Landgut zurück. Von hier lenkt er die Fakultät (die meisten Lehrstühle sind inzwischen mit sei- nen nächsten Angehörigen besetzt), hier widmet er sich der literarischen Arbeit.
Hohe Ehren werden ihm in seinen späten Jahren zuteil: Dekan und Bi- bliothekar der Universität, Assessor des höchsten Landesgerichts, Rufe an verschiedene ausländische Uni- versitäten, und schließlich — gleich- sam als Trost nach dem Brand sei- ner Bibliothek — Leibarzt des Königs mit hoher Staatspension.
Am 11. Dezember 1680 stirbt Tho- mas Bartholinus auf seinem Gut; er wird in der Vor Frue Kurke in Kopen- hagen beigesetzt. Posthum werden er und sämtliche Nachkommen vom dänischen König in den erblichen Adelsstand erhoben (1731).
Thomas Bartholinus veröffentlichte zahlreiche Schriften. Medizinische Hauptwerke sind die Historiarum anatomicarum rariorum centuria 1—VI (Kopenhagen 1654-1661), die Institutiones anatomicae (Leiden 1651), die erste Pharmakopc.e Däne- marks, die Dispensatorium hafnien- se (Kopenhagen 1658) sowie Mono- graphien: De lacteis thoracis in ho- mine brutisque nuperrime observa- tis (Kopenhagen 1652), Vasa lym- phatica (Kopenhagen 1654), De pul- monum substantia et motu (Kopen-
hagen 1663). Er begründet die erste wissenschaftliche Zeitschrift Däne- marks: Acta medica et philosophica hafniense. Spätwerke befassen sich mit literarischen, historischen und medicophilosophischen Fragen.
Kritik
an Person und Werk
Eigene Überheblichkeit und die übersteigerte Wertschätzung seines Werkes durch Zeitgenossen haben in späterer Zeit zu einer überschar- fen Kritik an Person und Werk des Thomas Bartholinus geführt. Gerade durch seine Vielseitigkeit und sei- ne gesellschaftlichen Verbindungen aber hat er zur Prosperität und zum Ruhm der Universität und der medi- zinischen Fakultät in Kopenhagen Wesentliches beigetragen.
Literatur
Gillispie, C. C. (Ed.): Dictonary of Scientific Biography. New York 1970 — Hirsch, A. (Ed.):
Biographisches Lexikon hervorragender Ärzte vor 1880, Bd. 1. 3. Auflage, München, 1962 — Porter, 1. H.: Thomas Bartholin and Niels Steensen — master and pupil. Medical History 7: 99-125 (1963).
Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Peter Stömmer Gerhart-Hauptmann-Straße 11 8520 Erlangen
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