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Archiv "Grenzen der Intensivtherapie in der Chirurgie" (12.12.1991)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

AKTUELLE MEDIZIN

Die chirurgische intensivmedizinische Therapie zielt bei Schwerkran- ken nach einer Operation auf die Wiedererlangung von Gesundheit oder Linderung von Leiden und Abwendung von Schadensrisiken un- ter Wahrung der autonomen Entscheidungsfreiheit des Patienten. Das Recht verlangt nicht die Aufrechterhaltung des Lebens in jedem Fall um jeden Preis. Die Entscheidung zu Therapieverzicht, Therapiereduk- tion oder Therapieabbruch kann nur auf der Basis der primären, ethisch-medizinischen Indikationen getroffen werden; Kostenerwägun- gen sind sekundär, allenfalls Anlaß, Entscheidungen aus ärztlicher Sicht zu treffen.

Hans G. Beger 1), Wolfgang Oettinger2), Dietrich Rössler3) und Hans-Ludwig Schreiber')

Grenzen

der Intensivtherapie in der Chirurgie

D

ie Behandlungsergebnis- se von Erkrankungen mit lebensbedrohlichen Kom- plikationen, nach großen Operationen bei Neugeborenen, Er- wachsenen sowie bei über 70jährigen Patienten sind durch die Intensivme- dizin signifikant verbessert worden.

Die Erfolge in vielen Bereichen der operativen Medizin — Abdominal- chirurgie, Transplantationschirurgie, Herzchirurgie, Tumorchirurgie, Kin- derchirurgie und andere — beruhen wesentlich auf der Anwendung von Intensivüberwachung und -therapie.

Die Indikation zur Anwen- dung intensivmedizinischer Überwa- chungs- und Therapiemaßnahmen macht für jeden Patienten eine Nut- zen-Risiko-Abwägung erforderlich, da die Applikation von Überwa- chungstechniken und Geräten zur Unterstützung und Aufrechterhal- tung von Organfunktionen neben Vorteilen erhebliche und nicht im- mer sicher kalkulierbare Risiken ein- schließt.

Seit Gründung der ersten Inten- sivstation 1930/31 durch den Tübin- ger Chirurgen Kirschner und der planmäßigen Entwicklung von inten- sivmedizinischen Funktionseinheiten in den 60er Jahren hat sich die ope-

rative Intensivtherapie zu einer selb- ständigen, von Anästhesisten und Chirurgen geführten, interdisziplinär genutzten klinischen Spezialdisziplin entwickelt. Das Wissen über die Ri- siken der Anwendung von intensiv- medizinischen Überwachungs- und Therapieverfahren, die ethischen Probleme mißlungener Therapiever- suche sowie neuerdings auch der Ko- stendruck in der klinischen Medizin und die Frage der Belastbarkeits- grenzen des Pflegepersonals auf In- tensivtherapiestationen haben in den letzten Jahren zu einer Diskussion

1) Chirurgische Klinik I (ärztlicher Direk- tor: Prof. Dr. med. Hans G. Beger) der Universität Ulm

2) Chirurgische Klinik, Abteilung für Allgemein-, Unfall- und Gefäßchirurgie (Chefarzt: PD Dr. med. Wolfgang Oettinger), Krankenhaus der Barmherzi- gen Brüder Trier

3) Abteilung für Praktische Theologie (Direktor: Prof. Dr. theol. Dr. med.

Dietrich Rössler), Evangelisch-Theo- logisches Seminar der Eberhard-Karls- Universität Tübingen

4) Juristisches Seminar (Direktor:

Prof. Dr. jur. Dr. h. c.

Hans-Ludwig Schreiber),

Georg-August-Universität Göttingen

über die Grenzen der modernen In- tensivmedizin geführt.

Die Kontroverse in der Interpre- tation von Auftrag, Ziel und Gren- zen der Intensivmedizin kommt aus der Erkenntnis über Nutzen und Ri- siko. Die Intensivstation ist einmal der Ort medizinisch-technologischer Innovation; viele Fortschritte der modernen Medizin und speziell der Chirurgie sind ohne sie nicht vor- stellbar, ja sie konnten nur im Um- feld einer Intensivstation erreicht werden. Dazu gehören zum Beispiel moderne Beatmungstechniken, die modernen Konzepte der Perito- nitis-Behandlung, das Überleben schwerstverletzter, herzoperierter und organtransplantierter Patienten;

es sind Operationsverfahren, die heute einer großen Zahl von Patien- ten zugute kommen Kritik wird ge- äußert, weil Intensivpatienten iso- liert und in einer hochtechnisierten Umgebung von jeglicher normalen Kommunikation ausgeschlossen sind, weil bei Patienten und Angehörigen Unsicherheiten darüber bestehen, ob nicht doch zum möglichen Schaden des Patienten „Neues ausprobiert",

„Gottes Willen oder dem Schicksal gewehrt" wird und die Apparateme- dizin angeblich den Arzt ersetzt (1).

A-4482 (42) Dt. Ärztebl. 88, Heft 50, 12. Dezember 1991

(2)

Tabelle 1: Entscheidungskategorien: sekundärer Therapieverzicht — Therapiereduktion — Therapieabbruch Kategorie Erkrankung/

Komplikationen

Entscheidungsbasis Gültigkeit Konsequenz

sekundärer Therapie- verzicht

Herz-Kreislauf-Stillstand im Verlauf einer mali- gnen, nicht beherrschba- ren Grundkrankheit

chronische respirato- rische Insuffizienz, Azidose, zunehmende Herzinsuffizienz

unbestritten keine Reanimation

therapierefraktäre abdominelle Sepsis

blutendes Magenkarzinom

kein chirurgisch sanier- barer Fokus, zum Bei- spiel Darminfarkt Entwöhnung vom Respi- rator nicht möglich;

infauste Prognose

proble- matisch

unbestritten

proble- matisch rupturiertes Aorten-

Aneurysma bei über 80jährigen Patienten

chronische respirato- rische Insuffizienz, Nierenversagen, schwere kardiovaskuläre Vorer- krankungen

keine invasiven supportiven Verfah- ren, zum Beispiel Dialyse, Beatmung, keine Antibiotika?

nicht radikal resezier- bares Karzinomleiden

schwerwiegende Ver- laufskomplikation, zum Beispiel Apoplex, Sepsis

unbestritten

nekrotisierende Enterocolitis

proble- matisch zusätzlich bestehende

Mißbildungen, zum Beispiel M. Down, Atresien, ösophago- trachela-Fisteln etc.

Therapie- reduktion

zerebrales Koma ohne Tendenz, zum Beispiel apallisches Syndrom rezidivierender maligner Hirntumor mit zuneh- mender Bewußtlosigkeit

langfristige Beobachtung

exakte Kenntnis des Patientenwunsches

unbestritten

unbestritten keine weiteren aktiven Maßnahmen posttraumatisches Multi-

organversagen

Therapie- abbruch

Hirntod (Coma depasse

trotz maximaler Intensiv- therapie progressive objektivierbare Ver- schlechterung vitaler Funktionen von drei Or- ganen

naturwissenschaftlicher Nachweis

proble- matisch

unbestritten fakultativ:

Organspende

Über den Auftrag der Intensiv- station sind sich Mediziner unter- schiedlichster Fachgruppen im Prin- zip einig (2). Dazu gehören folgende Aspekte: die Möglichkeit einer Wie- dererlangung von Gesundheit oder Linderung von Leiden, das Prinzip der Nicht-Schädigung beziehungs- weise des Abwendens von Schadens- risiken unter Wahrung der autono-

men Entscheidungsfreiheit des Pa- tienten und unter Berücksichtigung von Prinzipien der sozialen Gerech- tigkeit, das heißt der gerechten Ver- teilung von knappen und teuren Res- sourcen (3, 4).

Für den Chirurgen kann ein zu- sätzliches Dilemma auf seiner Inten- sivstation daraus entstehen, daß er es nicht immer mit schicksalhaften,

ohne seine Einwirkung entstandenen oder ausschließlich von der Krank- heit bestimmten Verläufen, wie zum Beispiel beim Herzinfarkt oder Vergiftungen zu tun hat; er muß vielmehr die Konsequenzen seines eigenen chirurgischen Handelns in intensivmedizinische Strategien und Verantwortlichkeiten einbezie- hen.

Dt. Ärztebl. 88, Heft 50, 12. Dezember 1991 (45) A-4485

(3)

Die Diskussion über die Grenzen der chirurgischen Intensivtherapie bezieht Fragen nach der Indikation, der Rechtzeitigkeit einer Interven- tion, der Möglichkeit und Früherken- nung chirurgischer Komplikationen, ihre grundsätzliche Vermeidbarkeit und den damit in Zusammenhang stehenden Zwang zur maximalen In- tensivtherapie ein. Sie stellt eine höchstverantwortliche chirurgische Aufgabe dar; vom Chirurgen wird da- her eine ständige selbst- und fremd- kritische Überprüfung seiner Vor- stellungen von Auftrag, Ziel und Grenzen intensivtherapeutischer Maßnahmen verlangt (5).

In den häufigen Grenzsituatio- nen steht der Chirurg also vor der komplexen, ambivalenten Aufgabe, zwischen der Anwendung von maxi- maler Intensivtherapie und sinnvol- ler Begrenzung im Hinblick auf das Wohl eines Patienten zu entschei- den. Er ist dabei vor allem auf die Aussagen seines Patienten und häu- fig auch auf die Stellungnahme der Patienten-Angehörigen, ebenso wie auf die Mitarbeit der Kollegen aus der Anästhesie, Inneren Medizin, Neurologie und Pädiatrie angewie- sen.

Die Entscheidungen über eine mögliche Begrenzung intensivthera- peutischer Maßnahmen beginnen mit der Indikation zur Intensivthera- pie, der Information der beteiligten Ärzte und der Aufklärung des Pa- tienten.

Patientengruppen, bei

welchen Grenzentscheidungen häufig erforderlich sind

Das Spektrum betroffener Pa- tienten reicht vom Frühgeborenen mit nekrotisierender Enterocolitis bis zum Patienten im Alter über 90 Jahre mit einem stenosierenden Tu- mor des Verdauungstraktes. Nicht selten ist in solchen Fällen die Indi- kation zur Operation mit der Indika- tion zur Intensivtherapie verknüpft.

Die Mehrzahl der Patienten stellt den Chirurgen nicht vor die Frage:

Intensivstation - ja oder nein?, son- dern vor die Entscheidung einer ak- tuellen Therapiebegrenzung, wenn im weiteren Verlauf der Krankheit

sich herausstellt, daß keine Aussicht auf Behandlungserfolg eintritt. Wei- lemann (3) differenziert in diesem Zusammenhang die Therapiebe- grenzung in die Kategorien „The- rapieverzicht (primär? und se- kundär?)", „Therapieabbruch" und

„Therapiereduktion" (Tabelle 1).

Die Kategorie „primärer Thera- pieverzicht" gilt nur für solche Pa- tienten, bei denen keine begründete Aussicht besteht, daß die lebensbe- drohliche Einschränkung von Vital- funktionen beherrschbar und die Entlassung aus der Klinik erreichbar sind. Dies betrifft in aller Regel Pa- tienten in Endstadien maligner und progredient chronischer Leiden, die konsequenterweise dann auch eine Kontraindikation für potentiell in- tensivpflichtiges chirurgisches Vor- gehen darstellen. Der Chirurg wird sich deshalb im wesentlichen mit der Grenzentscheidung „sekundä- rer Therapieverzicht", „Therapieab- bruch" und „Therapiereduktion"

konfrontiert sehen.

Die Entscheidungsgrundlagen zum Beispiel des Therapieabbruchs bei erwiesenem Hirntod sind fest- stellbare Tatsachen und beziehen sich oft auf ein Konsil mit Drit- ten (6). Beim sekundären Therapie- verzicht, etwa beim rupturierten Aortenaneurysma oder chronischer respiratorischer Insuffizienz des be- atmeten Patienten sowie bei schwe- ren kardiovaskulären Vorerkrankun- gen, oder bei Patienten mit bluten- dem, in die Leber infiltriertem Ma- genkarzinom nach erreichter Blut- stillung, oder bei dem Kind mit ne- krotisierender Enterocolitis und zu- sätzlichen Mißbildungen besteht je- doch fast immer ein Defizit an aus- reichenden objektiven Entschei- dungskriterien, die eine so weitrei- chende Konsequenz wie den definiti- ven Tod nach Behandlungsabbruch eines der Intensivtherapie primär anvertrauten Patienten rechtfertigen können.

Trotz wiederholter Ansätze zur Erstellung einer objektiven Checkli- ste (5, 6, 7, 8) gibt es bisher keine für den Einzelfall verbindliche Definiti- on der Intensivtherapiepflicht, des Schweregrades einer intensivpflichti- gen Erkrankung oder gar der aufge- hobenen Therapiebedürftigkeit.

Jeder Intensivmediziner bleibt deshalb gefordert, die Entscheidung zum Therapieverzicht oder zur The- rapiereduktion auf eine ethisch be- gründete, rational nachvollziehbare und eine mit der Autonomie und Würde des Individuums vereinbare Basis zu stellen. Der Chirurg muß darüber hinaus den unter Umstän- den erheblichen und psychologisch verständlichen Erfolgszwang einer von ihm selbst durchgeführten und zur Intensivtherapiepflicht führen- den operativen Therapie relativie- ren.

Entscheidungsgrundlagen Die medizinischen Grundlagen, die Unsicherheiten der diagnosti- schen Entscheidungskriterien sowie die Konsequenzen von Entscheidun- gen bei sekundärem Therapiever- zicht, Therapiereduktion oder gar Therapieabbruch machen klar, daß die Grenzziehung in der chirurgi- schen Intensivmedizin kein nach Standardregeln ablaufender Prozeß und keine Ein-Mann-Entscheidung sein kann. Im Schrifttum ist man sich darüber einig, daß neben objektiven Daten aus den Krankenakten und dem aktuellen Krankheitsverlauf das Wissen über die persönlichen Wert- und Lebensmaßstäbe des Patienten - insbesondere seine Willensäuße- rung in Kenntnis seiner Erkrankung - in die Entscheidungsfindung mit eingehen müssen.

In Tabelle 2 sind die empfohle- nen Entscheidungskriterien zusam- mengefaßt; - sie sind Ausdruck eines Mangels an objektiven Entschei- dungsdaten; es ist immer erforder- lich, ein Höchstmaß menschlicher Sorgfaltspflicht zu wahren.

Es wird in diesem Zusammen- hang ein Dilemma offenbar, mit dem jeder leben muß, der die im Konsi- lium von wohlmeinenden Kollegen und Beratern mitgetragene Ent- scheidung ausführen und am Ende für sich allein mit seinem Gewissen verantworten muß. Dies ist auch der Grund, warum in der gesamten Dis- kussion zu diesem Thema keine Standards, sondern nur mehr oder weniger verbindliche Empfehlungen ausgesprochen werden.

A-4486 (46) Dt. Ärztebl. 88, Heft 50, 12. Dezember 1991

(4)

übergeordnet subjektiv

objektiv

Tabelle 2: Entscheidungsgrundlagen

Organfunktionen im Verlauf prognostisch indikatorische Labordaten

Einschätzung der Situation durch Intensiv-Team:

Chirurg, Anaesthesist, Internist, Pädiater, Neurologe

Ethische Grund- sätze

Erklärter Wille des Patienten, zum Beispiel schriftliche Niederlegung,

„Patiententestament"

Zeichen der Therapieresistenz

Intensivschwester vom Patienten bestellter Sprecher Familienangehörige,

vom Patienten bestellter Vertreter Multiorganversagen

ohne Besserungs- tendenz

empirische, daten- gesicherte Prognose der Erkrankung Persönlichkeitsprofil des Patienten

juristische Aspekte Hausarzt

Geistlicher Ethisch juristische

Überlegungen

Therapieverzicht und -reduktion sind als Entscheidungen zu definie- ren, die für einen früheren Zeit- punkt des Todes eines Patienten ur- sächlich sein können. Deshalb emp- finden es manche Ärzte und Schwe- stern grundsätzlich als ethisch nicht vertretbar, einem Patienten eine technisch mögliche maximale Thera- pie vorzuenthalten (9). Diese Hal- tung muß respektiert werden. Mit gleichem Recht sollte aber auch er- wogen werden, daß unter den oben skizzierten Voraussetzungen der Entscheidungsfindung die ethischen Grundsätze der Heilung und Hilfe, des Nicht-Schadens und der Patien- tenwürde durch Therapieverzicht und Therapiereduktion möglicher- weise nicht verletzt, sondern besser gewahrt sind als durch eine aufwen- dige und u. U. leidensvolle, am Ende erfolglose Maximaltherapie (10, 11).

Auch die Rechtsprechung folgt dieser Einstellung insoweit, als sie den Hirntod nicht in jedem Fall als notwendige Voraussetzung für den Therapieabbruch erachtet. Aus juri- stischer Sicht sind die für Therapie- verzicht und Therapiereduktion er- forderlichen Bedingungen gegeben, wenn der Patient oder die seinen mutmaßlichen Willen verläßlich ver- tretenden Angehörigen oder Beauf- tragten die Beendigung oder Unter- lassung von Maßnahmen wünschen und von ärztlicher Seite die medizi- nische Indikation zu solchem Ver- halten ausreichend begründet ist. In rechtlicher Perspektive ist die Frage, welche Maßnahmen reduziert wer- den, von untergeordneter Bedeu- tung; Beatmungshilfen, Infusions- therapie, Hämodialyse und Herz- Kreislauf-Unterstützungstechniken kommen hier gleichrangig in Be- tracht (10, 12, 13, 14, 15).

Das Recht verlangt nicht die Aufrechterhaltung des Lebens in je- dem Fall um jeden Preis. Das Leben eines Menschen ist mehr als nur ein biologischer Prozeß, der unter allen erdenklichen Umständen mit allen möglichen Techniken so lange wie möglich auch unter schwersten Bela- stungen und Nebenfolgen aufrecht- A-4488 (48) Dt. Ärztebl. 88, Heft 50,

zuerhalten ist. Auch die Frage nach der Lebensqualität ist hier von Be- deutung, eine Frage, die Jonsen (16) zusammen mit externen Faktoren als Entscheidungsmerkmale zweiter Ordnung den medizinischen und pa- tientenbezogenen Kriterien erster Ordnung nachstellt. Der entschei- dungsführende Arzt ist daher ver- pflichtet, neben Krankheitsdaten und patientenbezogenen Entschei- dungsmerkmalen auch Gesichts- punkte der Lebensqualität der be- troffenen Patienten in den Entschei- dungsprozeß einzubeziehen (17).

Gemeint sind damit körperliche, psy- chische und soziale Faktoren des Le- bens eines Patienten, die dessen Verlängerung mit den Mitteln der Intensivtherapie als nicht mehr sinn- voll erscheinen lassen können. Nicht etwa, als ob nur in den wesentlichen Funktionen ungestörtes menschli- ches Leben bei voll oder doch im we- sentlichen unbeeinträchtigt wieder- herstellbarer Gesundheit erhaltens- und schützenswertes Leben sei.

Auch altes, belastetes und leidendes Leben ist dem Schutze des Arztes an- vertraut (9). Auch bloße Leidensmin- 12. Dezember 1991

derung und kurzfristige Lebensver- längerung können Ziel ärztlicher Therapie sein. Dort aber, wo nur noch unter schwersten Beeinträchtigungen mögliches Existieren für kurze Zeit aufrechterhalten werden kann, dem Kranken dadurch zusätzliche Bela- stungen und Qualen auferlegt werden und er mit dem Therapieverzicht aus- drücklich oder seinem mutmaßlichen Willen nach einverstanden ist, ist es nicht nur erlaubt, sondern sogar gebo- ten, die Intensivtherapie nicht fortzu- setzen und die Behandlung auf Pflege und Linderung der Beschwerden zu beschränken.

Der Begriff „menschenwürdiges Leben" (Sporken [18]) besitzt nicht nur eine biologische Dimension, son- dern muß vor dem Hintergrund von körperlichen und psychischen sowie gesellschaftlichen, familiären und in- dividuellen Kriterien für jeden Pa- tienten formuliert werden. Der In- tensivmediziner, obwohl primär nur für medizinische Belange zuständig, ist also gefordert, die Qualität des ihm anvertrauten Lebens danach zu messen, mit welcher Wahrscheinlich- keit seine Maßnahmen dazu führen,

(5)

FÜR SIE REFERIERT

daß der Patient ein in diesem Sinne

„menschenwürdiges Leben" wird führen können (17).

Edlund und Tancredi (19) verbin- den den Begriff Lebensqualität mit dem seit Hippokrates unveränderten moralischen Imperativ der „Unan- tastbarkeit des Lebens" auf der einen und dem modernen Gebot der „sozia- len Nützlichkeit" auf der anderen Sei- te. Die potentielle Gefährlichkeit der Kategorie „soziale Nützlichkeit" darf dabei freilich nicht verkannt werden.

Gemeint ist damit nicht die soziale Stellung des Patienten oder sein Wert für die Gesellschaft, sondern betrach- tet werden muß die typische Situation eines präfinalen Intensivpatienten, der gleichzeitig biologisch noch lebt, aber dem sozialen Tod nahe ist, das heißt nicht mehr aktiv und passiv das erleben kann, was Sporken mit Men- schenwürde umschreibt. Erst die mo- dernen Überlebenstechnologien in der Maximalversorgung, die es erlau- ben, Patienten biologisch am Leben zu halten, die kein menschliches Le- ben mehr führen können, erzeugen das ärztliche Dilemma in der Ent- scheidung medizinischer Grenzfra- gen und hier speziell des Begriffs der Lebensqualität (10).

Sozio-ökonomische Überlegungen

Mit der Entwicklung des me- dizinisch Begrenzt-Möglichen zum medizinisch Unbegrenzt-Machbaren wurde auch die Frage nach der Recht- fertigung für den Aufwand der Be- handlungskosten in der Intensivmedi- zin lauter (20). Dazu kommt die Er- kenntnis, daß die Intensivmedizin die Prognose einer Krankheit nicht unbe- dingt verbessert, obwohl der Patient eine lebensbedrohliche Krankheits- phase übersteht (12, 21). Gesund- heitsministerien, Krankenhausko- stenträger und Krankenhausverwal- tungen mahnen zur Kostenbegren- zung, ganz besonders in kosteninten- siven Bereichen wie der Intensivmedi- zin. Der seit einiger Zeit besonders hervortretende Mangel an Pflegeper- sonal in der Intensivmedizin ist ein weiterer Faktor, der zur Einschrän- kung von intensivmedizinischer Ka- pazität geführt hat.

Dies alles bewirkt zwangsläufig, daß auch ökonomische Erwägungen die Diskussion um die Grenzziehung in der Intensivmedizin unterlagern und den verantwortlichen Arzt nicht unbeeinflußt lassen. Sie dürfen aber bei keinem Patienten das Gewicht von primären Entscheidungskriterien er- langen. Jonsen (16) zählt daher die so- zio-ökonomischen Bedingungen als externe Faktoren zu Entscheidungs- merkmalen zweiter Ordnung. Es geht in erster Linie um das Leben des Pa- tienten, um die Frage, ob es noch sinn- voll erscheint, es unter den gegebenen Bedingungen zu verlängern, oder ob darin nur eine Verlängerung qualvol- len Sterbens liegt (22).

Ein instabiler Patient darf aus Kostengründen ebensowenig auf die Normalstation verlegt werden, wie ein palliativ operierter Karzinomkranker einer verkürzten Intensivtherapie- phase nicht unterzogen werden darf, weil etwa die Prognose den Aufwand nicht rechtfertigen würde. Auch das Alter des Patienten und die mögli- cherweise nur noch kurze zu erwar- tende Lebenszeit im Verhältnis zum Pflegeaufwand dürfen kein Kriterium sein (23, 24, 25).

Die Entscheidung für Therapie- verzicht, in welcher Phase der Erkran- kung auch immer, kann nur auf der Basis der primären, ethisch-medizini- schen Indikationen getroffen werden.

Kostenerwägungen sind allenfalls Anlaß, Entscheidungen aus ärztlicher Sicht zu treffen, und ergänzendes Mo- tiv einer etwaigen Aufklärung gegen- über Patienten und Patienten-Ange- hörigen. Im Sinne der eingangs ge- nannten ethischen Prinzipien ist es le- gitim, die Umgebung schwerstkranker Patienten davon zu überzeugen, daß die Therapieentscheidung auch mit- umfaßt, begrenzte intensivmedizini- sche Ressourcen solchen Patienten zugute kommen zu lassen, denen ärzt- lich noch geholfen werden kann.

Die Zahlen in Klammem beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonder- druck, anzufordem über die Verfasser.

Anschrift für die Verfasser:

Prof. Dr. med. Hans G. Beger Chirurgische Klinik I der Universität Ulm

Steinhövelstraße 9 • W-7900 Ulm

Schilddrüsenerkrankungen nach Bestrahlung

bei Morbus Hodgkin

Schilddrüsenerkrankungen, ins- besondere Hypothyreosen, finden sich häufig bei Patienten nach Strah- lentherapie eines Morbus Hodgkin.

In einer retrospektiven Untersu- chung an 1787 Patienten, die von 1961 bis 1989 an der Universitätskli- nik Stanford wegen eines Morbus Hodgkin behandelt worden waren, untersuchten die Autoren Art und Häufigkeit von Schilddrüsenerkran- kungen. Bei 810 Patienten war eine Strahlentherapie, bei 920 Patienten eine kombinierte Strahlen- und Che- motherapie und bei 57 Patienten ei- ne alleinige Chemotherapie durch- geführt worden. Der mittlere Nach- beobachtungszeitraum betrug 9,9 Jahre. Insgesamt 573 Patienten (32 Prozent) hatten klinische oder labor- chemische Zeichen einer Schilddrü- senerkrankung. Bei 513 Patienten ließ sich laborchemisch eine Hypo- thyreose nachweisen, bei 30 Patien- ten war es zur Entwicklung eines Morbus Basedow gekommen, in 17 Fällen auch zu einer endokrinen Or- bitopathie. Bei sechs Patienten ent- wickelte sich eine Thyreoditis mit Hyperthyreose. Von 44 Patienten mit singulären oder multiplen auto- nomen Adenomen wurden 26 thy- reoidektomiert, dabei wiesen sechs Patienten ein follikuläres oder papil- läres Schilddrüsenkarzinom auf. Ins- gesamt war das Karzinomrisiko 15,6fach erhöht. Bei einer Beobach- tungsdauer von 20 Jahren lag das Ri- siko für eine Schilddrüsenerkran- kung bei 52 Prozent, nach 26 Jahren sogar bei 67 Prozent. Die Autoren folgern, daß das hohe Risiko für Schilddrüsenerkrankungen bei Mor- bus Hodgkin-Patienten auch Jahre nach Strahlentherapie eine kontinu- ierliche klinische und laborchemi- sche Kontrolle erfordert. acc

Hancock, S. L., R. S. Cox, R. McDougall:

Thyroid Diseases after Treatment of Hodgkin's Disease. N. Engl. J. Med. 325 (1991) 599-605

Dr. Hancock, Dept. of Radiation Oncolo- gy, Stanford University Medical Center, Stanford, CA 94305, USA

Dt. Ärztebl. 88, Heft 50, 12. Dezember 1991 (51) A-4489

Referenzen

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