Die Bedeutung der Hippotherapie für die Behandlung
von Multiple-Sklerose-Kranken
Ingrid Strauss
Aus der Krankenanstalt Kreuth Dr. Heinz May (Ärztlicher Direktor: Dozent Dr. med. Heinz May)
In der Behandlung der multiplen Sklerose kommt unbestritten der Krankengymnastik eine zentrale Position zu. Seit einigen Jahrzehnten wird die Krankengymnastik bei bestimmten Indikationen durch eine Methode ergänzt, die sich der Übertragung von Bewegungsimpulsen des Pferdes auf den Patienten in der Gangart „Schritt" bedient. Zu den im Vordergrund stehenden Indikationen zählt, neben den zerebralen Bewegungsstörungen nach frühkindlicher Hirnschädigung, die multi- ple Sklerose. Bei bestimmten Verlaufsformen hat sich die Hippothera- pie als der konventionellen Krankengymnastik überlegen erwiesen.
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ÜBERSICHTSAUFSATZ
D
ie Hippotherapie — Kran- kengymnastik mit und auf dem Pferd — nimmt bei der Behandlung von Multiple-Sklero- se-Kranken inzwischen einen fe- sten Platz ein. Verbesserung ge- störter Bewegungsfunktionen, Er- halten der Beweglichkeit und Ver- hindern einer Bewegungsver- schlechterung sind das Ziel jeg- licher Krankengymnastik. Für Menschen, deren Beweglichkeit zunehmend gestört und vermin- dert wird, wirkt Bewegungsthera- pie lebenserhaltend oder zumin- dest die Lebensqualität verbes- sernd.Das Pferd vermag diese Behand- lungserfolge der Krankengymna- stik noch zu steigern: Durch die rhythmische Übertragung dreidi- mensionaler Schwingungsimpul- se des im Schritt gehenden Pfer- des werden mit dem Patienten Bewegungsantworten geübt. Der Schwingungsrhythmus des Pfer- des setzt sich zusammen aus ei- ner Hochtief-, einer Vor-zurück- und einer Seit-zu-Seit-Bewegung mit gleichlaufender Rotationsbe- wegung des Pferderumpfes.
Um diesen Schwingungsrhythmus annehmen und auf ihn eingehen zu können, muß der Patient sein Gleichgewicht, die Feinabstim- mung des Bewegungsablaufes — Koordination —, die Reaktionsfä- higkeit — das heißt Schnelligkeit und Symmetrie von Bewegungs- antworten — üben. Der Reitsitz wirkt entspannend auf die quälen- de Verkrampfung der Beinmusku- latur und damit lockernd auf die Gelenke; gefördert wird diese Wirkung noch durch die Körper- wärme des Pferdes. Die Aufrich- tung des Rumpfes wird geübt, die Rückenmuskulatur gekräftigt.
Auch Bewegungsstörungen der Arme und Hände lassen sich über diesen vom Pferd übertragenen Schwingungsimpuls bessern. Die Atemtätigkeit wird angeregt, die Durchblutung gefördert. Günsti- ge Auswirkungen werden auch auf die Regulierung der Blasen- und Darmfunktionen beobachtet.
Nicht zu übertreffen sind schließ- lich die positiven Auswirkungen der Hippotherapie auf das psychi- sche Befinden des Patienten.
Die Grundlage dieser einzigarti- gen Wirkung ist die weitgehende Übereinstimmung der Bewe- gungsmuster des im Schritt ge- henden Pferdes und des mensch- lichen Ganges, wie sie schon mehrfach über Film- und beson- ders Zeitlupen-Dokumentation dargestellt wurde. Ein Pferd nor- maler Größe („Großpferd") über- trägt im Schritt 90 bis 110 die- ser mehrdimensionalen Schwin- gungsimpulse pro Minute auf den Menschen. Die krankengymnasti- sche Nutzung dieser Bewegungs- stimuli ist Hippotherapie — Be- handlung mittels des Pferdes —;
sie hat mit Reiten ebensowenig zu tun wie beispielsweise eine Unterwassermassage mit dem Schwimmsport.
Für die Hippotherapie muß das Pferd vom Fachmann ausgebildet werden, es muß diesen Dienst ler- nen, muß jede ungewohnte Ein- wirkung durch den mehr oder we-
niger bewegungsbehinderten Pa- tienten dulden, muß durch das Gleichmaß seiner Bewegungen die motorischen Funktionsstörun- gen des Patienten korrigieren.
Das Therapiepferd muß verläßlich im Temperament, absolut gehor- sam, scheufrei, gehfreudig und schwungvoll-weich in seinen Be- wegungen sein; dies kann es nur werden und bleiben, wenn mit ihm regelmäßig reiterlich gearbei- tet wird. Solchermaßen ausgebil- det und vorbereitet stellt der Pfer- defachmann das Pferd für die Therapie zur Verfügung und ver- antwortet, in reiterlicher Hinsicht, seinen Einsatz.
Die Behandlungen werden von Krankengymnasten durchgeführt, die spezielle Zusatzausbildungen absolviert haben, verordnet wer- den sie vom Arzt. Auch er muß um die Einwirkung und Auswirkung der Hippotherapie Bescheid wis- sen und mit dem Pferd vertraut sein.
Wichtigste Indikationen für die Hippotherapie sind Fehlfunktio- nen des ZNS: Die inzwischen Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 20 vom 15. Mai 1985 (57) 1509
Abbildung a: Typische Haltung des Rollstuhlpatienten: Mit Verlust der Gehfähigkeit verliert sich zunehmend die Fähigkeit zur Aufrichtung
Abbildung b; Nach 20 Minuten Hippotherapie — jetzt geht das Pferd für den Patienten
— läßt sich die Aufrichtung wieder einüben. Stabilisieren läßt sie sich nur durch kon- sequente Langzeittherapie
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schon fast „klassische" Behand- lungsmethode zerebraler Bewe- gungsstörungen nach frühkind- lichen Hirnschädigungen (C-P- Kinder) konnte für MS-Kranke an- gepaßt übernommen werden, ebenso für posttraumatische Schädel-Hirn-Rückenmarks-Ver- letzungsfolgen, Poliomyelitisfol- gen oder zerebellare Koordina- tionsstörungen. Bei zusätzlicher Sehstörung (Opticus-Läsion) för- dert die Hippotherapie die Schu- lung des Raum-Lagebewußtseins in der Bewegung.
Für die Hippotherapie bei multi- pler Sklerose sind Indikation und Gegenindikation erarbeitet (5, 6, 8, 11, 12) und müssen dem Arzt geläufig sein. Indiziert ist die Hip- potherapie bei der multiplen Skle- rose, wenn der Patient frei auf dem Pferd sitzen und in der Gang- art „Schritt" sein Gleichgewicht finden kann. Diese Voraussetzun- gen können sogar von Rollstuhl- patienten erfüllt werden. Für sie sind Aufrichtung und Kräftigung der Rückenmuskulatur, schließ- lich Kopf- und Armkoordination sowie verbesserte Atemfunktion von besonderem Vorteil.
Hippotherapie sollte nicht als ein- zige krankengymnastische Thera- pie durchgeführt, sondern mit konventionellen physiotherapeu- tischen Maßnahmen koordiniert werden. Dies bestätigen Behand- lungserfolge stationärer Klinikpa- tienten, die beispielsweise zusätz- lich nach Bobath oder Kabat oder
— wenn es vertragen wird — mit Krankengymnastik im Bewe- gungsbad behandelt werden.
Gegenindikationen sind ein aku- tes Stadium der multiplen Sklero- se, Zystitis und zystopyelitischer Schub. Neurogene Blasenstörun- gen dagegen können günstig auf die Hippotherapie ansprechen.
Unüberwindbare Hüftadduktoren- Spastik verhindert den notwendi- gen Spreizsitz; gelingt allerdings das Aufsitzen auf das Pferd ohne Klammern des Patienten, so wirkt die Behandlung lockernd und lö- send auf die Spastik.
Weitere Gegenindikationen sind Venenentzündungen wegen Em- boliegefahr und Antikoagulantien- Therapie wegen des Risikos einer Blutung. Zu beachten sind ferner Skelettveränderungen. Insbeson- dere Osteoporosen — oft Folgen einer Kortikosteroid-Langzeitbe- handlung — bergen die Gefahr von Spontanfrakturen. Schließlich ver- bieten alle Zweitkrankheiten die Hippotherapie: Der Multiple-Skle- rose-Kranke ist bekanntlich schon
bei geringfügigen grippalen Infek- ten gefährdet, seine Belastbarkeit ist immer sorgfältig abzuwägen.
Wir betrachten auch Krampf- krankheiten — selbst bei optimaler medikamentöser Einstellung — als Gegenindikation. Und endlich be- deuten Pferdehaar-Allergie oder unüberwindliche Angst vor dem Pferd Gegenindikationen.
Die Methodik der Durchführung der Hippotherapie ist inzwischen 1512 (60) Heft 20 vom 15. Mai 1985 82. Jahrgang Ausgabe A
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ebenfalls fast international über- einstimmend konzipiert, wie der In- ternationale Kongreß „Therapeuti- sches Reiten" 1982 in Hamburg zeigen konnte (Kongreßband
„Therapeutisches Reiten '82", Dil- lenburg 1983). Die Behandlung er- folgt in der Gangart „Schritt", das Pferd wird am Zügel, am Langzügel oder an der Longe geführt; dabei ist es ausgebunden. Unsere Pa- tienten sitzen ohne Sattel auf dem Pferd, so daß Wärme und Bewe- gungsimpulse unmittelbar vom Pferderücken übertragen werden können. Ein über der Hüfte ver- schnallter, stabiler Gurt ermöglicht dem Krankengymnasten Bewe- gungskorrekturen und — bei Sitz- schwierigkeiten — notfalls rasches Zugreifen. Dieser Haltegurt darf die Beweglichkeit der Gesäß- Kreuz-Region nicht beeinträchti- gen, die Patienten werden nicht am Pferd fixiert.
Wichtig ist die Wahl des Pferdes:
Seine Breite und sein Schwin- gungsrhythmus dürfen den Pa- tienten nicht überfordern. Dosiert und gesteuert werden die Bewe- gungsantworten des Patienten über Tempo- und Richtungswech- sel, Anhalten und Anreiten. Der Krankengymnast muß diese Ar- beit des Pferdes, in ständiger Ab- stimmung mit dem Pferdeführer, steuern. Ziel der Behandlung ist es, den Patienten im bestmög- lichen Gleichgewicht in den Schwingungsrhythmus des Pfer- des zu setzen und über das Ein- schwingen von der Gesäß-Kreuz- Region aus physiologische Bewe- gungsmuster aufzubauen und zu stabilisieren sowie mit steigender Reaktionsfähigkeit auch raschere Bewegungsabläufe einzuüben.
Diese positive Bewegungsstimu- lation geht allein vom Pferd aus, die Bewegungsantwort des Pa- tienten dagegen kann durch ge- schickte Hilfen des Krankengym- nasten verbessert werden. Zusätz- liche Übungen des Multiple-Skle- rose-Patienten — zum Beispiel Armkreisen, Ballspielen, Rumpf- bewegungen usw. — können eher schaden als nutzen: Häufig stören sie die erzielte Losgelassenheit
des Sitzes und blockieren damit das Durchlaufen der vom Pferd kommenden Bewegungsimpulse.
Die Effektivität der Hippotherapie wurde in zahlreichen wissen- schaftlichen Arbeiten bestätigt.
So berichtet D. Riede (9), daß bei der Hippotherapie die Muskulatur und ihre Steuerungssysteme im Sinne eines Bio-Feedback zu dau- ernder Anpassung und koordinati- ver Leistung an die dreidimensio- nalen Bewegungen des Pferdes gezwungen werden. Mit einem pie- zoelektrischen Beschleunigungs- aufnehmer wurden die auf den Pa- tienten wirkenden Beschleuni- gungswerte und Schwingungen in drei Achsen objektiviert und somit die dreidimensionale Bewegung des Pferderückens — auch in ihrer Synchronität — dokumentiert. C.
Heipertz-Hengst (4) konnte diese Meßergebnisse durch Bewe- gungsanalysen ergänzen: In Zu- sammenarbeit mit dem Institut für Sport und Sportwissenschaft der Universität Frankfurt wurden kine- matographische Meßdaten mit Hil- fe elektronischer Datenverarbei- tung aufbereitet. I. Bausenwein (1) konnte mit erheblichem apparati- ven Aufwand elektromyogra- phisch-telemetrische Messungen bei zerebralparetischen Kindern und Jugendlichen durchführen.
Sie wies nach, daß Hippotherapie nicht nur zur symptomatischen Be- handlung der Zerebralparesen ge- eignet ist, sondern bezüglich der Reflexerregbarkeit und Tonusnor- malisierung bessere Erfolge erzie- len ließ als konventionelle Kran- kengymnastik.
Für die Praxis läßt sich ein Be- handlungserfolg ablesen, wenn verbesserte Bewegungsmuster aktiviert werden können und sich stabilisieren lassen. Eine Doku- mentation von Besserung ist bei Multiple-Sklerose-Kranken — un- abhängig von der Behandlungs- methode — schwer oder unmög- lich, da beispielsweise bei chro- nisch progredienter Erkrankung schon das Erhalten von Funktio- nen ein ganz wesentlicher Erfolg ist. Die beste Auskunft über gute
Behandlungsergebnisse geben die Patienten: Von ihnen kommt auch immer wieder die Kraft für uns zum Weitermachen und Durchhalten — Durchhalten bis zu dem Tag, an dem die Hippothera- pie als „Krankengymnastische Ganzbehandlung auf neurophy- siologischer Grundlage" in den Leistungskatalog der Krankenkas- sen aufgenommen und angemes- sen — wie beispielsweise eine Bo- bath-Behandlung — honoriert wird. Letztlich nicht zu unter- schätzen ist die positive Wirkung der Hippotherapie auf das psychi- sche Befinden der Patienten — diese Kraft ist kaum in „Pferde- stärken" zu messen!
Literatur
(1) Bausenwein, I., und Mitarbeiter: Therapeu- tisches Reiten und seine Bedeutung für die Behandlung von Zerebralparesen. 4. Interna- tionaler Kongreß Therapeutisches Reiten, Hamburg 1982, Kongreßband KThR, Dillen- burg — (2) Bauer, H. J.: Stellenwert der Kran- kengymnastik bei der Behandlung der Multi- ple-Sklerose-Patienten. 4. Internationaler Kon- greß Therapeutisches Reiten, Hamburg 1982, Kongreßband KThR, Dillenburg — (3) Heipertz, W. (Herausg.): Therapeutisches Reiten — Medi- zin, Pädagogik, Sport. Franckh'sche Verlags- buchhandlung, Stuttgart 1977 — (4) Heipertz- Hengst, Chr.: Zur Biomechanik des Reitens — Elektronische zeitabhängige Druckvertei- lungsmessung im Reitsitz mit synchroner Hochfrequenz-Filmanalyse. 4. Internationaler Kongreß Therapeutisches Reiten, Hamburg 1982, Kongreßband KThR, Dillenburg — (5) Hoeck, E.: Hippotherapie bei Multiple-Sklero- se-Patienten — Indikation, Gegenindikation, therapeutische Arbeitsweisen. Therap. Reiten 8 (1981) 1 — (6) Künzle, U.: Krankengymnasti- sche Behandlung der Multiplen Sklerose-Pa- tienten unter besonderer Berücksichtigung der Hippotherapie. Therap. Reiten 6 (1979) 3 — (7) Kuprian, W.: Hippotherapie. Krankengym- nastik aktuell, S. 298, Richard Pflaum Verlag, München (1980) — (8) Perterson, E.: Ziele und Kontraindikationen bei der Hippotherapie mit Multiple-Sklerose-Patienten. 4. Internationaler Kongreß Therapeutisches Reiten, Hamburg 1982, Kongreßband KThR, Dillenburg —(9) Rie- de, D.: Beschleunigungs- und Schwingungs- messungen auf dem Pferderücken und am Reiter. KG 35,1 (1983) 10-13 — (10) Riesser, H.:
Hippotherapie bei Multiple-Sklerose-Kranken und Kindern mit zerebralen Bewegungsstö- rungen. Rehab.18 (1979) 4 — (11) Strauss, I.:
Hippotherapie bei Patienten mit Multipler Sklerose. 4. Internationaler Kongreß Thera- peutisches Reiten, Hamburg 1982, Kongreß- band KThR, Dillenburg — (12) Wüthrich, R.: Kli- nisches Bild und Behandlungsmöglichkeiten der Koordinationsstörungen beim Erwachse- nen. Therap. Reiten 10 (1983) 4
Dr. med. Ingrid Strauss Leitende Oberärztin Krankenanstalt Kreuth Dr. Heinz May, 8185 Kreuth Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 20 vom 15. Mai 1985 (63) 1515