A 1632 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 111|
Heft 39|
26. September 2014KOMMENTAR
Prof. Dr. med. Peter von Wichert, emer. Direktor des Zentrums für Innere Medizin, Universität Marburg
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ozialgemeinschaften im globa- len Wettbewerb müssen sich ständig mit neuen Ideen und Leistun- gen behaupten. Das muss durch Per- sonal getragen werden, das sich der Bedeutung, aber auch Begrenzung wis- senschaftlicher, kultureller ebenso wie ökonomischer Daten bewusst ist. Die Fähigkeit zur selbstständigen kritischen Bearbeitung vorgegebener Sachverhal- te liefert ein Universitätsstudium. Die europäischen Universitäten haben die- se Aufgabe über die Jahrhunderte glänzend geleistet. Der wesentlicheLeitgedanke der europäischen Univer- sität war nicht, unmittelbar berufsver- wertbares Wissen anzubieten, sondern den Studierenden das Wesen der je- weiligen Wissenschaft zu vermitteln, das hinter aus dem Leben gegriffenen Beispielen erkannt werden konnte. So hatten die Absolventen ein Werkzeug zur Hand, das nicht in kurzer Zeit un- scharf und unbrauchbar wurde, son- dern sie in die Lage versetzte, auch zu- künftige Probleme und Sachverhalte beurteilen zu können – auch solche, die sie noch nicht im Studium kennen- gelernt hatten.
Ein akademischer Unterricht zeigt nicht nur sichere Daten und Sachver- halte auf, sondern die Prinzipien und Systematik der jeweiligen Wissen- schaft. Gerade die Darstellung von Fehlern, Unsicherheiten, aber auch Perspektiven eines Fachs macht den akademischen Unterricht aus. Ein Fachschulunterricht vermittelt anwend- bare Kenntnisse, die sich unmittelbar in praktische Handlungen umsetzen las- sen. Akademischer Unterricht hat das Ziel, den Studierenden zu einem kriti- schen Hinterfragen der jeweiligen Wis- senschaft zu leiten und nicht vorder- gründig Wissensstoff anzuhäufen.
Zu allen Zeiten haben sich Studie- rende über zu den zu bewältigenden
Stoff beklagt und darüber, dass sie De- tails lernen sollten, die für den späteren Beruf nicht wichtig seien. Nie ist jemals festgestellt worden, dass solche Auf- fassungen auf irgendeiner nachprüfba- ren Basis ruhen würden. Dennoch ha- ben die Reformer der Nach-68er-Zeit solche Vorstellungen aufgenommen, akzentuiert und veränderte Lehrstruk- turen gefordert – mit dem Ziel, auch an den Universitäten mehr praxisbezoge- nen Unterricht zu etablieren, den Lern- aufwand zu verringern und den späte- ren Einsatz im Beruf zu erleichtern.
Diese Entwicklung kumulierte in der
„Bologna-Reform“, die zunächst die geisteswissenschaftlichen Fächer traf, sich aber inzwischen in die naturwis- senschaftliche, technische und medizi- nische Lehre hineingefressen hat. Das Ziel der Vergleichbarkeit europäischer Studienleistungen wurde nicht erreicht, weil auch übersehen worden war, dass die europäischen Studienabschlüsse seit dem Mittelalter ohne besondere Strukturvorgaben, allein aufgrund der der Lehre innewohnenden Wissen- schaft vergleichbar gewesen waren.
Damit ist der Schritt von einer aka- demischen Zielen verpflichteten Ausbil- dung zu einer vordergründig berufsbe- zogenen Zielen verpflichteten techno- kratischen Ausbildung mit Fachschul- charakter vollzogen worden. Es ist eine Kleinteiligkeit ins System der Wissens- vermittlung an den Universitäten ge- kommen, auch in der Medizin, die die- sen im Grunde fremd sein sollte und einer akademischen Ausbildung kon- traproduktiv entgegensteht.
Wenn sich in Zukunft die akademi- sche Lehre in der Medizin auf einzelne von einer Kommission festgelegte
„Lernziele“ konzentrieren sollte, festge- legt in einem nationalen kompetenzba- sierten Lernzielkatalog (NKLM), ist die Sorge berechtigt, ob sich die Lernziele
noch zu einem Ganzen zusammenfü- gen lassen. Zwingend muss den Stu- dierenden im Studium eine Gesamtbil- dung vermittelt werden; weniger wich- tig ist es, im Studium praxisbezogene Kenntnisse zu betonen. Die gegenwär- tige Diskussion um einen Lernzielkata- log der Medizin ist auch ein Versuch, Prinzipien in die deutsche akademische Lehre einzufügen, die die medizini- schen Verhältnisse, aber auch die wis- senschaftlichen Traditionen in Europa nicht berücksichtigen. Die Reise in die Fachschule erscheint so unvermeidlich.
Ein Blick in die USA wäre hilfreich, wenn nicht nur auf Harvard oder Mayo geschaut würde. Das Gesundheitswe- sen der USA ist verglichen mit dessen Effektivität außerordentlich teuer. Das liegt nicht zuletzt an einem Ausbil- dungssystem, das sich nicht auf das Ziel einer umfassenden Vermittlung der wissenschaftlichen Basis der Medizin konzentriert, sondern auf die Erfassung von einzelnen medizinischen Gegeben- heiten, gelegentlich nach Art von Checklisten.
Ob eine Ausbildung anhand von Lernzielkatalogen bezüglich der Versor- gungsqualitäten in Zukunft irgendetwas verbessert, kann heute niemand sagen – es ist aber eher unwahrscheinlich.
Unser akademisch geprägtes System gilt weltweit als exzellent, eine große Zahl deutscher Ärzte arbeitet erfolg- reich im Ausland. Leider sind auch eini- ge Ausbildungsforscher dem Wunsch der Studierenden aufgesessen, „praxis- nah“ zu lernen. Dabei wird vergessen, dass es nicht nötig ist, dass ein Arzt drei Wochen nach dem Staatsexamen eine Hirnoperation durchführt. Nötig ist aber, dass er über das Wissen und den theoretischen Hintergrund verfügt, die ihn eines Tages in die Lage versetzen, die mit solch einer Operation verbunde- nen Probleme in Ganzheit zu verstehen.
MEDIZINISCHE AUSBILDUNG IN ZEITEN DER BOLOGNA-REFORM