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Archiv "Rationierung im Gesundheitswesen: Forderung nach offener Diskussion" (15.04.2005)

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ie Zeiten, in denen Geld kaum ei- ne Rolle spielte, endeten 1977.Vor fast 30 Jahren begann in Deutsch- land die bis heute anhaltende Serie von

„Kostendämpfungsgesetzen“, die Ärzte zwangen, bei der Behandlung von Pati- enten auch an die Finanzierung des Ge- sundheitswesens zu denken. Seitdem hat der Kostendruck stetig zugenom- men. Immer dann, wenn im Kranken- haus oder in einer Praxis ein Arzt einen Patienten behandelt, trifft er auch Ent- scheidungen über Geld. Oft geht es nur um wenige Euro, doch manche Medika- mente kosten mehrere Tausend Euro im Jahr, eine Krebstherapie addiert sich auf 20 000 Euro, eine Organtransplantation leicht auf 100 000 Euro.

Es gehört zu den Konsequen- zen des anhaltenden Streits um die Kosten des Gesundheitswe- sens, dass sich Wissenschaftler zunehmend einem schleichen- den Verdacht ausgesetzt sehen:

dass sie nämlich bestimmten Pa- tienten Leistungen verweigern, weil die Behandlung zu teuer ist.

„Dieses Misstrauen droht das Verhältnis von Arzt und Patient zu belasten“, sorgt sich der Inter- nist Prof. Dr. med. Manfred We- ber von der Universität zu Köln.

Die Deutsche Gesellschaft für Inne- re Medizin (DGIM) hat Anfang April auf ihrem Kongress in Wiesbaden die Flucht nach vorn versucht. Statt Ärzte dem Verdacht auszusetzen, sie würden – im Extremfall – Patienten aus Kosten- gründen sterben lassen, „brauchen wir eine breite Diskussion über Rationie- rung“, sagt Weber, der auch Vorsitzen- der der Fachgesellschaft ist: „Die Frage, wie knappe Ressourcen verteilt werden sollen, können Ärzte nicht alleine ent- scheiden.“

Ob der Aufruf wirklich auf breite Re- sonanz stößt, ist jedoch durchaus frag-

lich. Denn die Idee, dass Ärzte mangels Geld Leistungen verweigern, gehört zu den Tabuthemen der Gesundheitspoli- tik. Keine Partei möchte mit dem Vor- schlag identifiziert werden, bestimmten Patienten bestimmte Leistungen vorzu- enthalten. „In Deutschland ist die Dis- kussion um Rationierung besonders schwierig“, sagt der Gesundheitsöko- nom Prof. Dr. med. Christian Köck von der Universität Witten/Herdecke. Erin- nerungen an Nazi-Parolen von „unwer- tem Leben“ sorgten für zusätzliche Berührungsängste.

Die Folge ist eine Ausweichreaktion:

Statt über Rationierung zu sprechen, sprechen Politiker lieber über Rationa- lisierung. Die Hoffnung ist, durch Ab- bau überflüssiger Leistungen so viel Spielraum zu schaffen, dass für den ver- bleibenden Bedarf ausreichend Geld vorhanden ist. Doch bislang ist unklar, wie weit eine solche Optimierung gehen kann. Es gibt Widerstände: Es arbeiten 4,2 Millionen Personen im Gesund- heitswesen. In deren Interessenvertre- tungen sieht Köck den wichtigsten Grund, warum Rationalisierung bislang nur langsam vorankommt. „Die bisheri-

gen Erfahrungen zeigen, dass die Grup- pen, die von einer solchen Umvertei- lung Nachteile haben, eine Rationali- sierung weitgehend blockieren“, sagt Köck.

Ohnehin sind Knappheit und Zutei- lung längst handfeste Realität für die 85 Prozent der Deutschen, die bei gesetzli- chen Krankenkassen versichert sind.

Das deutsche Krankenkassensystem ist eine Solidargemeinschaft: Die Gesun- den und Besserverdienenden finanzie- ren die Kosten der Kranken und Schlechterverdienenden. Doch diese So- lidarität hat Grenzen. Das Sozial- gesetz legt fest, dass die Kranken- kassen nur Leistungen bezahlen dürfen, die „hinreichend“, „not- wendig“ und „wirtschaftlich“

sind. Der Gemeinsame Bundes- ausschuss, dem vor allem Ärzte und Krankenkassenvertreter an- gehören, entscheidet, was zur Kassenleistung wird.

Wenn eine Leistung einmal in den Krankenkassenkatalog auf- genommen ist, dann liegt die Ent- scheidung, welcher Patient sie er- hält,jedoch alleine beim Arzt.Ra- tionierung ist da Alltag: In den Kliniken sorgen Fallpauschalen (DRGs) dafür, dass Kosten im Denken der Ärzte weiter nach vorne rücken. Und auch die Regellei- stungsvolumina des EBM 2000plus sind eine Form der offenen Rationierung.

„Bislang treffen Ärzte solche Entschei- dungen aber verdeckt“, sagt Köck, „ohne dass ihre Kriterien ersichtlich werden.“

Eine öffentliche Diskussion der Kri- terien führt aber zwangsläufig zu sehr unangenehmen Fragen. Wenn ein Arzt nur das Budget hat, einen von zwei Kranken das Leben zu retten, welchen soll er retten? Oder: Wenn ein alter und ein junger Patient als Empfänger eines Spenderorgans infrage kommen: Wer soll es erhalten? Junior-Professor David M E D I Z I N R E P O R T

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A1036 Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 1515. April 2005

Rationierung im Gesundheitswesen

Forderung nach offener Diskussion

Internistenkongress: Wie knappe Ressourcen verteilt werden sollen, können und wollen Ärzte nicht alleine entscheiden.

Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) bot auf ihrem Jahreskongress in Wiesbaden zahlreiche interaktive Workshops und Kurse an.

Foto:Johannes Aevermann

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Schwappach aus Köcks Gruppe stellt bereits seit einigen Jahren im Rahmen eines Forschungsprojektes solche Fra- gen an Gesunde. Und dabei zeigt sich, dass „die meisten Menschen sehr klare Vorstellungen haben, wo sie Prioritäten setzen würden“, sagt Schwappach. Die Antworten seien durchaus „als ver- nünftige Grundlage für eine Diskussion geeignet“.

Für die Mehrheit habe die Hilfe für Schwerkranke Priorität. Auch wenn die Betreuung das Leben gar nicht oder nur wenig verlängert, sind die meisten be- reit, für die Versorgung von Schwer- kranken viel Geld auszugeben. Dafür würden sie dann bei der Behandlung von leichteren Erkrankungen und bei den Ausgaben für Vorbeugung sparen.

Bei der Bewertung des Alters ist sich nach Schwappachs Schilderung die Mehrheit einig, dass sie im Zweifel jün- geren Patienten den Vorzug vor älteren geben würden, wobei es durchaus un- terschiedliche Schwerpunkte gibt. Eine Gruppe ist bereit, für Kinder das 10- bis 20fache als für einen 80-Jährigen auszu- geben. Eine andere Gruppe würde sich eher auf die 20- bis 30-Jährigen konzen- trieren. Allerdings lehnt die Mehrheit harte Zuteilungskriterien, etwa festste- hende Altersgrenzen, ab. „Wir können davon ausgehen, dass der Preis, den wir für die Verlängerung eines Lebens be- reit sind zu zahlen, je nach Situation des Patienten sehr unterschiedlich sein wird“, sagt Schwappach.

Demographischer Anteil an den Kosten wird überschätzt

Auch unter Wissenschaftlern findet die Idee, im Gesundheitswesen die Lei- stungen bei Alten radikal zu rationie- ren, wenig Zustimmung. Nach Progno- sen, die Dr. med. Hilke Brockmann von der Universität Bremen in Wiesba- den vorgestellt hat, könnte der durch die Altersverschiebung bedingte An- stieg der Kosten im Gesundheitswesen erstaunlich moderat ausfallen. Von ei- ner Kostenexplosion durch die Alten könne keine Rede sein, sagt Brock- mann: Nach ihren Modellrechnungen steigen mit dem Altern der geburten- reichen Jahrgänge der 50er- und 60er- Jahre die Ausgaben je nach Szenario

um 50 bis 120 Prozent – bis 2040, also in 35 Jahren.

Dass sich die steigende Zahl der Al- ten nicht stärker auf die Kosten aus- wirkt, liegt daran „dass nicht das Alter an sich der Grund ist, warum ältere Menschen teurer sind, sondern die Nähe zum Tod“, betonte Brockmann.

Nach verschiedenen Untersuchungen fallen ein bis über zwei Drittel der Ko- sten für Gesundheit, die ein Mensch während seines gesamten Lebens in Anspruch nimmt, in den letzten zwei Jahren vor dem Tod an. Vor allem, weil sich unter 80-Jährige mehr in dieser Phase befinden als etwa unter 40-Jähri- ge, sind also alte Menschen teurer.

Für die Idee, ab einer festen Alters- grenze auf Leistungen zu verzichten, sieht Brockmann keine Grundlage: „Das würde ohnehin nur zu Vorzieheffekten führen.“ Wenn es beispielsweise eine Regelung gäbe, ab 75 Jahren keine künstlichen Hüftgelenke mehr einzuset- zen, müsse man damit rechnen, dass die Operationen auf 74-Jährige vorgezogen werden. „Die Alten sind nicht die richti- ge Gruppe, um zu sparen“, sagt sie: Jeder Vorschlag, Altersgrenzen einzuführen, hätte zudem einen massiven Vertrauens- verlust ins Gesundheitswesen zur Folge.

Statt bei alten Menschen Leistungen zu beschränken, schlägt sie vor, durch Än- derung der Beitragsregeln „Ältere stär- ker an den Kosten zu beteiligen“.

Zu den unangenehmen Fragen einer Rationierungsdiskussion gehört auch die, ob es eine feststehende Schwelle ge- ben sollte, was es kosten darf, das Leben um ein Jahr zu verlängern. Auch hier beginnt die öffentliche Diskussion erst.

Das Spektrum, was für die Verlänge- rung des Lebens heute ausgegeben wird, ist durchaus breit: Als Maßstab dient oft die Dialyse, weil niemand auf die Idee käme, einem Nierenkranken die regelmäßige Blutwäsche zu entzie- hen, die ihn am Leben erhält. Die Be- handlung kostet etwa 50 000 Euro jähr- lich. Für Ökonomen ist das aber eher die untere Grenze der Spanne, die ak- zeptiert wird. Andere Schätzungen lau- fen auf bis zu 175 000 Euro pro gewon- nenem Lebensjahr hinaus, beschrieb Dr. med. Afschin Gandjour von der Universität zu Köln in Wiesbaden:

„Letztlich ist auch das eine gesellschaft- liche Entscheidung.“

Allerdings ist für die Diskussion durchaus etwas Zeit. Während Kosten- explosion und Altenschwemme als un- mittelbare Bedrohungen beschworen werden, um politische Vorstellungen durchzusetzen, zeigt die Realität, dass die Kosten für das Gesundheitswesen eher moderat steigen. Das gibt die Gelegenheit, die Diskussion systema- tisch zu führen: Gesundheitsökonomen müssten Werkzeuge zur Verfügung stel- len, um den Nutzen von medizinischen Leistungen zu messen und zu verglei- chen, sagte Köck. Weitere Fragen seien:

Welche Rationierungskriterien haben welche Folgen? Wie viel wollen wir überhaupt für die Gesundheitsversor- gung ausgeben?

Auf Kranke wirkt jede Debatte über Rationierung bedrohlich

Dass die Diskussion um Rationierung in Deutschland noch ganz am Anfang steht, zeigt sich auch daran, dass die Teilnehmer der Wiesbadener Diskussi- on klare Vorschläge scheuten, welchen Patienten sie medizinische Leistungen streichen würden. Lediglich der Rechts- anwalt Leif Steinecke, selbst Empfän- ger einer Niere und Vorstandsmitglied im Bundesverband der Organtrans- plantierten, legt sich fest: Er würde „nir- gendwo“ streichen, sondern er würde, um Rationierung zu vermeiden, mehr Geld ins Gesundheitswesen fließen las- sen: „Auf diejenigen, die jetzt krank sind, wirkt jede Diskussion über Ratio- nierung bedrohlich.“ Klaus Koch M E D I Z I N R E P O R T

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A1038 Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 1515. April 2005

Erratum

Im Artikel „Luftschadstoffe: Feinstäube – Winzlinge mit großer Wirkung“ der Rubrik Medizinreport in der Ausgabe 14 vom 8. 4. 2005 wurde die Längenangabe des Partikeldurchmessers (Mikrometer) fälsch- licherweise als Gewicht (Mikrogramm) an- gegeben. Die Umweltmediziner definieren die Größe der Partikel natürlich wie folgt:

– inhalierbaren Feinstaub mit einem Durchmesser von maximal 10 µm(PM 10),

– lungengängigen Feinstaub mit maxi- mal 2,5 µmDurchmesser (PM 2,5) und

– ultrafeine Partikel mit maximal 0,1 µm

Durchmesser (PM 0,1).

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