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Archiv "Diskussion um die Fristenregelung: Die Verantwortung der Ärzte" (19.09.1974)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen FORUM

Diskussion um die Fristenregelung

Der mit der knappen Mehrheitsent- scheidung des Deutschen Bundes- tages vom 26. April 1974 konforme Artikel von Herrn Prof. Bräutigam wiederholt über weite Passagen hin die bekannte Position der An- hänger der sogenannten Fristenlö- sung des § 218. Insbesondere ver- mißt der Autor bei dem auf die kör- perlichen Faktoren von Gesundheit und Krankheit „eingeengten (ärztli- chen) Verständnis" von der Schutzwürdigkeit des Lebens den Blick auf „den gesamten Lebens- gang des Kindes". Vieles von sei- nen Ausführungen über die Bedeu- tung der emotionalen, familiären und gesellschaftlichen „Empfangs- welt" des Kindes, in der sich seine nachfolgende körperliche und see- lische Reife vollzieht, kann nur be- jaht werden. Woher aber nehmen wir Ärzte das Recht und die pro- gnostische Unfehlbarkeit, über die zu erwartende soziale und seeli- sche (und damit auch gesundheitli- che) Entwicklung des entstehen- den Kindes zu befinden? Zwingt uns dieser gesellschaftliche An- spruch, der von vielen Seiten heu- te, wenn auch in verschiedenem Gewande, an uns Ärzte herangetra- gen wird, nicht in die makabre Rol- le des „Herrn über Leben und Tod?"

Ich stimme Herrn Prof. Bräutigam zu, daß wir alle — Eltern und Ärzte, alle Staatsbürger und ihre Vertre- ter im Bundestag — für das wer- dende Leben in einem umfassen- deren Sinne verantwortlich sind

„als es gewöhnlich, auch von Ärz- ten, gesehen wird". Ich bin bereit,

seine Einschiebung „auch von Ärz- ten" selbstkritisch zu akzeptieren.

Geht er aber nicht an der Realität vorbei, wenn er im Hinblick auf die

„verlängerte soziale Adoleszenz"

(in allen Berufen?) schreibt, daß das „Minimum an Voraussetzungen für eine soziale Identitätsfindung meist nicht vor dem 30. Lebens- jahr, oft erst danach erreichbar ist"? Falls es zuträfe, könnten dies überzeugende Gründe für eine Neufassung des § 218 sein, welche das in den ersten drei Schwanger- schaftsmonaten nicht oder noch nicht bejahte Leben der Abtreibung ausliefert? Ebensowenig wie die zunächst ungewollte Empfängnis eines Kindes das kommende Un- heil für dieses und seine Familie zwangsläufig vorprogrammiert, ebensowenig kann auch die Kon- zeption eines Wunschkindes das spätere bleibende Glück der Ehe garantieren. Wir sind in einem ver- hängnisvollen Irrtum befangen, wenn wir aus der Häufung kasuisti- scher Einzelbeispiele — die be- kanntlich besser als statistische Nachprüfungen im Gedächtnis blei- ben — auf eine „generelle" Lösung dringen, die das Leben des Kindes als des absolut Schwächeren befri- stet zur Disposition stellt.

Es sind kaum 30 Jahre her, daß die Unterscheidung zwischen lebens- wertem und lebensunwertem Le- ben in unserem Lande einer Grup- pe von Ärzten aufoktroyiert wurde.

Die Erschütterung über diese Vor- gänge, welche die meisten von uns erst nach 1945 erfahren haben, hat uns damalige Studenten hellhörig

Der Beitrag von Prof. Dr.

Walter Bräutigam hat zu mehreren engagierten, spon- tanen Zuschriften veranlaßt.

In Heft 36 sind zwei davon erschienen. Termingründe sind dafür verantwortlich, daß eine weitere Stellung- nahme — etwa gleichzeitig mit den erwähnten eingegan- gen, also bereits Anfang Mai

— erst heute publiziert wer- den kann. Sie zeigt einige weitere Aspekte des Themas auf. Prof. Bräutigam erhielt Gelegenheit, auch dazu Stel- lung zu nehmen.

gemacht für die ethische Verpflich- tung, die wir als Ärzte vor dem menschlichen Leben — vor einem ungeteilten, nicht nach zeitlichen und qualitativen Kategorien be- werteten Leben — haben. Es wird heute nicht immer gerne gehört, wenn an den „Eid des Hippokra- tes" erinnert wird, dessen normati- ve Kraft über Jahrtausende hinweg die sittlichen Maßstäbe für ärztli- ches Denken und Handeln gesetzt hat und der das Töten der Leibes- frucht klar untersagt hat. Auch wenn manche Formulierungen die- ses Eides ihre zeitgeschichtliche Bedingtheit erkennen lassen, so stellt seine Grundaussage doch ein unüberhörbares Bekenntnis zum uneingeschränkten Schutz des Le- bens dar, dem sich Ärzte aller vor- christlichen und christlichen (und nachchristlichen) Generationen verpflichtet wußten und wissen.

In der Bundestagsdebatte wurde darauf hingewiesen, daß auch jetzt schon eine große (oder überwie- gende) Zahl von illegalen Abtrei- bungen nicht von Kurpfuschern, sondern von Ärzten vorgenommen wird. Wenn dieser Zustand jetzt be- fristet legalisiert werden sollte — unter einem zu erwartenden An- steigen der Schwangerschaftsab- brüche —, dann frage ich mich, ob diese den Arzt je nach Gewissen belastende oder entlastende Lega-

Die Verantwortung der Ärzte

Eine Entgegnung zu dem Beitrag von Prof. Dr. med. Walter Bräutigam.

„Die ,Schutzwürdigkeit des Lebens' in der Diskussion um die Fristenregelung"

2736 Heft 38 vom 19. September 1974 DEUTSCHES ARZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Fristenregelung

lisierung wirklich dazu angetan sein wird, die von Herrn Professor Bräutigam beschworenen Schuld- gefühle der betroffenen Frauen ge- genstandslos zu machen. Andere, im Seelischen ebenfalls erfahrene Ärzte weisen darauf hin, daß seeli- sche Störungen auch aus der Ver- drängung oder bemühten Ratio- nalisierung getroffener und bereu- ter Entscheidungen entstehen kön- nen. Wer wollte von jetzt ab — ich unterstelle es Herrn Prof. Bräuti- gam nicht — eine heile Welt ohne ungeliebte Kinder, ohne Kinderhei- me, mit konfliktfreien Familien her- aufkommen sehen, wenn wir das Lebensrecht der Ungeborenen von ihrer Annahme oder Verweigerung in den ersten drei Monaten abhän- gig machen? Es ist schwer vor- stellbar, daß sich in einem derarti- gen sozialen Klima jene umfassen- de Verantwortung des einzelnen und der Gesellschaft vor dem Le- ben überhaupt entfalten kann, an welche von den Befürwortern der Fristenlösung so wortreich appel- liert wurde und wird.

Zwar soll, der Bundestagsmehrheit zufolge, erst nach „umfassender Beratung" durch einen Arzt die je- weilige Entscheidung getroffen und vollstreckt werden. Auch ist davon die Rede, daß kein Arzt und keine Schwester gegen ihr Gewissen zu diesem Eingriff gezwungen werden dürfen. Wie steht es aber mit dem Schutz des sich aus Gewissens- gründen weigernden Arztes vor der sozialen Ächtung, die gegebenen- falls nicht allzu schwer zu inszenie- ren sein dürfte? Herr Professor Bräutigam geht nur auf die eine Seite des Problems ein, wenn er schreibt, daß die ethische Über- zeugung eines Arztes für oder ge- gen diesen Eingriff nicht für die ei- nes anderen, die des Klinikdirek- tors nicht für seine Assistenten ste- hen kann. Wenn die Gewissensfrei- heit des nachgeordneten Arztes gegen diejenige des Entschei- dungsbefugten steht, wie will er sie verteidigen, ohne soziale, berufli- che und andere, sein Persönlich- keitsrecht verletzende Nachteile in Kauf zu nehmen? Lippenbekennt- nisse des Gesetzgebers werden si-

cher nicht ausreichen, um das so- ziale Klima im Krankenhaus, das mit zu den Bedingungen für eine gute Krankenbetreuung gehört, nicht in eine Atmosphäre der Kon- spiration, des Mißtrauens und der gesellschaftlichen Isolation geraten zu lassen.

Eine weitere Frage im Blick auf die Praxis: Wird nicht das ärztliche In- teresse an der vom Gesetzgeber genannten Beratung der schwan- geren, zunächst abtreibungswilli- gen Frau durch die neue Regelung beeinträchtigt oder geradezu ge- lähmt, wenn das Damoklesschwert der möglichen sozialen Diskriminie- rung des Arztes über diesem Ge- spräch hängt, noch dazu wenn es unter dem Termindruck des dritten Monats steht? Die vermeintliche Omnipotenz einer solchen, den Ärzten aufgebürdeten Entschei- dungsmitbestimmung grenzt ans Maßlose. Wenn in der Bundestags- debatte von einer Seite gesagt wurde, daß die Fristenlösung auch zum „Schutze des Gewissens des Arztes" diene, so dürfte dieser Schutz weitgehend auf Resignation oder auf rationalisierten Konfor- mismus mit gesellschaftlichen Zeit- strömungen hinauslaufen. Ein ge- sundheitspolitischer Notausgang könnte die Schaffung spezialisier- ter Abtreibungskliniken sein, in de- nen zugleich auch die Beratung pro oder contra Schwangerschafts- abbruch durchgeführt wird. Daß diese Institutionen Geld kosten, das mit weit größerem Recht für die Verbesserung der sozialen Schwangerenfürsorge verwendet werden könnte, muß als Konse- quenz einer solchen Regelung in Kauf genommen werden. Viel we- sentlicher als materielle Überle- gungen erscheint mir die Tatsache, daß diese mit einer Fristenlösung erkaufte Reform des § 218 das menschliche Grundrecht auf Leben an seinem Beginn einschränkt und den Arzt veranlassen möchte, ohne Abwägung mütterlicher oder kindli- cher Indikationen, nur dem Druck und Anspruch einer Frist ausgelie- fert, seine auf Achtung vor dem (auch ungeborenen) Leben begrün- dete Werthaltung zu relativieren.

Ich bin mit Herrn Professor Bräuti- gam der Auffassung, daß sexuelle Aufklärung und empfängnisverhü- tende Maßnahmen der Förderung bedürfen, und ich stimme ihm auch darin zu, daß die Ausbildung der Ärzte, die in Zukunft Frauen bera- ten sollen, mehr als bisher die psy- chischen Aspekte der Krankheits- lehre einbeziehen sollte. Ich be- streite keineswegs, daß in der ärzt- lichen Ausbildung eine naturwis- senschaftliche, oft zu einseitige Betrachtungsweise dominiert, aber sollte diese Erkenntnis nicht eher zu positiven Konsequenzen für die ärztliche Ausbildung führen als daß wir uns damit abfinden, daß die er- sten Lebensmonate eines Men- schen beliebig disponibel sind?

Die Unzulänglichkeit einer biologi- stischen Medizin steht außer Zwei- fel, ihr Ersatz durch eine formalisti- sche, mehr der Gesellschaft als dem Individuum verpflichtete Medi- zin wäre jedoch der Rückfall in eine grauenhaft inhumane, philoso- phisch seit Plato vorgezeichnete

„Idealwelt".

Kann man wirklich daran festhal- ten, Herr Kollege Bräutigam, daß

„nach unserem gegenwärtigen Wissen" die Fristenlösung am ehe- sten eine grundlegende Hilfe (für Eltern, heranwachsende Kinder und Gesellschaft) erwarten läßt?

Wäre es nicht besser, wie es nach dem Grundsatz des „nil nocere"

für jede therapeutische Prüfung ei- nes Medikamentes mit Recht gilt (und auch für sozialtherapeutische Maßnahmen gelten müßte), der von den Politikern so beredt beschwo- renen Verantwortung der Ärzte eine wirkliche Chance zu geben und beispielsweise eine Indika- tionsregelung für 5 oder 10 Jahre auf Probe einzuführen?

Es ist im Interesse des Ganzen wert, darüber nachzudenken.

Professor Dr. med Otto P. Hornstein

Direktor der Dermatologischen Universitäts-Klinik

8520 Erlangen, Hartmannstraße 14 (Die Stellungnahme von Prof. Bräu- tigam finden Sie auf Seite 2739.) 2738 Heft 38 vom 19. September 1974 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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